Die Suche nach Erkenntnis im Roman der Moderne und Postmoderne

Ein typologischer Überblick

Von Christof RudekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Rudek

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Literarische Texte, die die Suche einer Figur nach Erkenntnis schildern, begegnen schon sehr früh in der Geschichte der Literatur. Im altorientalischen „Gilgamesch-Epos“ spielt das Motiv eine Rolle, wenn Gilgamesch aus seinem Königreich aufbricht, um hinter das Geheimnis der Unsterblichkeit zu gelangen, oder etwa, in der europäischen Literatur, im „König Ödipus“ des Sophokles, in dem die Suche des Ödipus nach dem Mörder seines Vorgängers auf dem Königsthron schließlich zu tragischer Selbsterkenntnis führt. Weite Verbreitung findet das Motiv jedoch vor allem seit dem 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert – und zwar sowohl in der sogenannten anspruchvollen wie auch in der Trivialliteratur. So definiert sich zum Beispiel der Detektivroman und damit die wohl populärste literarische Gattung der letzten Jahrzehnte dadurch, dass in ihm eine nach bestimmten Gattungskonventionen ablaufende Suche nach Erkenntnis geschildert wird.

Der Grund für die Aktualität des Motivs liegt in einer ganzen Reihe historischer Faktoren, die seit der Zeit um 1800 zunehmend an Bedeutung gewinnen. So büßen die traditionellen, vor allem religiös geprägten Deutungs- und Sinnmuster allmählich ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit ein und machen einer wachsenden Pluralität von Meinungen, Deutungsangeboten und Sinnvorstellungen und zugleich einer zunehmenden Fülle verfügbarer Informationen Platz, bei deren Verbreitung die mehr und mehr an Einfluss gewinnenden Medien eine wichtige Rolle spielen. Diese Entwicklung führt dazu, dass die Welt zunehmend unübersichtlich und unverständlich erscheint. Das Verstehen der Wirklichkeit, die Suche nach Orientierung und Sinn wird mehr denn je zur Sache des Einzelnen, der dabei nun nicht mehr auf tradierte Gewissheiten zurückgreifen kann, sondern sich im Gegenteil einer unüberschaubaren Fülle an Informationen und Deutungsansätzen gegenübersieht. Erkenntnis wird so zum Problem, und es ist kein Wunder, dass auch die Literatur dieses Thema nun verstärkt aufgreift und einen häufig problematisierenden Blick auf die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis wirft.

Die Vielfalt der literarischen Verarbeitungen des Erkenntnissuchemotivs lässt sich vielleicht am besten im Rahmen einer Typologie überblicken. Wenn dabei im Folgenden ausschließlich von Texten der Moderne und Postmoderne die Rede ist, so geschieht dies nicht nur wegen der weiten Verbreitung des Motivs in diesen Epochen, sondern auch, weil bestimmte Typen offenbar erst in moderner und postmoderner Literatur erscheinen, die Variationsmöglichkeiten also erst jetzt voll ausgeschöpft werden. Dabei scheint die Gattung des Romans der bevorzugte Ort des Motivs zu sein: Für die Schilderung intellektueller Vorgänge bieten sich Erzähltexte eher an als etwa das Drama, und innerhalb der Erzählliteratur kommen eher längere Formen wie vor allem der Roman in Frage, da Geschichten, die eine Suche zum Gegenstand haben, zu einer gewissen Ausführlichkeit tendieren. Prinzipiell lassen sich aber natürlich Texte aller Gattungen und aller literaturgeschichtlichen Epochen, in denen eine Suche nach Erkenntnis beschrieben wird, den vorgestellten Typen zuordnen.

Die Typologie geht von der Frage aus, ob die Figur, die nach Erkenntnis sucht, mit ihrer Suche erfolgreich ist, das heißt ob sie zu einer Erkenntnis gelangt, die innerhalb der erzählten Welt Plausibilität beanspruchen kann. So ergeben sich drei Möglichkeiten. Erstens: Die Figur findet eine plausible Erkenntnis. Zweitens: Die Figur findet keine plausible Erkenntnis. Drittens: Es bleibt offen, ob die Figur eine plausible Erkenntnis findet oder nicht. Außerdem soll noch auf einen vierten Typ eingegangen werden, der sich strenggenommen unter die anderen Typen (in der Regel unter Typ 1) subsumieren lässt, bei dem jedoch eine gesonderte Betrachtung lohnend erscheint.

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Der erste Typ ist der mit Abstand am weitesten verbreitete. Das liegt einfach daran, dass der Detektivroman unter diesen Typ fällt. Denn es gehört bekanntlich zu dessen Gattungsgesetzen, dass der Detektiv den Mörder findet und erkennt, wie und warum sich der Mord ereignet hat. Aber natürlich gibt es auch Texte des ersten Typs, die keine Detektivromane sind. In Jean-Paul Sartres „La Nausée“ („Der Ekel“) von 1938 etwa versucht die Hauptfigur, ein junger Historiker namens Antoine Roquentin, die Ursachen eines merkwürdigen Ekelgefühls herauszufinden, das ihn seit einiger Zeit immer wieder anfallartig überkommt. Er erkennt schließlich, dass dieser Ekel eine körperliche Reaktion auf das durch sprachliche und gesellschaftliche Konventionen verdeckte ‚wahre Wesen‘ alles Existierenden darstellt. Alles, was existiert, ist einfach bloß da, zufällig, sinnlos und überflüssig: „L’essentiel c’est la contingence. […] Exister, c’est être là, simplement; les existants apparaissent, se laissent rencontrer, mais on ne peut jamais les déduire. […] Tout est gratuit“. („Das Wesentliche ist die Kontingenz. […] Existieren, das ist dasein, ganz einfach; die Existierenden erscheinen, lassen sich antreffen, aber man kann sie nicht ableiten. […] Alles ist grundlos“.)[1]

Zwischen dem Detektivroman und vielen solcher Romane wie „La Nausée“ gibt es einen wichtigen Unterschied, der eigentlich zwei grundsätzliche Möglichkeiten des Erkenntnissucheromans überhaupt bezeichnet, wobei der Detektivroman immer die eine, alle anderen Erkenntnissucheromane dagegen häufig – wenn auch nicht immer – die andere Möglichkeit repräsentieren: Die Erkenntnisse, zu denen ein Detektiv gelangt, sind ausschließlich für die fiktive Welt des jeweiligen Romans von Relevanz. Für unser Leben in der sogenannten realen Wirklichkeit ist es nicht wichtig, wer in irgendeinem Buch einen Mord begangen hat. Bei anderen Erkenntnissucheromanen dagegen können die Erkenntnisse, nach denen die Figuren streben, durchaus auch für die reale Welt des Lesers von Bedeutung sein. In Texten des ersten Typs stellen sie sogar häufig eine Art Botschaft des Romans dar: Etwas, das der Autor dem Leser für sein eigenes Leben zu bedenken geben will. In „La Nausée“ ist das der Fall, wie nicht zuletzt die Übereinstimmungen zwischen der Erkenntnis Roquentins und Sartres eigener Philosophie nahelegen. Übrigens berührt sich an dieser Stelle die Frage nach der Erkenntnis von Figuren mit der in der Literaturwissenschaft aktuell vieldiskutierten Frage, ob und wenn ja wie Literatur eine Quelle der Erkenntnis für den Leser darstellen kann.[2]

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Der zweite Typ des Erkenntnissucheromans, bei dem die Suche nach Erkenntnis erfolglos bleibt, scheint wesentlich seltener zu sein als der erste, selbst wenn man den Detektivroman außer Acht lässt. Das liegt wohl daran, dass dieser Typ spannungsökonomisch ziemlich undankbar ist. Denn der Misserfolg der suchenden Figur bedeutet ja in den allermeisten Fällen, dass die Aufmerksamkeit des Lesers auf etwas gelenkt wird, was der Text ihm dann vorenthält. (Eine Ausnahme stellen Texte dar, in denen die suchende Figur zwar keine Erkenntnis findet, diese aber auf andere Weise, etwa durch einen allwissenden Erzähler, vermittelt wird.) Dennoch gibt es auch für diesen Typ prominente Beispiele. In Franz Kafkas „Der Proceß“ von 1915 etwa sucht Joseph K. nach dem Grund seiner plötzlichen Verhaftung. Ist er wirklich schuldig, und wenn ja, worin besteht dann seine Schuld? Zwar könnte man das Ende des Romans – K. lässt sich ohne jeden Widerstand von Beamten des Gerichts abführen und hinrichten – als eine Art Schuldeingeständnis lesen. Worin aber diese Schuld eigentlich bestehen soll, das erfährt weder K. noch der Leser des Buches.

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Beim dritten Typ des Erkenntnissucheromans bleibt unentscheidbar, ob die nach Erkenntnis strebende Figur eine plausible Erkenntnis findet oder nicht. Das soll nicht heißen, dass umgekehrt beim ersten Typ jeder Zweifel an der präsentierten Erkenntnis prinzipiell ausgeschlossen wäre. Zwar können in fiktiven Welten bestimmte Umstände durch das maßgebliche Wort eines allwissenden Erzählers definiert sein. Dies gilt aber – wenn überhaupt – doch nur für einen sehr begrenzten Bereich der Gegebenheiten einer erzählten Welt. In „La Nausée“ etwa lässt sich nicht grundsätzlich ausschließen, dass Roquentins Auffassung von den existierenden Dingen nicht vielleicht doch die Wirklichkeit der erzählten Welt verfehlt. Denn kein allwissender Erzähler raunt uns hier zu, Roquentin habe nun das große Geheimnis der Existenz ein für alle Male gelüftet. Entscheidend ist jedoch, dass im Text keine zwingenden Gegenargumente formuliert werden, die die Plausibilität von Roquentins Einsicht in Frage stellen würden.

Beim dritten Typ lässt sich dagegen nicht behaupten, dass eine gewonnene Erkenntnis plausibel ist, denn hier spricht ebensoviel dafür, dass sie es nicht ist. Es bleibt unklar, wie die Gegenstände, auf die sich die Erkenntnis bezieht, überhaupt beschaffen sind, da im Roman zwei oder mehr Möglichkeiten vermittelt werden. Die erzählte Welt ist mehrdeutig. In Thomas Pynchons „The Crying of Lot 49“ („Die Versteigerung von No. 49“) von 1966 stößt die Protagonistin Oedipa Maas – ihr Vorname verweist bereits auf das Thema der Erkenntnissuche – auf Hinweise auf eine Art Untergrund-Kommunikationssystem, über das die Außenseiter und Verlierer des kapitalistischen Amerika miteinander in Kontakt stehen und dessen Kern anscheinend eine Geheimorganisation bildet, die seit Jahrhunderten die bestehende Ordnung bekämpft. Diese Hinweise liegen in erster Linie in einer Reihe wiederkehrender Zeichen: Dem Bild eines Posthorns, dessen Trichter (möglicherweise durch einen aufgesetzten Dämpfer) verdoppelt erscheint, dem rätselhaften Namen „Tristero“ sowie der Buchstabenfolge „W.A.S.T.E.“, was einerseits für „waste“ („Müll“) stehen, andererseits auch die Abkürzung für die mysteriöse Prophezeiung „We Await Silent Tristero’s Empire“ sein könnte. Die Kontexte, in denen Oedipa diesen Zeichen begegnet, sind so dubios wie die Zeichen selbst: Eine elisabethanische Rachetragödie, deren Textausgaben sich an entscheidender Stelle widersprechen, gefälschte Briefmarken, Berichte von blutigen Kämpfen zwischen rivalisierenden Postunternehmen, eine wohltätige Organisation, die sich den Kampf gegen die Liebe auf die Fahnen geschrieben hat, und so weiter. Verbirgt sich wirklich etwas hinter diesen Zeichen? Ist das Ganze vielleicht nur ein Scherz oder ein Spiel? Und wenn diese Geheimorganisation tatsächlich existiert – welche Bedeutung, welche Macht hat sie? Diese Fragen bleiben offen, und wie der Leser zweifelt auch Oedipa selbst, ob sie einer ungeheuren Verschwörung auf der Spur ist oder bloß ihren eigenen Hirngespinsten nachjagt.

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Bisher wurde davon ausgegangen, dass in den Texten, die unter die beschriebenen Typen fallen, nach einer oder wenigen eng miteinander verbundenen Erkenntnissen gesucht wird. Die Typologie ist jedoch auch dann anwendbar, wenn die Suche nach mehreren verschiedenen Erkenntnissen Gegenstand eines Textes ist. Wenn zum Beispiel eine oder mehrere Figuren nach zwei verschiedenen Einsichten streben und diese auch finden, liegt der erste Typ vor. In anderen Fällen können sich Mischformen ergeben, etwa wenn die Suche nach einer Erkenntnis erfolgreich ist, die nach einer anderen jedoch scheitert. Häufig sind bestimmte Erkenntnisse ohnehin nur Zwischenschritte auf dem Weg zu der eigentlich gesuchten Einsicht, deren Erreichen oder Nicht-Erreichen dann für die Zuordnung zu den jeweiligen Typen ausschlaggebend ist. In Kafkas „Der Proceß“ erfährt Joseph K. ja tatsächlich so manches über das Gericht, die entscheidende Frage nach seiner Schuld wird dadurch aber nicht gelöst. Die Erkenntnissuche bleibt also erfolglos.

Dennoch scheint es sinnvoll, eine solche Spielart des Erkenntnissucheromans, in dem es um mehrere Erkenntnisse geht, gesondert zu betrachten, da man so ihrer Eigenart besser gerecht wird als durch eine (wenn auch logisch stimmige) Subsumierung unter die bereits genannten Typen (das heißt in der Regel unter Typ 1). Es gibt Texte, in denen eine Figur nach einer Vielzahl von Erkenntnissen sucht, wobei der Fokus weniger auf einer zentralen Einsicht liegt, die am Ende gewonnen werden soll, als auf einem immer neuen Ansetzen, einem fortlaufenden Prozess des Erschließens der Wirklichkeit in ihren unterschiedlichen Facetten. Ein Beispiel für diesen Typ, der im Wesentlichen mit dem zusammenfällt, was manchmal als ‚essayistischer Roman‘ bezeichnet wird, ist Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von 1910. Maltes berühmter Satz „Ich lerne sehen“[3] verweist bereits auf die Kennzeichen dieses Typs: Was Malte hier lernt, ist das richtige, das heißt das erkennende Sehen. Sehen aber ist ein unabschließbarer Prozess, und es richtet sich nicht bloß auf einen einzigen Gegenstand, sondern auf eine Vielzahl von Gegenständen, eben potentiell auf alles Sichtbare. Der Roman zeigt die Ergebnisse dieses neuen Sehens. Sie beziehen sich zunächst auf Maltes Erfahrungen in der ihm unvertrauten Metropole Paris, die ihn verunsichern und dadurch das ‚Sehen-Lernen‘ allererst auslösen. Im weiteren Verlauf des Buches umfassen die Aufzeichnungen dann Reflexionen unter anderem über Geschichten aus der Bibel und historische Personen unterschiedlicher Epochen und fügen sich lose zusammen zu einer aus kritischer Auseinandersetzung mit Kultur und Zivilisation gewonnenen neuen Lebens- und Weltsicht.

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Das Kriterium, auf dem die skizzierte Typologie beruht, ist die Frage, ob eine Figur zu einer plausiblen Erkenntnis gelangt oder nicht. Die Plausibilität einer Erkenntnis lässt sich dabei an den Zuständen der im Text dargestellten fiktiven Welt ablesen. Eine andere Frage ist, ob eine Figur eine Erkenntnis selbst für plausibel hält. Zwar fällt offenbar in den meisten Romanen beides zusammen: Die Figuren schätzen die Plausibilität ihrer Erkenntnisse richtig ein. Im Detektivroman zum Beispiel ist das die Regel: Wen der Detektiv am Ende für den Mörder hält, der ist auch der Mörder. Aber natürlich sind auch andere Varianten denkbar. So kann etwa eine Figur eine Erkenntnis finden, die unplausibel ist, während sie selbst sie jedoch für plausibel hält (Typ 2). Umgekehrt könnte sie zu einer plausiblen Erkenntnis gelangen, diese aber verwerfen (Typ 1). Und beim dritten Typ könnte eine Figur eine Erkenntnis für plausibel halten oder auch nicht, oder sie könnte – dem Wissen, das der Roman über die erzählte Welt vermittelt, entsprechend – unentschieden bleiben, wie die Plausibilität der Erkenntnis zu bewerten ist (wie in „The Crying of Lot 49“). Schließlich wäre bei Typ 2 noch ein weiterer Sonderfall denkbar: Der Text könnte – beispielsweise durch den Erzähler – eine plausible Erkenntnis offenlegen, die die Figur jedoch nicht findet.

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Zu Beginn dieser Überlegungen wurde darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit von Erkenntnis seit dem 19. Jahrhundert zunehmend als Problem wahrgenommen wird. Jeder Text, der das Motiv der Erkenntnissuche verarbeitet, nimmt eine Bewertung dieser Problematik vor, wenn auch in den meisten Fällen implizit. Solche erkenntnistheoretischen Positionen lassen sich auf einer höheren Abstraktionsebene auch den genannten Typen zuschreiben, wobei freilich zu berücksichtigen ist, dass es sich dabei jeweils nur um eine allgemeine Tendenz handeln kann – der individuelle Text ist in jedem Fall differenzierter.

Bei Typ 4 wird die Möglichkeit, relevante Einsichten über die Wirklichkeit zu gewinnen, nicht in Zweifel gezogen. Im Gegenteil: Die Figur gelangt hier sogar zu einer Vielzahl von Erkenntnissen. Allerdings wird dabei der Geltungsanspruch dieser Erkenntnisse relativiert: Zum einen erscheint Erkenntnis hier nicht als Ergebnis eines abschließbaren Vorgangs, sondern immer nur als eine Art Zwischenprodukt eines fortlaufenden Prozesses. Selbst wenn spätere Erkenntnisse früheren nicht widersprechen, werden dadurch zumindest implizit die Zeitlichkeit und damit das Provisorische einer jeden gewonnenen Einsicht angedeutet. Zudem verweist die Prozesshaftigkeit auf die Subjektivität der Erkenntnisse, denn der Prozess des Denkens ist ja immer an ein subjektives Bewusstsein gebunden. Das Denken vermag hier also zwar zu einer Orientierung in der Wirklichkeit zu verhelfen, diese muss aber immer wieder neu geleistet werden, die Erkenntnisse fügen sich nicht zu einer festen und letztgültigen systematischen Ordnung. Diese den Geltungsanspruch der präsentierten Erkenntnisse einschränkenden Aspekte sind typisch für die Vorstellungswelt der Moderne. Typ 4 lässt sich damit als spezifisch moderne Ausprägung des Erkenntnissucheromans verstehen.

Eine eher postmoderne Spielart stellt dagegen der dritte Typ dar. Die schon im vierten Typ anzutreffende Relativität der Erkenntnisse ist hier gesteigert zur Ambivalenz. Es findet keine tastende Annäherung an die Wirklichkeit statt, sondern es werden Einsichten geboten, die die Wirklichkeit möglicherweise überhaupt verfehlen. Zu der erkenntnistheoretischen Problematik gesellt sich damit eine ontologische. Die gewonnene Erkenntnis lässt eine Version der Welt entstehen, die vielleicht der tatsächlichen erzählten Welt entspricht, vielleicht aber auch eine zweite, fiktionsintern fiktive, bloß von einer Figur erdachte zweite Wirklichkeit darstellt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, oder genauer: zwischen Fiktion und Fiktion zweiter Stufe, verschwimmen.

Was die Typen 1 und 2 betrifft, so scheinen deren erkenntnistheoretische Implikationen auf der Hand zu liegen: Typ 1 ist optimistisch, was die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis betrifft, Typ 2 dagegen vertritt einen erkenntnisskeptischen Standpunkt. Allerdings muss auch dieser Typ nicht unbedingt auf die Behauptung der Unmöglichkeit von Erkenntnis hinauslaufen. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird auf Probleme gelenkt, für die der Roman keine Lösung anbietet, die aber dadurch nicht zwangsläufig als unlösbar ausgewiesen werden müssen. Es könnte ja zum Beispiel auch an der suchenden Figur liegen, dass die Erkenntnissuche scheitert. Kafkas „Der Proceß“ bewegt sich zwischen diesen beiden Polen – der Darstellung der Unmöglichkeit von Erkenntnis einerseits und der Darstellung der Weigerung des Menschen, sich der Erkenntnis zu öffnen, andererseits. Natürlich bleibt die Frage nach Josef K.’s Schuld offen, und auch die Umstände von Verhaftung und Prozess und überhaupt das ganze Gerichtswesen sind einigermaßen befremdlich. Andererseits empfängt K. aber auch einige verschlüsselte Hinweise, denen er jedoch nicht weiter nachgeht – man denke nur an die Szene im Dom, in der ein Geistlicher K. die Parabel vom Mann vom Lande und vom Türhüter, der den Eingang des Gesetzes bewacht, erzählt und sie dabei sogar mit einigen Erläuterungen zur richtigen Interpretation versieht. Es gibt im „Proceß“ sogar eine Stelle, in der die Erkenntnis greifbar nahe zu sein scheint. K.’s Versagen in dieser Szene wirft ein bezeichnendes Licht auf sein (ihm selbst wohl eher unbewusstes) Ausweichen vor Erkenntnis und Selbsterkenntnis: Bei seinem ersten Besuch der Kanzleien des Gerichts begegnet K. einem Beamten, der ihm als der „Auskunftgeber“ vorgestellt wird. „Er gibt den wartenden Parteien alle Auskünfte, die sie brauchen, und da unser Gerichtswesen in der Bevölkerung nicht sehr bekannt ist, werden viele Auskünfte verlangt. Er weiß auf alle Fragen eine Antwort“.[4] Aber statt zu fragen, denkt K. nur daran, die Kanzleien so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Das leichte Unwohlsein, das er schon bald nach seinem Eintritt verspürt, hat sich verschlimmert. Beinahe unfähig, sich zu bewegen, wird er schließlich vom Auskunftgeber und einer netten Gerichtsangestellten aus den Kanzleien hinausgebracht.

In Romanen des ersten Typs dagegen wird die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis positiv beantwortet. Darin liegt wohl auch ein Grund für die große Popularität des Detektivromans. Denn obwohl es in ihm um Mord und Totschlag geht, ist er zumindest in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine optimistische Gattung. Er suggeriert, dass sich die Wirklichkeit verstehen lässt – und das trotz all der Verwicklungen und scheinbaren Widersprüche, mit denen die Mordfälle, von denen der Detektivroman handelt, gewöhnlich einhergehen. Insofern bietet der Detektivroman eine Art Trost oder Beschwichtigung angesichts der Unübersichtlichkeit der modernen Welt. Und es ist natürlich kein Zufall, dass ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avantgardistischere Detektivromane die Handlungsmuster des klassischen Detektivromans unterlaufen und dabei nicht zuletzt diesen erkenntnistheoretischen Optimismus konterkarieren.[5]

Auf den zweiten Blick können sich aber auch Romane, die plausible Erkenntnisse präsentieren, im erkenntnistheoretischen Sinne als problematischer erweisen, als es zunächst den Anschein haben mag. Bei Sartres „La Nausée“ ist das der Fall. Der Roman beinhaltet eine ausführlich geschilderte Erkenntnisszene, die Höhepunkt und Abschluss der Erkenntnissuche darstellt: Roquentin irrt während eines besonders heftigen Ekelanfalls durch die Stadt und findet sich schließlich in einem Park wieder, wo er sich erschöpft auf eine Bank fallen lässt. Dort verfällt er in einen tranceartigen Zustand. Sein Bewusstsein ist plötzlich völlig ausgefüllt von dem Wurzelstück eines Kastanienbaumes, das vor ihm aus dem Boden ragt: „J’étais la racine de marronnier. Ou plutôt j’étais tout entier conscience de son existence“. („Ich war die Wurzel des Kastanienbaums. Oder vielmehr, ich war ganz und gar Bewußtsein ihrer Existenz.“)[6] Die Wurzel ist nun jedoch nicht mehr einfach bloß eine Wurzel. Sie ist aufgegangen in der unterschiedslosen Masse aller existierenden Dinge: „la racine, les grilles du jardin, le banc, le gazon rare de la pelouse, tout ça s’était évanoui; la diversité des choses, leur individualité n’étaient qu’une apparence, un vernis. Ce vernis avait fondu, il restait des masses monstrueuses et molles, en désordre“. („die Wurzel, das Gitter des Parks, die Bank, das spärliche Gras des Rasens, das alles war entschwunden; die Vielfalt der Dinge, ihre Individualität waren nur Schein, Firnis. Dieser Firnis war geschmolzen, zurück blieben monströse und wabbelige Massen, ungeordnet“.)[7] In diesem Zustand erscheint alles Existierende nun so, wie es wirklich ist: sinnlos, zufällig, überflüssig. Die Existenz hat sich enthüllt: „l’existence s’était soudain dévoilée“.[8]

Was hier geschildert wird, ist ein mystischer Vorgang: Auflösung der Subjektivität, durch das Medium der Wurzel vermittelte Verbindung mit einer allgemeineren, höheren Seinsebene, schließlich mystische Schau der Wahrheit, die sich in dieser Verbindung offenbart.

Aber warum inszeniert Sartre die Erkenntnisszene auf eine solch spektakuläre Weise? Offenbar dient die Inszenierung dazu, der präsentierten Erkenntnis implizit eine mehr als bloß subjektive Gültigkeit zuzuschreiben. Würde Roquentin eigenständig zu seiner Erkenntnis gelangen, dann hätte diese Erkenntnis zunächst auch bloß subjektive Bedeutung. Nun wird die Erkenntnis Roquentin jedoch quasi von einer höheren Instanz eingegeben. Damit erhält sie nicht nur eine beinahe religiöse Weihe, sondern vor allem auch objektive – oder doch zumindest intersubjektive – Bedeutung. Die Erkenntnis vollzieht sich durch den Rekurs auf eine Ebene, die prinzipiell jedem zugänglich ist, und ist daher nicht mehr nur von privater, sondern von allgemeiner Relevanz.

In der Mystik, die die Erkenntnisszene in „La Nausée“ bestimmt, liegt jedoch gerade das angesprochene Problem. Denn die Art und Weise, wie Roquentin zu seiner Erkenntnis gelangt, steht im Widerspruch zum Inhalt dieser Erkenntnis. Wie kann das Existierende, wenn es doch sinnlos und überflüssig ist, plötzlich als metaphysische Macht erscheinen? Wie kann mit ihm eine mystische Verbindung stattfinden, wie kann es quasi zum Spender von Wahrheit werden? Die Mystik und Metaphysik, die der Roman in der Erkenntnisszene bemüht, dürfte es nach der in ihm präsentierten Erkenntnis gar nicht geben.

Durch diese Spannung ergibt sich bei „La Nausée“ eine gewisse Affinität zum dritten Typ des Erkenntnissucheromans. Trotzdem ist die Zuordnung zum ersten Typ stimmig. Der Roman etabliert ja nicht offen eine mehrdeutige Welt. Vielmehr scheint die Unstimmigkeit zwischen dem Weg zur Erkenntnis und deren Inhalt mit der Schwierigkeit zu erklären, einer Position besonderen Nachdruck zu verleihen in einer historischen Situation, die gerade durch die Relativität der Standpunkte gekennzeichnet ist. Mit dieser Schwierigkeit sieht sich der erste Typ des Erkenntnissucheromans generell konfrontiert, wenn er sich um Erkenntnisse dreht, die von existenzieller, auch in der realen Wirklichkeit gültiger Bedeutung sein sollen.

So kann es passieren, dass selbst in einem Roman, der Lösungen anbietet, am Ende mehr Fragen bleiben als Antworten. Aber das ist ja vielleicht auch eine Eigenschaft guter Literatur und ein Grund, sie zu lesen und sich Gedanken über sie zu machen.

[1] Sartre, Jean-Paul: Œuvres romanesques. Hg. von Michel Contat. Paris 1981. S. 155. Übersetzung: Sartre, Jean-Paul: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. von Traugott König. Romane und Erzählungen. Bd. 1: Der Ekel. Übers. von Uli Aumüller. Reinbek bei Hamburg 1982. S. 149.

[2] Vgl. dazu zum Beispiel den neueren Sammelband Köppe, Tilmann (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin 2011.

[3] Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Hg. und kommentiert von Manfred Engel. Stuttgart 1997. S. 8 und gleichlautend S. 9.

[4] Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hg. von Hans-Gerd Koch. Bd. 3: Der Proceß. Frankfurt am Main 1994. S. 82.

[5] Vgl. dazu etwa den Sammelband Merivale, Patricia; Sweeney, Susan Elizabeth (Hgg.): Detecting Texts. The Metaphysical Detective Story from Poe to Postmodernism. Philadelphia 1999.

[6] Sartre, Œuvres romanesques, S. 155 f. Übersetzung: Sartre, Gesammelte Werke, S. 149.

[7] Sartre, Œuvres romanesques, S. 151. Übersetzung: Sartre, Gesammelte Werke, S. 145.

[8] Sartre, Œuvres romanesques, S. 151.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz