Trauerbewältigung

Håkan Nesser interessiert sich mehr für das Seelenleben seines Ermittlers als für die Ermittlung: „Am Abend des Mordes“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Auftakt ist empathischer Horror: Håkan Nessers Held Barbarotti erwacht eines Morgens neben seiner toten Frau. Kein Mord, kein Totschlag, kein Unfall, nein, ein Aneurysma ist die Ursache, und der Tod kommt nicht unerwartet. Ab diesem Tag ist Barbarotti ein Hinterbliebener, der seiner Trauer völlig ausgeliefert ist, und er muss sich zugleich noch um fünf Kinder kümmern (seine und die seiner Frau), die zwar selbst schon fast erwachsen sind, aber dennoch den Vater brauchen. Eine existenzielle Situation – aber als tragender Plot eines Krimis?

Håkan Nesser ist ein großer Meister im Entwerfen außergewöhnlicher Helden. Barbarotti ist nicht minder gelungen angelegt als seine Vorgänger: Der illegitime Sohn eines Italieners in Schweden, der allerdings schnell das Weite gesucht hat, ein schnoddriger Denker und distanzierter Akteur in der Polizei, der seine Sympathien auch für diejenigen hegt, die auf die falsche Seite des Gesetzes geraten sein mögen.

Das zeigt sich auch in diesem Krimi, und zugleich zeigt sich die große Schwäche des Krimi-Schreibers Nesser: Denn er ist am Krimi nicht wirklich interessiert. Ihn interessieren das Innenleben seiner Figuren, ihre Motivationen und Perspektiven deutlich mehr als die übliche Suche nach den Bösewichtern. Und da kann der Kopf einer Mörderin schon einmal interessanter sein als der Nachweis, dass sie es wirklich war.

Das kommt dem Plot allerdings nicht zugute, auch nicht in diesem Fall: Barbarotti wird als Trauer-Rekonvaleszent auf einen alten Fall angesetzt: Vor fünf Jahren ist ein Mann spurlos verschwunden. Die Hauptverdächtige: seine Lebensgefährtin, und zwar vor allem deshalb, weil sie knapp 20 Jahre zuvor eingestandenermaßen ihren Mann erschlagen, in Teile zerlegt und entsorgt hat, wofür sie auch gesessen hat. Ihr „Kampfname“ in der Presse: „Die Schlächterin von Burma“.

Selbstverständlich ist an diesen beiden Fällen, die irgendwie zusammenhängen, nichts so, wie es scheint, und selbstverständlich bekommt Barbarotti heraus, wie es dann wirklich alles gewesen ist. Auch wenn er es zum Teil als Vermutung äußert.

Und Leser werden das alles auch plausibel finden, aber vor allem deshalb, weil sie von Nesser in einigen Rückblicken, die in den Text gestreut sind, die – beinahe – wahre Geschichte miterleben. Das verschleiert allerdings, dass sich Barbarotti das, was er als Wahrheit verkauft, eigentlich nur zusammengereimt hat, es also für plausibel hält. Plausibel halten das eben auch Leser, weil sie ja „wissen“, wie es wirklich war. Ein Trick, ja, und ein einigermaßen tragfähiger, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es ein Trick bleibt.

Was wäre denn, wenn die damalige Tat tatsächlich so verlaufen wäre, wie sie verurteilt wurde? Was wäre, wenn der zweite Fall einfach nichts mit dem ersten zu tun hätte und das Verschwinden des Mannes einen ganz anderen Grund hätte als den, der später angenommen wird? Beweise gibt es für den einen Fall ebenso wenige wie für den anderen.

Hinzu kommt, dass die Geschichte, wie sie am Ende auftritt, ein allzu wohlfeiles Exempel für gerechtes Handeln ist. Zwischenzeitlich taucht außerdem noch eine Truppe verdeckt operierender militanter Frauen auf, die es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht hat, Frauen vor misshandelnden Männern zu beschützen, etwa, indem sie die letzteren einfach aus dem Weg räumt.

Dieses Thema etwas stärker gemacht, und heraus käme vielleicht ein interessanter Krimi mit einer anderen Art von Geheimbund, der in Wirklichkeit das Sagen hat, statt Templer oder dergleichen mehr. Aber Nesser spielt dieses Thema nur an und lässt es auf sich beruhen. Stattdessen lässt er das mitfühlende Leserherz sich in der Trauerbewältigung des Protagonisten suhlen, dass die Tränendrüsen ächzen. Auch seine Engelsgeschichten sind herzzerreißend – die Lebensgefährtin Barbarottis schreibt ihm Briefe aus dem Jenseits, Barbarotti spricht mit der Toten und dem Lieben Gott, Glaubensfragen werden erörtert, die guten Familienbande gestärkt und nebenbei löst Barbarotti auch noch den Fall, tut seinem Vorgesetzten einen Gefallen und gewinnt langsam wieder Boden unter den Füßen.

In einen Ratgeber gepackt wäre, das alles ziemlich öde und fände wohl kaum Abnehmer, so aber – Grundkurs Trauerbewältigung absolviert. Immer annehmen und laufen lassen und von Minute zu Minute denken. Immerhin was, wenn man Trauer kennt. Aber vielleicht ist das alles doch die falsche Veranstaltung.

Titelbild

Håkan Nesser: Am Abend des Mordes. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Paul Berf.
Goldmann Verlag, München 2012.
473 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783442753178

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