Unwetter der Erinnerung

Saskia Fischers Debütroman erzählt von einer traurigen DDR-Kindheit: von der Mutter misshandelt, vom Stiefvater missbraucht, vom Staat missachtet

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Binnen Sekundenbruchteilen können Dinge manchmal ganz anders aussehen. Aus Ordnung wird Chaos, aus Chaos Ordnung. Oft genügt schon ein kurzer Augenblick, der plötzlich Licht auf längst Verdunkeltes wirft. Der Klarheit bringt. Der ein Leben jäh auf den Kopf und alles in Frage stellen kann. Meist kommen solche Momente ganz unverhofft. Im Falle der Geschichtsdoktorandin Aleit sogar – im buchstäblichsten Sinne des Wortes – schlagartig: Während die Protagonistin und Ich-Erzählerin aus Saskia Fischers Debüt „Ostergewitter“ bei schönstem Frühlingswetter mit ihrer Familie am mittäglich gedeckten Feiertagstisch sitzt, kippt sie (ohne jedwedes Vorzeichen) wild strampelnd und Grimassen schneidend vom Stuhl, direkt auf die Schulter ihres unliebsamen Stiefvaters.

So beginnt Saskia Fischers Romanerstling durchaus furios: mit einem Krampfanfall, der epileptisch, und einer Wucht, die – wie sich bald zeigen wird – zerstörerisch ist. Ehrlich, rigoros und bitterböse. Denn Aleits unerwartetes Gewitter im Kopf ist weit mehr als nur der erste „Grand mal“ einer Epilepsie-Erkrankung. Der plötzliche Gleichtakt ihrer Nervenzellen setzt einen Erinnerungsprozess in Gang, der ihren bisherigen Lebensrhythmus, die so gefestigt geglaubten Wahrheiten durcheinander bringt, längst Vergessenes und Verdrängtes zutage befördert und damit das österliche Familienidyll als trügerische Farce entlarvt: „Als hätte man meine gerissenen Kindheitsnerven wieder zusammengelötet, und jetzt stehe ich in Flammen.“

Eine Woche hält das titelgebende „Ostergewitter“ an. Von Sonntag bis Sonntag. Es ist eine Woche, in der Aleit weitere epileptische Anfälle erlebt und schließlich für Untersuchungen ins Krankenhaus muss. Es sind acht Tage (in entsprechend acht Kapiteln), in denen man nicht nur zum Mitwisser ihrer Gedanken und Ängste, sondern zum Zeugen einer erschütternden und längst überfälligen Vergangenheitsaufarbeitung wird. Fragmentarisch kehren die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, die sie zunächst in der Deutschen Demokratischen Republik, nach der Ausreise Ende der 1980er-Jahre nahe der holländischen Grenze verlebte, in ihr Gedächtnis zurück. Es sind episodische Erinnerungsfragmente, die sich jedoch bald zu einem erschreckenden Bild zusammensetzen.

Die Mutter, der zu gefallen Aleit zu DDR-Zeiten vergebens versuchte, erzog ihre älteste Tochter mit aller Härte und Herzlosigkeit. Falls notwendig auch mit Strafen, Schlägen und Stubenarrest. Szenen, in denen sie alle „A’s“ in der aktuellen Tageszeitung umkringeln muss, bleiben keine Seltenheit. Blitzartig erscheinen Aleit Bilder, in denen sie frierend mit ihrer Freundin auf der Haustreppe spielt, um die Wohnung nicht schmutzig zu machen, oder in denen sie von ihrer Mutter zum Verzehr gebratener Innereien gezwungen wird: „sie schlug mir auf den Kopf, ins Gesicht, die Gabelzacken verletzten mich im Mund, die Tränen mischten sich auf dem Teller mit einem roten Speichelfaden; […] ich musste so lange am Tisch sitzen bleiben, bis das Essen vom Teller verschwunden war, wohin auch immer, pflegte sie mit teuflischem Augenfunkeln zu sagen.“

Das DDR-Staatssystem tat derweil sein Übriges, um einer intakten Mutter-Kind-Beziehung entgegenzuwirken. Das fing schon mit der Geburt an: „Es war normal, dass die Brust sofort hochgebunden und gekühlt wurde und man Tabletten einnahm gegen den Milcheinschuss […], um acht Wochen nach der Entbindung wieder seiner Tätigkeit nachzugehen […]. Wegen der erhöhten Infektionsgefahr durften Mütter nur zum Zweck des Fütterns mit ihrem Baby im selben Raum sein, die Säuglingssterblichkeit musste drastisch reduziert werden, wollte man im internationalen Vergleich als gesunder, lebensfähiger Staat dastehen, und das wollte man unbedingt, es ging um nichts anderes, die Mütter durften bestenfalls durch die Scheibe beobachten, wie ihr Baby gewickelt wurde.“

Aleits Erinnerungen zufolge ist an ihrer leidvollen Kindheit die DDR-Politik also nicht minder schuldig. Mit ihrer permanenten Leistungs- und Produktionsorientierung und unter dem schmucken Deckmantel einer auf das Gemeinwohl aller bedachten Organisation potenzierte sie nur allzu sehr die individuelle Vereinsamung und Lieblosigkeit im sozialen Miteinander. Denn was muss ein Kind fühlen, wenn es von der Partei eine mütterliche Fürsorgezeit von gerade mal 24 Minuten täglich zugewiesen bekommt (von der väterlichen mit sage und schreibe zwölf Minuten ganz zu schweigen)? Was soll ein Kind tun, wenn es darum geht, acht Wochen Sommerferien zu überbrücken, weil die Eltern lediglich 14 Tage Urlaub nehmen dürfen? „Wir waren unwertes Leben, das durch Erziehung wertvoll gemacht werden musste, wertvoll im Sinne des Arbeitswertes, einen anderen hatte man nicht.“

Seelisch derart ausgehungert nimmt es kaum wunder, dass die besondere Aufmerksamkeit, die der Stiefvater mit dem programmatischen Namen „Feindtling“ Aleit schenkte, zunächst auf empfänglichen Boden treffen musste. „[I]ch fand Nischen, der mütterlichen Erziehung zu trotzen, und Feindtling war anfangs so eine Nische, ich hatte bei ihm Narrenfreiheit.“ Doch was als kindlich-kindischer Pakt zwischen beiden begann, bei dem der bierbäuchige Erwachsene zum Freund und Verbündeten wird und als Beschützer vor der mütterlichen Wut hervorgeht, enttarnt sich bald als perfides Spiel: jahrelang, so erinnert sich Aleit, wurde sie von Feindtling sexuell belästigt und missbraucht.

Nach und nach legt die Protagonistin die ihr widerfahrenen Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten frei und schöpft daraus – mit der reinigenden Kraft, die ein Gewitter gemeinhin so mit sich bringt – den Mut, sich aus ihrem bisherigen Leben, allen fremd- und selbstauferlegten Zwängen zu emanzipieren. Im Krankenhausbett hat sie genügend Zeit, grundlegende Entscheidungen zu treffen: Getrieben von dem Verdacht, Feindtling könnte sich auch an ihrer kleinen Tochter Amina und – aufgrund seines Berufes als Hausmeister an einer örtlichen Schule – auch an weiteren Kindern vergehen, nimmt sie späte Rache. Sie informiert den Schulleiter über die pädophilen Neigungen und veranlasst Feindtlings Verhaftung. Entgegen ärztlichen Rat entlässt sie sich selbst aus dem Krankenhaus, fest entschlossen, Ehemann Christian zu verlassen, auszuziehen, ihr Dissertationsthema zur europäischen Vergangenheitsbewältigung (!) aufzugeben und einen Neuanfang zu wagen. Tabula rasa.

Doch wie verlässlich können die eigenen Bilder und Erinnerungen im Kopf überhaupt sein? Was etwa, wenn Aleits Stiefvater ihre Anschuldigungen nicht nur als Übertreibung abtut, sondern sie sogar des Lügens bezichtigt? Wenn er behauptet, er sei – seiner Männlichkeit hörig und den Verlockungen der weiblichen Pubertät ausgeliefert – von der damals vermeintlich 17-Jährigen verführt worden? Was, wenn die Mutter vorgibt, sie könne sich nun wirklich nicht erinnern? Wenn sie Aleit eine blühende, ja sogar krankhafte Fantasie und schließlich (ob ihrer Epilepsie-Erkrankung) Hysterie und geistige Verwirrtheit attestiert? Was, wenn zu allem Überfluss dann auch noch die jüngere Schwester Rikje den Ansichten der Mutter zustimmt und selbst der eigene Ehemann zu zweifeln beginnt? Und was, wenn unter diesem Gewicht Aleit schließlich selbst unsicher wird und die Glaubwürdigkeit ihrer Erinnerungen in Frage stellt? Sie, die – wie sie selbst sogar sagt – von der „fratzenschneidende[n] Idiotie“ anheim gesucht, sowieso „immer alles verdreht, verwechselt, ja pathologisch verzerrt“?

Eindrücklich wird in „Ostergewitter“ offenbar, wie fragil das Konstrukt „Wahrheit“ letztlich ist. So ist Fischers Roman mehr als bloßes Erinnerungszeugnis einer zutiefst traurigen Kindheit. Es ist ein überaus komplexes Geflecht unterschiedlicher Sichtweisen, Wirklichkeiten und Unsicherheiten. Es rüttelt an der Familiengeschichte Aleits, hinterfragt, löst auf, dekonstruiert und konstruiert, doch ohne dass die Erinnerungen der Protagonistin selbst mehr Gewissheit bieten könnten. Letztlich kann es daher gar nicht mehr darum gehen, die tatsächliche Geschichte aufzudecken. Vielmehr provoziert Fischers überaus gelungenes, geschickt komponiertes und in seiner sprachlichen Kargheit so eindringliches Romandebüt, sich generell mit dem Problem der Wahrheit und ihrer Erkenntnis, sich mit der Frage nach der Möglichkeit authentischen Erinnerns per se auseinanderzusetzen.

Titelbild

Saskia Fischer: Ostergewitter. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
196 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422809

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