„Nazisuppe“ oder: Pathologien der Erinnerung

Thomas Bernhards Dramen und die Geschichtskultur

Von Irmtraud Götz von OlenhusenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmtraud Götz von Olenhusen und Albrecht Götz von OlenhusenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Götz von Olenhusen

Als Sigmund Freud am 11. oder 12. März 1938 in seinem Tagebuch lapidar notierte: „Finis Austriae“[1], brachte er damit nicht nur sein Entsetzen über den Einmarsch der Deutschen zum Ausdruck, der von einer Riesenmenge auf dem Heldenplatz in Wien fanatisch bejubelt wurde, sondern dem hellsichtigen Zeitgenossen war auch klar, dass dieser Tag der Beginn der Zerstörung der bis dahin jüdisch geprägten, kosmopolitischen Kultur Österreichs beziehungsweise Wiens war. Adolf Hitler hatte seine Rede anlässlich des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich mit den Worten beendet: „Es lebe das nationalsozialistische Deutsche Reich, es lebe das nationalsozialistische Deutsch-Österreich“.[2] Lange wollten die Österreicher nicht wahrhaben, dass sie keineswegs nur Opfer Nazideutschlands waren, sondern sich aktiv an den Verbrechen der Deutschen beteiligt hatten; nicht zuletzt war Hitler selbst Österreicher gewesen.

Thomas Bernhard letztes Drama „Heldenplatz“ war ein Auftragsstück zum 100-jährigen Jubiläum des neuen Burgtheatergebäudes gewesen, aber es wurde 50 Jahre nach dem „Anschluss“ Österreichs sein Beitrag zum „Bedenkjahr“ 1988, wie es die Österreicher nannten, und in gewisser Weise sein Vermächtnis für die deutschsprachige, politische Erinnerungskultur.

1988 war die öffentliche Debatte in Österreich aufgeheizt: Seit der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten – Waldheim war als SS-Offizier für Erschießungskommandos auf dem Balkan verantwortlich gewesen – war die Debatte über die Beziehung der österreichischen Bevölkerung zum Nationalsozialismus nicht zum Stillstand gekommen. Sie hatte das Land in zwei Lager gespalten. Jörg Haider war 1986 zum Obmann der FPÖ gewählt worden, und damit begann der Aufstieg der populistischen Rechtspartei. Waldheim und Haider waren für Bernhard weitere Symptome für die geistige, kulturelle und politische Verfasstheit Österreichs, über die er sich in der ihm eigenen Art dramatischer „Übertreibungskunst“ noch nie freundlich geäußert hatte. Das Aufbrechen des „Beschweigens“ und der Verdrängung der Verantwortung für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war ein besonderes Ziel Thomas Bernhards, und sein Pessimismus im Hinblick auf eine Aufarbeitung der Vergangenheit ist nicht – wie gelegentlich unterstellt wird[3] – seinem privaten Charakter, seinen traumatischen Kindheitserfahrungen oder seiner unheilbaren Krankheit zuzuschreiben, sondern primär gesellschaftlich und historisch zu erklären. Bernhard (Jahrgang 1931) gehörte der Generation der „Nachgeborenen“ an, aber er konnte und wollte sich – wie der bewusstere Teil seiner Generation – nicht der kollektiven Verantwortung für die nationalsozialistische Ära und deren Folgen entziehen. Er hat gespürt, wie tief bestimmte Muster, deren sich der Nationalsozialismus bedienen konnte, in den Seelen verankert waren. So lässt er den Protagonisten in „Auslöschung“ über dessen Eltern äußern: „Der Nationalsozialismus hat ihnen in allem und jedem entsprochen, sie hatten sich in ihm sozusagen selbst entdeckt. […] Denn der Nationalsozialismus meiner Eltern hatte mit dem Ende des Nationalsozialismus nicht geendet, weil er ihnen angeboren war […] er […] war tatsächlich nichts anderes gewesen, als ihr Lebensinhalt, ohne welchen sie ja nicht auskommen und gar nicht existieren konnten.“[4]

Thomas Bernhard hat auch deutlicher als andere gesehen, dass solche Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster nicht so einfach aufgegeben werden konnten und von nachfolgenden Generationen unbewusst übernommen wurden, wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen; dass gesamtgesellschaftlich eine gründliche Aufklärung über die Vergangenheit auf große Widerstände stößt und dass die Kunst vielleicht am ehesten in der Lage ist, solche Widerstände anzusprechen.

Im folgenden wird sich zeigen, dass Thomas Bernhard einen herausragenden Beitrag zur Analyse der gestörten individuellen und kollektiven Erinnerung an die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen geleistet hat – und zwar auf einem Niveau, das von der historischen und politologischen Fachwissenschaft erst etwa zehn Jahre später erreicht worden ist. Es ist darauf hingewiesen worden,[5] dass frühe Versuche Bernhards,[6] sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, als gescheitert angesehen werden können, aber die jüngeren Dramen,[7] die hier zur Debatte stehen, sind bisher von der Forschung vernachlässigt worden.

Abgesehen davon, dass der Schwerpunkt der Bernhard-Forschung auf seinem Prosawerk liegt, hat sich bisher kaum ein Interpret der Dramen angenommen, die sich explizit mit den individuellen und kollektiven Erinnerungspathologien zur nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und Österreich auseinandersetzen („Der deutsche Mittagstisch“ und „Heldenplatz“). Eine gewisse Ausnahme stellen verschiedene Publikationen über den Skandal[8] anlässlich seines letzten Dramas und Studien zur Rezeption der Werke Bernhards[9] dar. Im Folgenden sollen nach einer kurzen Skizzierung der einschlägigen Theaterstücke die Pathologien der Erinnerungen an die NS-Vergangenheit aus Sicht der Geschichtswissenschaft betrachtet werden.

I. Die Stücke

1. Der deutsche Mittagstisch

Der deutsche Mittagstisch thematisiert auf absurd-komische Art und Weise banale kleinbürgerliche Gefühls- und Denkmuster (wie Gefühlskälte[10], Freund/Feind-Denken, die „deutsche Gründlichkeit“ et cetera) beziehungsweise „Familiengefängnisse“, die zur Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft geführt haben und die von Generation zu Generation weiterwirken.

Ein Kernanliegen extrem autoritärer und damit auch der nationalsozialistischen Säuglingserziehung ist es, die frühen Wünsche und den Willen des Säuglings gänzlich den in der Regel zwanghaften Vorgaben der Mutter zu unterwerfen, die – meist ebenfalls autoritär erzogen – ängstlich bemüht ist, ihrem Kind das „Beste“ zu geben, selbst wenn es ihr selber schwerfällt, das Schreien ihres Kindes zu ignorieren.[11] Eine solche frühkindliche Erziehung führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Ich-Schwäche von Kind (und Mutter). Beide geraten umso stärker in den Sog der Zwanghaftigkeit, je mehr sich die Mutter bemüht, ideologisch geprägten Erziehungsratgebern oder anderen Autoritäten zu folgen. Dies wird in kleinbürgerlichen, aufstiegsorientierten Familien besonders häufig der Fall gewesen sein. Psychische Strukturen, die im Säuglingsalter aufgebaut werden, sitzen naturgemäß besonders tief und sind selbst einer späteren therapeutischen Bearbeitung nicht mehr zugänglich.[12]

2. Heldenplatz

„Heldenplatz“ war eine Auftragsarbeit für das 100-jährige Jubiläum des neuen Burgtheatergebäudes, ist aber wie gesagt auch Bernhards Beitrag zum österreichischen „Bedenkjahr“ 1988. Titel, Zeit und Ort des Stückes (Wien, März 1988) verweisen auf darauf, dass in „Heldenplatz“ systematisch Gegenwart und Vergangenheit ebenso permanent ineinander geschoben werden wie Pathologie und „Normalität“. Mit diesem Kunstgriff gelang es Thomas Bernhard, sein Publikum zu provozieren und Erinnerungspathologien der österreichischen Kultur an die Oberfläche zu bringen. Dabei stellte sich die verdrängte Frage nach der österreichischen Identität „in verschärfter Form, indem sie aus jüdischer Perspektive und dazu noch aus der Befindlichkeit von Opfern anvisiert wird, die ihre geistige Verwurzelung in Österreich nicht abschütteln können.“[14]

Zum Skandal[15] war es noch vor der Uraufführung am 4.11.1988 gekommen. Bereits dieses Datum wurde als Provokation gewertet: „Die letzte von vielen Instinktlosigkeiten beweist Peymann durch die Wahl des Zeitpunktes – des 4. Novembers. An diesem 4. November jährt sich nämlich zum 70. Mal jener Schicksalstag [das Ende des Kaiserreiches Österreich] schlechthin, der die wirkliche Tragödie der österreichischen Menschheit auslöste.“[16]

Insbesondere in der Boulevardpresse lasen sich die Vor-Verurteilungen so, als habe man vereinzelte Passagen des Theaterstückes, die durch Indiskretionen Sigrid Löfflers[17] an die Öffentlichkeit gelangt waren, in einer Weise missverstanden, die Thomas Bernhard als undifferenzierten Nestbeschmutzer und Österreich-Hasser präsentierten, indem Äußerungen der Protagonisten des Dramas dem Autor in den Mund geschoben wurden. Im Rahmen der heftigen und offensichtlich durch eine explosive Verbindung von affektivem Getroffensein, schlechtem Gewissen und chauvinistischer Gesinnung geradezu unflätigen Medien-Reaktion wurde Bernhard sogar unterstellt, „durch die Figur des jüdischen Österreich-Beschimpfers den Antisemitismus zu schüren“.[18]

In einem Nachruf auf Bernhard ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass selbst der in diesem Zusammenhang von Literaturwissenschaftlern gerne gebrauchte Begriff „Hassliebe“ Bernhards Verhältnis zu seinem Heimatland Österreich nicht richtig kennzeichnet, sondern dass der Begriff „negative Liebe“[19] diese Beziehung am ehesten treffe. Wenn man bedenkt, dass sich Thomas Bernhard in die Tradition von Karl Kraus und den berühmten „Wiener Schmäh“ stellte, überzeugt diese Korrektur.

Der Heldenplatz-Skandal insgesamt, aber teilweise auch die spätere Rezeption des Stückes lässt sich als eine Art Nicht-Begreifen aufgrund von Abwehr charakterisieren. Selbst in lobenden Pressestimmen wird deutlich, wie der Text bewusst oder unbewusst missverstanden, wie immer wieder Aussagen der Protagonisten Thomas Bernhard als seine eigenen untergeschoben wurden: „Bernhards wildes Schimpfen auf fortdauernden Nationalsozialismus und Antisemitismus – erweist sich als korrekt. Bernhards noch wildere Beschimpfung der katholischen Kirche – erweist sich mit jeder seither vollzogenen Bischofsbenennung als immer näher an der Wirklichkeit.“[20]

Auch Sigrid Löffler, die den Heldenplatzskandal mitausgelöst hatte, hat den tieferen Sinn des Theaterstückes anscheinend nicht verstanden und es wohl infolgedessen explizit zu den schwächeren Stücken Bernhard gerechnet: „Ich sagte ja schon, daß dieses Stück meiner Meinung nach diese Brisanz überhaupt nicht hat, die es dann tatsächlich in der Realität bekommen hat. […] Ich glaube nach wie vor, daß das keineswegs ein bedeutendes Theaterstück ist.“[21]

Die als besonders anstößig geltenden Aussprüche einzelner Protagonisten, die von der Presse so zitiert wurden, als seien sie „O-Ton“ Bernhard, werden weiter unten in einer Tabelle mit kurzen Interpretationen aufgeführt.

Man hat vermutet und es wurde von der Presse sogar behauptet, Bernhard und sein Regisseur Peymann seien selber Urheber des publicityträchtigen Skandals gewesen.[22] Das ist nicht so ganz abwegig, denn Bernhard geht bewusst mit einer hintersinnigen Doppelironie ans Werk: „Die Österreicher spielen in einem auf und vor der Bühne inszenierten Skandal eine Doppelrolle; einerseits sind sie die Skandalisierten, deren Abweichung von der Norm zum Gegenstand des fiktiven Skandals wird, andererseits sind sie zugleich auch die Dritten, die miturteilen sollen und als Theaterbesucher Zeugen eines hart an der Realität inszenierten Skandals sind. Die stark von einander abweichenden Beurteilungen der Premiere weisen auf die daraus resultierende Verunsicherung des Publikums hin.“[23]

In dieser Verunsicherung standen den Zuschauern die Medien selbst nicht nach und haben ihrerseits, Objekt und Subjekt zugleich, zur allgemeinen Unsicherheit, zur Aufheizung der Atmosphäre und mit der solchen Medienereignissen eigentümlichen Eigendynamik durch wechselseitiges Aufladen zum Ausbruch aufgestauter Emotionen beigetragen. Da aber „die meisten Versuche der Medien, einen politischen Skandal bloß zu inszenieren, scheitern, wenn sie sich nicht auf gleichgerichtete Empfindungen im Publikum stützen können,“[24] spielt es in unserem Zusammenhang keine Rolle, wer den Skandal ins Rollen gebracht hat. Treffend ist auf jeden Fall die folgende Beobachtung vom Oktober 1988, noch vor der Premiere: „Schon hat sich ganz Österreich vor der Welt als Bernhardscher Heldenplatz präsentiert.“[25]

Als Fazit des Skandals, in dem ungeahnte Emotionen, Aggressionen und Ressentiments an die Oberfläche kamen, ist festgehalten worden: „Offensichtlich werden hier ungeheure, individuell erfahrene Ängste und Aggressionen frei, die wohl als die aggressive Komponente eines geradezu manischen staatbürgerlichen Gehorsams mit einem ambivalenten Verhältnis zur Autorität zu interpretieren sind. Der brave Bürger kompensiert seine reale Ohnmacht, indem er die Aggression, die eigentlich der Macht gilt, gegen Dritte richtet.“[26]

Thomas Bernhard ist die „Balance zwischen Traditionspflege und Traditionsnegation“, zwischen „mythenreicher Vorstellungswelt“ und „ererbtem Alptraum“[27] und damit eine tabubrechende Thematisierung der Beteiligung Österreichs an den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und gleichzeitig über die Aktualität von Antisemitismus und Fremdenhass gelungen. Bei ihm hat die Erinnerung mit „Heldenplatz“ einen Ort[28] gefunden, nachdem durch die Tabuisierung „[…] ein Prozeß der Abstrahierung und Entwirklichung der NS-Vergangenheit einher [gegangen war], der die Geschichte gewissermaßen ihres Personals und ihrer Orte beraubte […].“[29] Mit der diskursgestaltenden Konstruktion von „Heldenplatz“ musste der Mythos zerbrechen, Österreich sei selber in erster Linie oder überhaupt nur ein bloßes Opfer Hitler-Deutschlands gewesen.

Das Stück spielt in Wien im „März 1988“. Die Protagonisten sind von Oxford nach Wien remigrierte Juden. Einer der Anlässe des Heldenplatzskandals war es, dass die jüdischen Protagonisten des Dramas nicht als „Gutmenschen“ dargestellt werden, sondern als ganz „normale“ Österreicher.

Der Vater, Professor Josef Schuster, der sich gerade aus dem Fenster gestürzt hatte, wird unter anderem als „Genauigkeitsfanatiker“ (27) charakterisiert. Damit sind zugleich die Sekundärtugenden (Gründlichkeit, Ordentlichkeit, Sauberkeit und Perfektionswahn) benannt, durch die auch die Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten gekennzeichnet waren. Der überlebende von insgesamt drei Brüdern, Onkel Robert (der jüngere Bruder hatte sich bereits 1938 aus dem Fenster gestürzt), reproduziert dieselben Vorurteile und Feindbilder, die eben so auch nichtjüdische Österreicher am Stammtisch äußern könnten. Das Stück thematisiert die Erinnerung an März 1938, den Anschluss Österreichs an das von vielen lang ersehnte „Großdeutsche Reich“. Bekanntermaßen stieß der „Anschluss“ überwiegend auf die Zustimmung der österreichischen Bevölkerung, obwohl Schuschnigg versucht hatte, die Machtergreifung zu verhindern. Die aktive und freiwillige Teilnahme von Österreichern an Judendeportationen, der Ermordung der Juden und an Kriegsverbrechen war die Folge. All dies wird in dem Theaterstück an keiner Stelle ausgesprochen, drängt sich dem Zuschauer aber in Form von assoziativen Erinnerungen auf.

II. Gestörte Erinnerungskultur

In „Der deutsche Mittagstisch“ und in „Heldenplatz“ manifestiert sich auf der Bühne in den häufig nach dem Muster von ganz disparaten Assoziationen konstruierten Monologen, was die Geschichtswissenschaft damals noch nicht artikuliert hatte: nämlich dass es bei „Erinnerungsarbeit“ nicht nur um die „Unfähigkeit zu trauern“ und um die zerstörerische Macht des „Beschweigens“ geht, sondern auch um leere Rituale, erstarrte Klischees und hohle Phrasen von Politikern und Personen des öffentlichen Lebens, die um „political correctness“ bei der „Bewältigung“ der Vergangenheit bemüht sind.

Auf meisterhafte Weise bewältigt Bernhard die Simulation unseres Gedächtnisses, das immer auch chaotisch strukturiert ist: „In jeder Person liegen die verschiedenen Aufzeichnungssysteme im Widerstreit miteinander. Tatsächliche Ereignisse, Ereignisfetzen, Körpergespeichertes, Halbgedachtes, Angefühltes, Normdruck, Erwartungen, ‚das-was-alle-sagen‘, ‚das-was-nur-ich-weiß‘, exakt vom Bewußtsein Aufgezeichnetes und wilde Projektionen bilden zusammen unser psychophysisches Dunkel oder Zwielicht. Gedächtnis und Auslegung, Gedächtnis und Unschärfe, Gedächtnis und Irrtum, Gedächtnis und ‚weiße Platte‘, Gedächtnis und blinde Aktion […] sind jeweils siamesische Zwillingspaare.“[36]

Berhard erfindet mit seinen Assziationen nachempfundenen Texten eine Sprache des Halbbewussten, man könnte es auch (Alp)-Traumsprache nennen; dadurch wird ein besonderer Effekt erzielt, der zusätzlich zum Inhalt der Texte zu einer Verschränkung von Pathologie und Normalität bis hin zu ihrer Ununterscheidbarkeit führt: Ein Ergebnis dieser Spracharbeit ist die Bewusstmachung von Erinnerungspathologien, die zugleich ein Teil von Normalität sind, indem sich der Zuhörer oder Leser in seinen ganz „normalen“, chaotischen Assoziationsketten wiedererkennt.

Der Familie als Ort der Primärsozialisation und als „Prototyp“[37] der interaktionalen Erinnerung widmet Bernhard besondere Aufmerksamkeit. „Die Vergangenheitsrepräsentation wird durch face-to-face-Interaktion erzeugt, etwa durch eine Erzählung der Älteren, die an die anwesenden Jüngeren gerichtet ist, oder auch in der dialogischen Rekonstruktion geteilter Erlebnisse.“[38] Das psychoanalytische Verfahren veranschaulicht den „sozial induzierten Konstruktionsprozeßbewußter Erinnerungen“[39] und ebenfalls individuelle und kollektive Erinnerungspathologien. Aus dieser Erkenntnis heraus hat Bernhard auf der Ebene der Kunst zugleich das geleistet, was der Historiker Norbert Frei erst Jahre nach Bernhards Tod von der Fachwissenschaft als Desiderat eingefordert hat: „Historiographisch weiterführend wäre eine auf öffentliche Verlautbarungen beschränkte Untersuchung aber nur im Rahmen einer systematischen Diskursanalyse, die strengen Regeln zu folgen hätte; herkömmliche Zeitgeschichtsforschung muß […] hinter die Fassade rasch erlernter politischer Verdammungsrituale dringen.“[40]

Thomas Bernhard hat die deutsch-österreichische Gedenkkultur seziert und er hat gestörte Täter und Opfer sowie die gestörte Erinnerung von Tätern und Opfern auf die Bühne gebracht. Von den Medien ist dies überwiegend – wohl zum Teil absichtsvoll (des Skandals wegen) – missverstanden worden, aber auch professionelle Interpreten haben die Kunst, die er bei der Analyse und bei der Dramatisierung gestörter Erinnerungen entfaltet hat, selten einmal verstanden.

So hat sich Marcel Reich-Ranicki 1990 über Thomas Bernhard geäußert: „Wie, wenn er, der doch in einem holländischen Ort geboren wurde, dort aufgewachsen wäre? Kann man sich ihn als einen holländischen Schriftsteller denken? Gewiß, nur wären dann für ihn, ich bin dessen sicher, die Niederlande eine einzige ‚geist- und kulturlose Kloake‘, dann hätten die Holländer von ihm allerlei Böses über, sagen wir, Rembrandt hören müssen. Kurz und gut: einem holländischen Autor Thomas Bernhard hätte natürlich nicht Österreich als Metapher für die Sinnlosigkeit unseres Daseins gedient, sondern Holland.“[41]

Dem muss hier aus der Einsicht in die einschlägigen Werke des Autors in aller Entschiedenheit widersprochen werden. Die Verstrickung Österreichs in die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und die Unfähigkeit der österreichischen und deutschen Gesellschaft, damit umzugehen, war für Thomas Bernhard zentrales Moment seiner nationalen Identität als deutschsprachiger, österreichischer Schriftsteller. Er war nicht ein in Österreich lebender Holländer, sondern ein in Holland geborener Österreicher, der mit seiner Biografie, seinen negativen Identifikationen mit diesem Land, mit der Realität von Vergangenheit und Gegenwart und nicht nur metaphorisch mit der Sinnlosigkeit des Daseins zu tun hatte; die Sicht des Autors war durch Zeitumstände, Orte und Geschehnisse bedingt und seine negative Liebe zu Österreich hat, wenn man so will, mit Identitätssuche oder mit expliziter Identitätsverweigerung zu tun.

Die Störungen und der Solipsismus seiner Figuren sind weder Ausdruck von Bernhards privater Sozialisation noch seiner Krankheitsgeschichte, sondern in bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sind die pathologischen Konfigurationen Ergebnis einer tiefgehenden historischen Analyse der Folgen der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen für Opfer und Täter; Pathologien und speziell Erinnerungspathologien werden von Bernhard ganz bewusst dramatisiert und immer wieder hinterfragt,[42] und wir sind genötigt, dies weiter zu tun.

„Das Spektrum der Verweigerung des Umganges mit der Vergangenheit ist breit und betrifft sowohl die bloße Beschäftigung mit der Geschichte des Dritten Reiches als auch die Zurückweisung jeglicher Schuldvorwürfe.“[43]

Der Aussage, „mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit sollten wir uns heute nicht mehr belasten“[44], stimmten 1991 33,6 % aller Westdeutschen zu, und Mechanismen der Verdrängung und des Vergessenwollens sind unter den Angehörigen aller Generationen aktuell und weit verbreitet.[45]

Die alten und neuen Formen der Verdrängung, der Verleugnung und des Vergessenwollens finden sich ausnahmslos auch in aktuellen Meinungsumfragen wieder, wobei sie Verdrängung und Überdruss am Thema widerspiegeln. Ralph Giordano hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „zweiten Schuld“ geprägt,[46] die in der Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld – der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – besteht. Sein Buch hat eine Kontroverse[47] ausgelöst, die nicht so bekannt ist wie der Historikerstreit und die Goldhagen-Debatte, die aber damit in unmittelbarem Zusammenhang steht.

Thomas Bernhard geht es in den hier behandelten Texten genau um die Frage der „zweiten Schuld“, wobei zu bedenken ist, dass in Österreich nach 1945 ohne Frage noch weit weniger nach dem Vergessen und Verschweigen im Erinnern gefragt worden ist, als in der Bundesrepublik Deutschland. Bereits 1983 hat Hermann Lübbe von einem „kommunikativen Beschweigen“[48] gesprochen und Norbert Frei spricht sogar vom „Triumph des ‚Beschweigens‘, dessen Ausmaß, Tiefe und Bedeutung historiographisch noch nicht einmal in Ansätzen erforscht ist.“[49] Die Frage ist dabei nicht die nach dem Erinnern überhaupt, sondern nach der Art des Erinnerns. Abgesehen von Filmen wie der Fernsehserie „Holocaust“ (1979) oder Spielbergs Film „Schindlers Liste“ (1993), die auch nicht ganz unumstritten sind, ist es heute immer noch ein Desiderat, sich in angemessener Form der Verbrechen der Deutschen (und Österreicher) zu erinnern.

Auch aus Sicht der Geschichtswissenschaft gewinnen neuerdings – nicht zuletzt aufgrund der genannten Filmerfolge – auch fiktionale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an Bedeutung: „Gerade den fiktionalen Darstellungen wird immer mehr Bedeutung zufallen, denn vor allem sie verfügen über die Kraft, Emotionen zu wecken und biographische Bezüge zum Dargestellten zu stiften.“[50]

Diese emotionale Kraft haben die verschiedenen Politikergenerationen bis heute weder in der BRD noch in Österreich aufgebracht. Es gelingt ihnen noch nicht einmal, sich über eine angemessene künstlerische Repräsentation zu einigen. Desto wichtiger sind gerade die Skandale und Konflikte um die Erinnerungs- und Deutungskulturen, weil sie Bedingung dafür sind, „[…] daß die Geschichte im allgemeinen und die Erinnerung an den Nationalsozialismus im besonderen auch zukünftig nicht in toten Ritualen aufgehoben werden.“[51]

Das Problem wird vielleicht noch deutlicher, wenn man sich weitere Zahlen vor Augen führt: „Im Januar 2000 wollten 59 % der Westdeutschen und 53 % der Ostdeutschen einen Schlußstrich unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ziehen.“[52] 1991 stimmten 33,2% aller Deutschen der Aussage zu: „Unter der Nazi-Herrschaft hatte die Deutschen selbst am meisten zu leiden“[53], und 53% der Deutschen ärgern sich, wenn man ihnen noch heute die Verbrechen der Nazis vorwirft.[54] Verdrängt und verleugnet aber wurden und werden keineswegs die NS-Zeit insgesamt, sondern nur ihre problematischen Teile.[55]

Es liegt nahe, den Überdruss an der nationalsozialistischen Vergangenheit auch auf ein Übermaß an schlechter Erinnerungsarbeit, an leere Rituale und angestrengte „political correctness“ vor allem gegenüber Juden zurückzuführen. Thomas Bernhards Stücke sind hochaktuell, indem sie nicht nur das „Beschweigen“ auf höchstem künstlerischen Niveau thematisieren, sondern es dem Autor mit ihnen darüber hinaus gelungen ist, das Publikum und die gesamte deutschsprachige Öffentlichkeit in seine perfekten Inszenierungen von Erinnerungspathologien einzubeziehen.

Nach der Lektüre des Manuskripts von „Heldenplatz“ notierte sein Verleger Siegfried Unseld 1988: „Thomas Bernhard benützt den Vorgang, um zu sagen: es gibt heute ebensoviele Antisemiten und Nazis wie damals, aus allen Löchern kriechen sie. Und dann seine Suada gegen Politiker, Kirchenleute, Geschäftsleute, alles Schweine. Ich werde mit Bernhard reden müssen.“[56] Unseld ließ die Korrekturfahnen dem juristischen Berater des Suhrkampverlages Rechtsanwalt Ferdinand Sieger zukommen. Dieser fand nicht „viel Riskantes und daher Korrekturbedürftiges“. Das Stück bewege sich großteils im „Freiraum“ der „Werturteile und Meinungsäußerungen“; problematisch fand Sieger, dass der Direktor der Natiokalbibliothek als „schauerlicher Idiot“, der Bundespräsident (Waldheim) als „Lügner“ bezeichnet wurde und dass Bernhard formuliert hatte, dass der Bundeskanzler „noch immer mit dem Analphabetismus“ ringe.

Im April 1988 wies Unseld den Autor auf die offenbar auf Siegers Gutachten zurückgehenden Bedenken und die drohende Gefahr der Beschlagnahme des Buches hin: Allgemeines wie „Graz, das Nazinest“, „Österreich der gemeingefährlichste aller Staaten…wo die Schweinerei oberstes Gebot ist, Gewerkschaftsführer in skrupellosen Bankgeschäften“ möge noch angehen, aber Beleidigungen von Bundeskanzler, Bundespräsident und ursprünglich der Direktor der Nationalbibliothek gingen nicht. Sieger hatte in seinem Gutachten unter anderem geschrieben: „Ein Lügner ist nach der juristischen Terminologie nur derjenige, der bewußt die Unwahrheit sagt. Wenn ich den Bericht der Historikerkommission und die Presseinformationen richtig im Kopf habe, so hat zwar der Bundespräsident Waldheim die Unwahrheit gesagt, sich dafür aber auf Mängel im Erinnerungsvermögen bezogen. Ironisch anzumerken, daß Waldheim sich an seine Vergangenheit nicht erinnern kann, ist rechtlich unbedenklich, ihn ,Lügner‘ zu nennen ist angreifbar solange, als der Nachweis bewußter Falschaussagen nicht erbracht ist. Wenn feststeht, daß der Bundeskanzler an der Börse spekuliert, ist das Adjektiv ,pfiffig‘ nicht angreifbar.“[57]

Bernhard, der sich auf keine Diskussion mit Unseld einließ, schien dann einzulenken, strich die beanstandeten Zeilen, um in der Folge mit Ausnahme des Direktors der Nationalbibliothek, der gestrichen blieb, die Diktion noch zu verschärfen: der Bundespräsident wurde nun als „verschlagener, verlogener Banause“ und der Bundeskanzler weiterhin so wie bisher bezeichnet. Vergleicht man die verschiedenen Fassungen vor und nach den Lektoraten und vor allem mit dem juristischen Gutachten Siegers, so gewinnt man den sicheren Eindruck, dass Bernhard diese verlagsinternen Reaktionen zu Erweiterungen und geschickte Verschärfungen zu nutzen wusste: Graz als Nazinest, der Direktor der Nationalbibliothek als „Untermensch“, der Kanzler ein „pfiffiger Börsenspekulant“; die Engstirnigkeit der Österreicher wird durch Zusatz ihrer „Gemeinheit“ und der Text insgesamt durch die Parallelität „total verkommener Sozialismus / total verkommenes Christentum“ erweitert. Schließlich noch eine längere neue Passage: „In diesem fürchterlichsten aller Staaten / haben Sie nur die Wahl zwischen schwarzen und roten Schweinen / ein unerträglicher Gestank breitet sich aus / von der Hofburg und vom Ballhausplatzz / und vom Parlament / über dieses ganze verluderte und verkommene Land / Das hat er nicht mehr ausgehalten / unser unglücklicher Bruder / Da aber alle Österreicher unglücklich sind.[58]

Retrospektiv ist die in dieser Edition eindrucksvoll und zutreffend dargestellte Rezeption durch Aufführung und Medien, der Heldenplatz-Skandal, ein Paradigma für einen durch Vorausberichte, Kommentare und Reaktionen sich entwickelnden „österreichischen Kulturkampf“.[59] Dessen Verlauf ist hier ebensowenig nachzuzeichnen wie die Entwicklung des Stückes zum Burgtheaterklassiker oder die Forschungsliteratur.[60]

Wenn es hier um Pathologien der Erinnerung, um die „zweite Schuld“, ums Verdrängen, Verleugnen und Beschweigen geht, wenn die Diagnose der pathologischen gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen zur Debatte steht, dann kann ein bislang wohl gänzlich unbekanntes, wenn auch kleineres, aber bemerkenswertes Moment im Ablauf der Ereignisse nicht unerwähnt bleiben. Es ist die Rolle und Funktion des juristischen Gutachters, der für den Suhrkamp Verlag die rechtlichen Risiken des Stückes zu überprüfen hatte und ein Votum für Änderungsvorschläge ablieferte. Ferdinand Sieger, sachkundiger Stuttgarter Rechtsanwalt und prominenter Berater vieler Verlage nach 1945, die sich im Verband schöngeistiger und wissenschaftlicher Verleger zusammengeschlossen hatten, konnte, wenn man seiner Dissertation aus den 1930er-Jahren des 20. Jahrhunderts folgt, auf eine spezifische Kenntnis einer nationalsozialistischen Vergangenheit zurückgreifen. Seine urheberrechtliche Kölner Dissertation aus dem Jahre 1936 ist nach seiner Wortwahl, Diktion, nach seinem Inhalt und seiner Tendenz dem Gedanken verpflichtet, dass das Führerprinzip, die Volksgemeinschaft der Gefolgschaftsmitglieder, die völkische und gemeinschaftsbetonte Seite dem Urheber-Persönlichkeitsrecht, dem „droit moral“ und dem Urheber-Verwertungsrecht einen ganz neuen Sinn verschaffe, in dem das Recht „nichts als Gemeinschaftsordnung“ sei und eine Aufspaltung der verschiedenen Rechtspositionen als „liberalistische“ eines „Rechtskomplexes“ unmöglich sei. Sieger schrieb etwa: „Folgerichtig verflüchtigt sich im Expressionismus, Kubismus, Futurismus der Inhalt bis zur völligen Unkenntlichkeit oder Inhaltslosigkeit, und löst sich die Form in ein Durcheinander von Bruchstücken, geometrischer Figuren gestammelter Worte, unzusammenhängender Klangfetzen auf: Das Recht weist die Kunst auf den Weg der Selbstzersetzung. – Vollkommen irrig ist daher die gefährliche These, der Rechtschutz müsse sich ,im Interesse der Allgemeinheit‘ auf die Form beschränken, damit sich der Inhalt als das Wichtigere frei in der Allgemeinheit verbreiten und entfalten könne. Eine solche These verrät noch starke Befangenheit in liberalistischem Denken. […] Gerade der Rechtsschutz dient doch der Gemeinschaft, ist um der Gemeinschaft willen da. […] Wenn erkannt ist, dass die Volksgemeinschaft am Inhalt eines Kunstwerkes ein besonderes Interesse hat, dann muss der Inhalt besonders geschützt werden, damit er der Volksgemeinschaft unverfälscht in seiner ganzen gemeinschaftsbildenden Kraft zugehen kann. […] Die für liberalistisches Denken typische Atomisierung und Autonomisierung willkürlich verselbständiger Teilwerte lieferte derartige Rechtsbegriffe, die für ein liberalistisches Rechtssystem unbrauchbar und für unser neues Rechtsdenken untragbar sind. Das neue – praktisch brauchbare – Kulturrecht muss dem neuen Kulturwillen, dem neuen Gemeinschaftsdenken entsprechen.“[61]

Das Recht wird hier mit Carl Schmitt und Reinhard Höhn als Ordnung konkreter Gemeinschaften verstanden: „Wesen des Rechts ist vielmehr der immanente Inhalt der naturgeschaffenen Lebensordnungen, Aufgabe des Rechts ist die Zurückführung der Volksgemeinschaft auf die Grundlagen ihres rassischen Ordnungswesens.“[62] Zustimmend wird Reinhard Höhn zitiert, wonach Persönlichkeit in einer Gemeinschaft sei, „wer als artgleicher Genosse in der Lage ist, im Geiste der Gemeinschaft zu handeln und der Gemeinschaft richtunggebend voranzugehen“.[63] Auch der Führer stehe in der Gemeinschaft. Er vollziehe, wie Höhn hier zitiert wird, als aktivster artgleicher Genosse die Funktionen für die Gemeinschaft. „Recht eines Volkes ist also die natürliche Lebensordnung einer Volksgemeinschaft, wie sie dieser in Gestalt der natürlichen Lebensordnung unterer konkreter Gemeinschaften von diesen konkreten Gemeinschaften zugetragen wird.“[64] Die Kultur wird durch ihren völkischen Zweck definiert.[65] Kultur und Kunst hätten die Aufgabe, die gesunde Volksgemeinschaft herauszustellen. Gemeinschaftsbindung ist das künstlerische Prinzip. Unter Bezugnahme auf Hitler und Rosenberg wird der deutsche Kunstbegriff definiert.[66] Wenn man bestimmte Malerei und Musik verlange, so setze man den jeder germanischen Kunst eigenen rassischen Gehalt schon voraus.[67]

Wie Thomas Bernhard diesen Befund aufgenommen hätte, ist vermutlich leicht zu denken. Dass er sich ausgerechnet im Zusammenhang der juristischen Begutachtung mit einem Stück ergeben hat, das sich mit der Auseinandersetzung Österreichs mit seiner NS-Vergangenheit befasste, hätte ihn vermutlich weder verwundert noch seine Sicht der Historie oder ihrer Protagonisten grundlegend verändert. Solche „Begegnungen“, wie sie sich in den Jahrzehnten nach 1945 häuften, ohne dass Betroffene von der Vergangenheit des oder der anderen eine Kenntnis oder Ahnung hatten, sind symptomatisch für eine Gesellschaft, in der die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von vielen Personen so problematisch war, dass sie sich namentlich im Werk eines Autors wie Bernhard manifestierte. Thomas Bernhards Dramen haben dazu sich nicht auf eine Diagnose pathologischer Persönlichkeits-, Gesellschafts- und Kommunikationsstrukturen beschränkt, sondern Publikum und Öffentlichkeit in die sprachliche Verarbeitung und Inszenierung von Pathologien der Erinnerungskultur auf eine wiederum bezeichnende und unnachahmliche Art und Weise aktuell in Wirkung, Rück- und Nachwirkung so einbezogen, dass auch diese Vorgänge vor und nach Erscheinen von Aufführung und Werk das den Autor bewegende Thema zugleich repräsentierten. Erinnerungspathologie als Teil von aktueller „Normalität“ – das bezieht auf dramatische, als skandalös empfundene Art und Weise die „gesellschaftliche Funktion des Nichtwissens“ (Heinrich Popitz) mit ein und erweist sich als Paradigma für ein von Siegfried Kracauers abgewandeltes Wort von der „Koexistenz des Gleichzeitigen und Ungleichzeitigen“.[68]

III. Schluss

Thomas Bernhards Bezug auf den Nationalsozialismus in früheren Werken ist mehrfach untersucht[69] worden. „Das Aufrüttelnde dieser ,Wahrheit als Lüge‘ markiert den qualitativen Wert der Bernhard’schen Erinnerungsliteratur“, schreibt Jan Süselbeck.[70] Die Einsicht in die Unzulänglichkeit der eigenen Andeutungen schlage auch auf die angeblich objektivere Historiografie zurück, so Bernhard „weil es die Gewohnheit ist, die Geschichte zu verfälschen und als gefälschte Geschichte weiterzugeben, wo wir doch wissen, dass die ganze Geschichte nur eine verfälschte und immer nur als verfälschte Geschichte weitergegeben worden ist.““[71] Süselbeck hat dabei die Sonderrolle Thomas Bernhards innerhalb der österreichischen Nachkriegsliteratur betont und den appellativen, provokatorischen Charakter seiner Dramen „im Bereich der Erinnerung an den Nationalsozialismus und der Aufdeckung eines Fortbestehens antisemitischer wie rassistischer Grundhaltungen in der Gesellschaft“ als zentral benannt.[72]

Thomas Bernhard hat die Pathologie der gestörten Erinnerung, die Amnesie, die gestörte Kommunikation über die nationalsozialistische Vergangenheit in Deutschland und Österreich als Thema auf die Bühne gebracht.[73] Das ist – im Gegensatz zum Burgtheaterpublikum[74] – nur von wenigen „Kritikern“ verstanden worden. Für das Publikum der Medienskandale, aber selbst für Angehörige der kulturellen Eliten, die sich der Erinnerungsarbeit bewusst oder unbewusst verweigern, sind die Texte von Bernhard bisher weder verständlich noch akzeptabel gewesen. Darin manifestiert sich ein Widerstand gegen unangenehme Einsichten, die durch die Texte nicht direkt, aber eben umso wirksamer angesprochen, an verborgene Emotionen, die angerührt und zum Ausdruck gebracht wurden. Noch in der Reaktion auf die Stücke wiederholte sich zum Teil jene gestörte, durch partielle Amnesie dominierte Kommunikation über Realität und Schatten der Vergangenheit. Für Menschen, die an Vorurteilen festhalten wollen (oder aus biografischen Gründen in gewisser Weise festhalten müssen), hatten Bernhards Texte in der damaligen Situation wohl eher eine kontraproduktive Funktion, indem sie solche Vorurteile eher verstärken. Das gilt vermutlich in ganz besonderem Maße für weite Teile der österreichischen Öffentlichkeit.

In diesem Zusammenhang gehört ein fast unlösbares Problem, das des „Nicht-vergessen-Dürfens“ und der – analog zur „zweiten Schuld“ – „zweiten Schuldangst“: „Durch die Verbots-/Gebotsfigur des Gedenkens aber wird die Schuldangst, die dem Vergessensbegehren der Deutschen eingeschrieben ist, durch eine zweite Schuldangst, die Angst vor der Vergessensschuld, verdoppelt und verstärkt. Zu dem Vergessenswunsch hinsichtlich der historischen Ereignisse, der psychoanalytisch als Vermeidung von Unlust beschreibbar ist, kommt aufgrund einer derart strukturierten [moralisierenden] Gedenkpolitik ein Widerstand gegen das normative Verbot hinzu, der eine verstärkte Barriere gegenüber dem Vergangenen aufrichtet und die Figur eines Vergessens des Vergessens annimmt.“[75]

Dieses Problem, unter dem er mit Sicherheit selbst gelitten hat, hat Bernhard mit der „Nazisuppe“ in seiner ganzen Ambivalenz auf grotesk-komische Weise benannt und ihm damit den unerträglichen gewordenen, moralischen Zeigefinger genommen. Dieser Befund könnte ein Anlass sein, fiktionale Texte und audiovisuelle Medienprodukte auch als historische Quellen ernst zu nehmen. Von der historischen Fachwissenschaft sind fiktionale Texte oder Filme bisher nämlich kaum einmal als Teil der Geschichtskultur beachtet worden. Ohne Zweifel aber werfen nicht nur die Kontroversen beziehungsweise Skandale um die Theaterstücke Thomas Bernhards, sondern viel mehr die hier behandelten Texte selbst neues Licht auf die deutschsprachige Erinnerungskultur.

Anm. der Red.: Dieser Beitrag erschien ursprünglich als Veröffentlichung von Irmtraud Götz von Olenhusen: „Nazisuppe“ oder: Pathologien der Erinnerung – Thomas Bernhardts Dramen und die Geschichtskultur. In: Franziska Schössler, Ingeborg Villinger (Hrsg.): Politik und Medien bei Thomas Bernhard. Würzburg 2002, S. 230-245.

Er wurde aus Anlass von Rudolf Schönwalds 85. Geburtstag zum 30. Juni 2013 im Text und in den Anmerkungen erweitert und am 30.6.2013 in einem von Britta Schinzel herausgegebenem Privatdruck publiziert. Er ist Rudolf Schönwald gewidmet. In dieser Print-Version wird die Interpretation durch ausführlichere Zitate aus Bernhards Werk noch umfänglicher und genauer belegt als in der vorliegenden Version.

[1] Zitiert nach Sigmund Freud, Tagebuch 1929-1939. Kürzeste Chronik. Herausgegeben und eingeleitet von Michael Molnar, Freud Museum London, Basel, Frankfurt/Main 1996, S. 408.

[2] Neue Freie Presse (Abendblatt) vom 12.3.1938.

[3] Zu solchen Fehlurteilen neigt Bernhard Sorg, Thomas Bernhard, München 21995; ein besonders eklatante Fehlinterpretation von Vor dem Ruhestand und Heldenplatz findet sich ebd., S. 170f.

[4] Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall, Frankfurt/Main 1985, S. 291.

[5] Steffen Vogt, Trauer und Identität. Erinnerung bei Thomas Bernhard und Peter Weiss. In: Joachim Hoell/Kai Luehrs-Kaiser (Hrsg.), Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten, Würzburg 1999, S. 35.

[6] 1959 habe er z.B. in dem Prosawerk In der Höhe „das Grauen der NS-Vernichtungspolitik […] zum Gegenstand einer auf mimetische Abbildung zielenden Darstellung“ gemacht. Ebd., S. 35.

[7]Vor dem Ruhestand (1979) – inspiriert von der Vergangenheit des damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Karl Filbinger, der als Marine-Richter Todesurteile verhängt hatte – bleibt hier ausgeklammert, weil es dort nicht in erster Linie um die Erinnerung der NS-Zeit geht, als vielmehr darum, dass die alten Nazis sich nicht geändert haben.

[8] Vgl. z.B. Alexandra Millner, Theater um das Burgtheater. Eine kleine Skandalogie. In: Wendelin Schmidt-Dengler/Johann Sonnleitner/Klaus Zeyringer (Hrsg.), Konflikte – Skandale – Dichterfehden in der österreichischen Literatur, Berlin 1995, S. 248-266, Oliver Bentz, Thomas Bernhard – Dichtung als Skandal, Würzburg 2000, darin: Kap. IV. Nachspiel, S. 98-105. Eine Auswahl von Presseartikeln ist abdruckt in: Burgtheater (Hrsg.), Heldenplatz. Eine Dokumentation, o. O., o. J. [Wien 1989 ].

[9] Der Beitrag von Renate Hörlezeder/Fritz Mühlbek/Andreas Nowak, Die Erregungskurven. Eine empirische Untersuchung zur Resonanz Bernhards in deutschsprachigen Printmedien 1963-1992. In: Wolfram Bayer (Hrsg.), Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa, Wien, Köln, Weimar 1995, S. 229-238, dem immerhin 7.882 Berichte (Rezensionen, Theaterkritiken, Ankündigungen, Interviews etc.) zugrundeliegen, ist leider rein quantitativ angelegt; wir erfahren nicht viel mehr, als z. B. daß der Medienskandal um Heldenplatz im Oktober 1988 seinen Höhepunkt erreichte und daß 1988/89 die meisten Berichte über Thomas Bernhard erschienen sind, was anlässlich des genannten Skandals und seines bald darauf erfolgten Todes nicht weiter verwundert.

[10] Gesine Schwan hat eindringlich gezeigt, wie die „beschwiegene“ NS-Vergangenheit zu einem Klima der Gefühlskälte in deutschen Familien geführt hat. Dadurch sind und waren auch die folgenden Generationen (auch die 68er) pathologisch affiziert. Vgl. Gesine Schwan, Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, Frankfurt/Main 1997, hier v.a. Kap. V.: Psychische und soziale Folgen des Beschweigens, S. 124-163.

[11] Vgl. dazu Gregor Dill, Nationalsozialistische Säuglingspflege. Eine frühe Erziehung zum Massenmenschen, Stuttgart 1999, der leider nur die Rahmenbedingungen nationalsozialistischer Säuglingserziehung darstellt, nicht aber ihre psychosozialen Folgen, keine Vergleiche mit anderen Ländern und auch nicht die Kontinuitäten seit der „schwarzen Pädagogik“ der Aufklärungszeit.

[12] Martin Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt/Main 1993.

[13] In: Thomas Bernhard, Der deutsche Mittagstisch. Dramolette, Frankfurt/Main 1988, S. 109-114.

[14] Ferdinand van Ingen, Thomas Bernhard. Heldenplatz, Frankfurt/Main 1996, S. 22.

[15] Der Ablauf des „Heldenplatzskandals“ folgt den bekannten Gesetzen des Skandals bzw. der Skandalisierung. Vgl. dazu Andrei S. Markovitz/Mark Silverstein, Macht und Verfahren. Die Geburt des politischen Skandals aus der Widersprüchlichkeit liberaler Demokratien. In: Rolf Ebbighausen/SighardNeckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt/Main 1989, S. 151-170.

[16] Wochenpresse, 4.11.1988, zit. nach Eckhard Gropp, Thomas Bernhards „Heldenplatz“ als politisches Theater. Postmoderne im Deutschunterricht, Bad Honnef 1994, S. 60f.

[17] Am 1. August und am 19. September berichtete Sigrid Löffler in ihrem Wochenmagazin profil über das Stück und zitierte die unten in der Tabelle aufgeführten, provokanten Äußerungen handelnder Personen, ohne sie in den Zusammenhang der Handlung zu stellen. Vgl. dazu ausführlich Millner, Skandalogie (zit. Anm.8), S. 5.

[18] Millner, Skandalogie, (zit. Anm. 8), S. 253.

[19] Alfred Kolleritsch, Seine gnadenlose Liebe zu Österreich. In: Der Standard vom 17.2.1989, zit. nach Bentz, Skandal (zit. Anm. 8), S. 101f.

[20] Günther Nenning, Eine Enterbung im Versmaß. Thomas Bernhard provoziert die Österreicher noch posthum. In: Die Weltwoche vom 23.2.1989, zit. nach Bentz, Skandal (zit. Anm. 8), S. 103.

[21] Sigrid Löffler, Das Werk hat ja auf wunderbare Weise triumphiert. In: Maria Fialik (Hrsg.), Der konservative Anarchist. Thomas Bernhard und das Staatstheater, Wien 1991, S. 21.

[22] Millner, Skandalogie (zit. Anm. 8), S. 253.

[23] Ebd., S. 258

[24] Sighard Neckel, Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals. In: Anatomie des politischen Skandals, S.69 , zit. nach Millner, Skandalogie (zit. Anm. 8), S. 252.

[25] Sigrid Löffler, Profil Nr. 4, 17.10.1988.

[26] Klaus Nüchert, Heldenplatz: in: Forum, 35. Jg., 16.12.1988, zit. nach Millner, Skandalogie (zit. Anm. 8), S. 252.

[27] Vgl. Joachim Hoell, Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard, Berlin 2000, der die hier behandelten Stücke nur am Rande erwähnt.

[28] Das betont auch Johann Sonnleitner, Heldenplatz und die Folgen: 1938-1988. In: Wendelin Schmidt-Dengler (Hrsg.), Der literarische Umgang der Österreicher mit Jahres- und Gedenktagen, Wien 1994, S.110-124. Zur Funktion der Orte für die Erinnerung bei Thomas Bernhard und zur Frage des Gelingens seiner Trauerarbeit in „Auslöschung“ vgl. Vogt, Trauer und Identität (zit. Anm. 5), S. 39-48. Auf die pointierte Erwähnung von Graz und Linz in „Heldenplatz“ können wir hier nicht eingehen, wollen sie aber als zentrale Bernhard’sche Erinnerungsorte nicht unerwähnt lassen.

[29] Ulrich Herbert, Drei deutsche Vergangenheiten. Über den Umgang mit der deutschen Zeitgeschichte. In: Arndt Bauerkämper/Martin Sabrow/Bernd Stöver (Hrsg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990, Bonn 1998, S. 379.

[30] Thomas Bernhard, Heldenplatz, Frankfurt/Main 1988.

[31] Bei Frau Schuster handelt es sich wohl um ein sog. getriggertes Erinnern in Form von akustischen Flashbacks. Sie weiß um diesen Zusammenhang und will unbedingt nach England zurück. Ihr Ehemann Prof. Schuster kann die Symptome nicht verstehen oder gar die Rückkehr ins Exil auch nur erwägen; die Fortführung seiner akademischen Karriere in Wien hat für ihn absolute Priorität. Auf die in Österreich besonders ausgeprägte Form der Geschichtspolitik – das Beschweigen der Kollaboration mit den Nazis – kann hier nicht näher eingegangen werden.

[32] Andreas Langenohl, Erinnerung und Modernisierung. Die öffentliche Rekonstruktion am Beispiel des Neuen Rußland Erinnerung, Göttingen 2000, S. 26f.

[33] Dina Wardi, Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust. Psychotherapie mit Kindern von Überlebenden, Stuttgart 1997, S. 11.

[34] Dirk Jürgens, Das Theater Thomas Bernhards, Frankfurt/Main 1999, S. 232.

[35] Ruth A. Starkman, Beautiful Theory and Unaestetic States: Fascism and the Theater of Thomas Bernhard, Diss. State University of New York at Buffalo 1991, S. 141f.

[36] Klaus Theweleit, Memory Pictures. Über die deutsche Art (k)ein Gedächtnis zu haben & über Erinnerungsarbeit bei Marcel Ophuls, Claude Lanzmann, Marguerite Duras und Tim O’Brien. In: Ders., Das Land das Ausland heißt. Essays, Reden, Interviews zu Politik und Kunst , München 1995, S. 138.

[37] Im folgenden Langenohl, Erinnerung (zit. Anm. 31), der im ersten Teil seiner Arbeit (S. 21-131) „Elemente einer Modernisierungstheorie kollektiver Erinnerung“ entwickelt.

[38] Ebd., S. 49.

[39] Ebd., S. 48.

[40] Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 11.

[41] Marcel Reich-Ranicki, Sein Heim war unnatürlich, Rede auf einer Veranstaltung Thomas Bernhard zu Ehren im Schauspielhaus Frankfurt am 11. Februar 1990 aus Anlaß des ersten Todestages. Zuerst gedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Februar 1990, hier zitiert: Ders., Thomas Bernhard, Zürich 1990, S.90.

[42] In anderem Zusammenhang hat Jürgens, Theater (zit. Anm. 33), S. 198 dies ebenfalls betont.

[43] Ebd., S. 121.

[44] Felix Philipp Lutz, Das Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Grundlagen der politischen Kultur in Ost und West, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 106. Bei Lutz finden sich weitere differenzierte, wenn auch unübersichtliche Daten zur Verdrängung und Relativierung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.

[45] Ebd. S. 122.

[46] Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein, Hamburg 1987.

[47] Zu dieser Kontroverse („Verschweigen/Verdrängen“ versus „Übermaß an Erinnerungsarbeit“) vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 9-11 u. 19-21.

[48] Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein. In: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 580-599, hier S. 594.

[49] Frei, Vergangenheitspolitik (zit. Anm. 46), S. 15.

[50] Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, hier: Teil II (Ute Frevert), S. 286.

[51] Ebd., S. 292. Aus der inzwischen fast unüberschaubaren Literatur zum Forschungsfeld „Erinnerungskultur“ verweisen wir hier lediglich auf die Arbeit von Mathias Berek, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Erinnerungskulturen 2009.

[52] Lutz, Geschichtsbewußtsein (zit. Anm. 43), S. 111.

[53] Ebd., S. 109.

[54] Ebd., S. 155.

[55] Ebd., S. 119.

[56] Zitiert nach Thomas Bernhard: Dramen VI. Hrsgg. von Martin Huber und Bernhard Judex, Berlin 2012, Editorische Vorbemerkung, S. 343ff., 380.

[57] Schreiben Ferdinand Sieger v. 01.03.1988 an Suhrkamp Verlag Sekretariat Dr. Siegfried Unseld, Frankurt a.M. Wir danken dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem Thomas-Bernhard-Archiv, Gmunden, dass wir aus diesem Schreiben zitieren dürfen, das uns durch Dr. Bernhard Judex insgesamt in Kopie überlassen worden ist.

[58]Zit. nach ebd. S.420 f. Siehe dort S.442-422 auch die unterschiedlichen Varianten, z.B. „Die Österreicher insgesamt als Masse“ sind heute ein brutales und dummes Volk“, der Bundeskanzler als „pfiffiger Staatsverschacherer“, der Bundespräsident als verschlagener Banause und alles in allem deprimierender Charakter, die Politiker, die das Land ausgepreßt,  zerstört, entstellt, vernichtet haben, der Bundeskanzler als Vorstadtpopanz und Karikatur eines Sozialisten.

[59] Siehe ebd. S.389.Siehe ferner Heldenplatz. Eine Dokumentation. Wien: Burgtheater 1989; Haus Höller: Thomas Bernhard. Reinbek 1993, S. 9 ff.

[60] Dazu ausführlich Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche – Werk – Wirkung. München 2010,S.133 ff.

[61] Ferdinand Sieger, Die künstlerische Entlehnung im neuen deutschen Urheberrecht. Diss. jur. Köln 1936. Köln: Orthen 1936, S. 11. Knappe Angaben zum Lebenslauf (geb. 1912) am Schluss der gedruckten Diss. Zum Lebens- und Berufslauf nach 1945 siehe J. Becker in: ZUM 1992, 198-199.  Sieger hat sich im Kontext der Diskussionen um Werke von Joseph Goebbels und die vom rechtsradikalen François Genoud beanspruchten Mitspracherechte an der Debatte beteiligt, bei der es um Urheberrechte ehemaliger NS-Führer und die Hemmnisse zeitgeschichtlicher Forschungs- und Publikationsfreiheiten ging. Siehe dazu Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.): Wissenschaftsfreiheit und ihre rechtlichen Schranken. München, Wien 1978, dazu Martin Broszat in der Einführung S. 7, Sieger mit einem Beitrag zur Problematik des Persönlichkeitsschutzes bei zeitgeschichtlichen Forschungen und Publikationen, S. 19 ff. Er sprach sich bei der Abwägung zugunsten zulässiger wissenschaftlicher Publikationen aus, a.a.O.. S. 24. Soweit ersichtlich, gibt es in den Nachkriegspublikationen Siegers keinen Hinweis darauf, dass oder wie er seine allgemeinen und speziellen rechtlichen Ausführungen aus dem Jahre 1936 jemals kritisch reflektiert hätte. Zu denkwürdigen Begegnungen des Verlegers Jörg Schröder mit Ferdinand Sieger in Auseinandersetzungen mit dem Versand Zweitausendeins, der von Sieger vertreten wurde, während Schröder u. a. von Guido Lehmbruck, früher Sozius von Sieger, beraten wurde, siehe Jörg Schröder, Barbara Kalender, „Schröder erzählt“: Schlechtenwegen. Augsburg: März-Desktop-Verlag Folge 36, 1999, S. 9-12, 14-18, 27, 28. Dort zitiert Schröder aus der ihm zum Zeitpunkt des Konflikts März/2001/Rowohlt Anfang der 80er noch Jahre nicht bekannten Dissertation Siegers aus dem Jahre 1936. Seine glänzend erzählerisch pointierte Geschichte der Streitigkeiten und der Haltung Siegers deckt sich mit eigenen anwaltlichen Erfahrungen von A.G.v.O. mit Sieger in den 70er und 80er Jahren , dessen Arbeit aus dem Jahre 1936 ihm bereits bekannt war.

[62] Sieger, a.a.O., S. 12, auch unter Bezugnahme auf Gottfried Neesse: Die nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei, Berlin 1935,  S. 27.

[63] Reinhard Höhn: Der Führerbegriff im Staatsrecht. In: Deutsches Recht 1935, S. 297.

[64] Sieger, a.a.O., S. 15. In der Fußnote 34 heißt es dazu: „Genau der gleiche Austausch zwischen oben und unten, genau das gleiche lebendige Geschehen ist bekannt von der nationalsozialistischen Staatslenkungs-Auffassung her, die Partei verdankt dieser Erkenntnis heute und immer ihrer (sic!) Berechtigung.“

[65] Sieger, a.a.O., S. 16. In diesen Abschnitten wird vor allem auch Adolf Hitlers „Mein Kampf“ zitiert.. Die Diss. wurde von Albert Coenders, einem Strafrechtler, und Hans Planitz, Rechtshistoriker, betreut und angenommen. Obwohl beide Ordinarien sich nicht extrem in der NS-Zeit exponiert haben, fällt doch auf, dass sie eine im Vergleich zu manchen anderen Dissertationen dieser Jahre sehr der NS-Rechtswissenschaft verpflichtete urheberrechtliche Arbeit problemlos akzeptiert haben. Vgl. Frank Golczewski: Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus. Personengeschichtliche Ansätze. Köln, Wien 1988. Albert Coenders erhielt neben einigen anderen Professoren 1946 vom Entnazifizierungs-Unterausschuss der Universität Köln zunächst keine Arbeitsgenehmigung, a.a.O., S. 395.

[66] Sieger, a.a.O., S. 18 ff.

[67] Sieger, a.a.O., S. 21. Die von Albert  Coenders und Hans Planitz betreute und akzeptierte Arbeit  (56 S.) ist in den Belegen und Anmerkungen, aber auch im Text, vielfach durchsetzt von Hinweisen auf Werke und Äußerungen von Goebbels, Hitler, Höhn, Krüger, Neesse, Rosenberg, Carl Schmitt u. a.. Der urheberrechtliche Entlehner wird schließlich als „Führer einer neuen Gemeinschaft“ charakterisiert. Das Entlehnungsrecht wird aus einem „Grundprinzip völkischen Rechts“ abgeleitet. Ein gemeinschaftsmäßiges Urheberrecht habe die Zweckgebundenheit aller Kultur an die völkischen Gemeinschaften erkannt.

[68] Sie dazu Siegfried Kracauer: Werke. Band Geschichte – Von den letzten Dingen. Hrsgg. Von Ingrid hBelke unter Mitarbeit von Sabine Biebel, Frankfurt a.M. 2009, S. 394-430.

[69] Siehe Jan Süselbeck: Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt & Thomas Bernhard. Frankfurt a.M., Basel 2006, S. 447 ff.

[70] Süselbeck, a.a.O., S. 478.

[71] Süselbeck, a.a.O., S. 478 f. Zum „Heldenplatz“ siehe Süselbeck S. 482 ff.

[72] Süselbeck, a.a.O.,  S. 493 ff., 496.

[73] Sie dazu Bernhard Judex, Thomas Bernhard. Epoche-Werk-Wirkung. München 2010, S. 133ff., 137ff. mit Nachweisen über einen „der größten Skandale der österreichischen Theatergeschichte“ und die einschlägige Forschungsliteratur. Zur politischen Brisanz siehe auch „Auslöschung“, a.a.O., S. 124: „Nur wenige Monate vor der Veröffentlichung von Auslöschung wurde Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt, obwohl seine NS-Vergangenheit öffentlich bekannt geworden war und für heftige Debatten sorgte.“ Erst zwei Jahre später zeichnete sich „eine wenn auch zögerliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ab“. (S. 137)

Das Stück war in Wien ein großer Erfolg  […], es [sind] 1988/89 55 000 Eintrittskarten verkauft worden, d. h. mehr als für die Zauberflöte und Cosìfantutte.“ (van Ingen, Thomas Bernhard (zit. Anm. 15), S. 62.

[75] Sigrid Weigel, Pathologie und Normalisierung im deutschen Gedächtnisdiskurs. In: Gary Smith/Hinderk M. Emrich (Hrsg.), Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, S. 241-264, hier: S. 249f.