Fortsetzung folgt…

Das Leben ist ein Drama, das nach bestimmten Regeln funktioniert. Und die unterscheiden sich gar nicht so sehr von der Literatur. François Ozons aktuelles Werk „In ihrem Haus“ widmet sich dieser Poetik des Daseins

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Von der Inspiration zur Geschichte – Das filmische Œuvre von François Ozon schillert. Mal begeistert es mit luftig-vergnüglichem Esprit („Das Schmuckstück“) oder greller Künstlichkeit („8 Frauen“), mal berührt es durch unsentimental-erschütternde Seelenporträts („Die Zeit die bleibt“), mal verstört es mit abgründigen Psychodramen („Unter dem Sand“). Dabei huldigt es stets einer komplexen Erzählkunst jenseits der Konventionen, die erstaunt, beunruhigt, herausfordert.

Auf solche Überraschungen würde auch gerne einmal der Pariser Lehrer Germain (Fabrice Luchini) stoßen. Stattdessen muss er sich seit Jahrzehnten mit Schülern herumplagen, die weder Talent noch Interesse an Literatur haben und ihn mit seiner Meinung nach lausigen Aufsätzen traktieren. Doch dann liest er ein Essay von Claude Garcia (Ernst Umhauer). Minutiös schildert der ansonsten unauffällige 16-Jährige, wie er die Freundschaft des gleichaltrigen Klassenkameraden Rapha Artole (Bastien Ughetto) gewinnt, um sich in dessen Leben und das seiner Eltern einzuschleichen. Germain ist gefangen, sowohl von Claudes schriftstellerischer Begabung und lebhafter Fantasie als auch von der Geschichte. Er beginnt den Jungen zu fördern – mit unabsehbaren Konsequenzen.

Von der Geschichte zur Dramaturgie

Es sind Geschichten, die das Leben ausmachen. Und wer selbst nicht genug erlebt, muss sie sich berichten lassen. Wie Germain. Für ihn, akademisch frustriert und in bourgeoiser Langeweile gefangen, bedeutet der ungewöhnlich talentierte Claude eine Abwechslung. Jeder Text des Schülers, den dieser mit einem aufreizenden ‚Fortsetzung folgt‘ enden lässt, führt Germain tiefer in den familiären Alltag der Artoles ein. Freilich ist er mehr als nur ein (lesender) Voyeur; als Lehrer will und muss er Einfluss nehmen auf Claudes mal naive, mal genialische Schreibversuche. Wenn er dessen stetig voranschreitende Erzählung analysiert, narrative Strukturen und Entwicklungen erörtert, diktiert er gleichzeitig den Fortlauf. Germain gibt sich nicht zufrieden mit der passiven Rolle eines Lesers, sondern will Claude, gewissermaßen seine Scheherezade, und dessen Geschichte unter seine Kontrolle bringen. Doch Vorsicht: Geschichten haben ihre eigene Dynamik!

Indem dieser literarische Diskurs im Medium Film stattfindet, erhält er eine doppelte, ja, doppelbödige Bedeutung. Claude schreibt Erfahrungen nieder, welche er zum Zwecke des Erzählens freilich erst gewinnen muss. Damit er aber auch die für seinen Aufsatz passenden macht, richtet er sein Verhalten an dramaturgischen Normen aus. Ein spontaner Konflikt zwischen ihm und Rapha wird erwünscht? Bitte sehr – schon hat Claude dessen schöne Mutter (Emmanuelle Seigner) geküsst und Rapha in Eifersucht versetzt. Oder ist da etwa echte Zuneigung im Spiel? Irgendwann lässt sich nicht mehr genau sagen, wo die Wirklichkeit beginnt und die Fiktion endet. Sicher ist nur, dass dieses schlaue Verwirrspiel um Beobachtung und Beeinflussung eine reflektierende Metaebene besitzt: Jeder erzählerische Schachzug von Claude wirkt sich gleichzeitig auf die Filmhandlung aus.

Von der Dramaturgie zur Wirklichkeit

Nach dem FIPRESCI-Preis des Toronto Filmfestivals hat François Ozon mit „In ihrem Haus“ auch die Goldene Muschel des Internationalen Filmfestivals San Sebastián gewonnen und wurde zudem für das Beste Drehbuch ausgezeichnet. Tatsächlich beeindruckt Ozons Adaption von Juan Mayorgas Bühnenstück durch intelligente Vielschichtigkeit. Schon die Genrezugehörigkeit lässt sich nur schwer verorten. Teils funktioniert der Film, ohnehin eine Reflexion über den kreativen Prozess, als Satire auf den Kunstbetrieb. Germains elegante Gattin Jeanne (Kristin Scott Thomas) leitet eine wenig rentable Galerie. Was dort unter zeitgenössischer Kunst firmiert, steht/hängt doch nur leblos herum. Claudes Texte hingegen sind pure, die Neugier befeuernde Lebendigkeit. Jeanne liest sie mit wachsender Irritation, zumal sie und ihr Mann darin bald selbst Protagonisten sind.

In diesem Kontext lässt sich der Film als psychologischer Thriller goutieren. Die Grenze von Fakt und Kreativität ist durchlässig geworden, ebenfalls zwischen Wunsch und Dramaturgie. Zumindest für den angehenden Literaten Claude, einen sensiblen, voyeuristischen Intriganten. Um Material für seine Geschichten und sein eigenes trübes Dasein zu sammeln, scheut er sich nicht, Familie Artole geschickt zu manipulieren, um hinter ihre wohlanständige Fassade zu blicken. Die Realität macht er zu seinem Spielfeld, die Mitmenschen zu Spielfiguren, vergisst darüber neben dem Reiz der Erneuerung allerdings den anderen Grundimpuls des Erzählens: die Befriedigung eines Abschlusses.

Von der Wirklichkeit zum Bild

Claudes Verhalten löst Befremdung aus. Geschickt akzentuiert Ozon das durch seine raffiniert präzise, gleichwohl betont unkomplizierte Inszenierung. Germain wie der Kinozuschauer sind auf die Berichte Claudes als alleinige (Authentizitäts-)Quelle angewiesen, seine Perspektive muss die unsere bzw. die Germains sein. Was wäre jedoch, wenn sich Claude als unzuverlässiger Erzähler herausstellen sollte? Noch bildet die unaufgeregte Kamera von Jérôme Alméras Claudes wie ein Fortsetzungsroman aufgebauten Texte minutiös nach. Doch unmerklich bekommt diese Wahrnehmung surreale Risse. Plötzlich taucht Germain persönlich in Szenen auf, die ihm nur erzählt werden, um deren Verlauf mit Claude zu diskutieren. Ein anderes Mal schreibt Claude von einem Selbstmord. Der Film visualisiert die passende Szene, nur um einen Moment später das Gezeigte als schriftstellerische Erfindung zu entlarven. Die Wirklichkeit wird zur Fantasie und die Fantasie zur Wirklichkeit.

Vom Bild zur Inspiration – François Ozon hat einen fesselnden Film geschaffen, der die Prinzipien des Geschichtenerzählens thematisiert, studiert und anwendet. Gleichzeitig ist ihm ein außerordentlich spannendes, brillant gespieltes Drama mit tragikomischen Zügen über die Kopfgeburten des kultivierten Establishments gelungen. Germain, zu gebildet für diese Welt aus ‚intellektuellen Barbaren‘, aber zu untalentiert für eine erfolgreiche Schriftstellerkarriere, ist ebenso literaturbegabt wie lebensuntüchtig. Während Claude sich emotional in seiner eigenen Story verfängt, wird Germain gar zum Opfer der daraus resultierenden Ereignisse. Er hat sich von der Macht der Geschichte, gekennzeichnet durch narrativen Inhalt wie dem ‚flow‘ beim Versinken darin, verführen lassen.

Jene Macht ist süß, aber unkontrollierbar. Es braucht nur ein Bild, ein reales oder imaginiertes, und schon fühlt sich irgendjemand zu einer neuen Erzählung inspiriert, zu einem Roman, einem Film, einem Leben.

Fortsetzung folgt…

„In ihrem Haus“ (Frankreich 2012). Regie: François Ozon. Darsteller: Fabrice Luchini, Ernst Umhauer, Kristin Scott Thomas, Emmanuelle SeignerLaufzeit: 105 Min.
Produktion: Mandarin Cinéma
Verleih: Concorde Video
Format: DVD / Blu-Ray (Erscheinungstermin 18.4.2013)

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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