Das Grauen bekämpfen

Über Joanna Bators Roman „Dunkel, fast Nacht“

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joanna Bator ist hierzulande immer noch eher ein Geheimtipp. „Dunkel, fast Nacht“ ist nach „Sandberg“ und „Wolkenfern“ ihr dritter Roman, für den sie 2013 den wichtigsten polnischen Literaturpreis erhalten hat. Bator studierte in Warschau Philosophie und promovierte über Feminismus, Postmoderne und Psychoanalyse. Nach mehreren Jahren als Dozentin für Philosophie, unter anderem in Japan, lebt sie, anders als etwa die berühmteren Philosophen Umberto Eco und Peter Bieri, die ‚auch‘ Romane schreiben beziehungsweise geschrieben haben, seit 2011 als freie Autorin.

Der Plot ihres neuen Romans ist schnell umrissen: Alicja Tabor (der Name ist ein leicht erkennbares Anagramm zum Namen der Autorin), eine Warschauer Journalistin etwa Anfang 40, reist zum ersten Mal seit ihrer Jugend in ihre Heimatstadt Wałbrzych, die ehemalige deutsche Bergarbeiterstadt Waldenburg. Dort will sie für ihre Zeitung über das Verschwinden von drei Kindern recherchieren, das die Öffentlichkeit angesichts einer unfähigen Polizei beunruhigt – erschüttert wäre schon zu viel gesagt angesichts der dort herrschenden Atmosphäre kleinstädtischer Borniertheit, geprägt von desolaten sozialen Verhältnissen, klerikaler Verbohrtheit, reaktionären nationalistischen Phantasmen und allerorts wuchernden Verschwörungstheorien. In dieses ungute geistige Klima taucht Alicja widerstrebend und auf Distanz bedacht ein, stellt sich aber zugleich bewusst ihrer eigenen Vergangenheit. Sie ist, wie sie glaubt, die letzte Überlebende ihrer Familie.

Frühzeitig hatte sie sich, behütet von ihrer acht Jahre älteren Schwester Ewa und so geschützt vor den Nachstellungen einer psychisch schwerkranken Mutter, auch angesichts der Schwäche eines sich in Phantastereien flüchtenden, meist abwesenden Vaters, einen charakterlichen Schutzpanzer zugelegt („Alicja Panzertier“ nannte ihre Schwester sie zärtlich). Dieser Panzer hält sie wiederum davon ab, sich hinzugeben, dauerhafte Bindungen zu Partnern zuzulassen. So betreibt sie einerseits mutig und konsequent die Recherche nach den verschwundenen Kindern, macht sich andererseits nolens volens auf die Suche nach der eigenen frühkindlichen Vergangenheit, wobei ihre Panzerung, ihre Fähigkeit, sich abzukapseln, nur eine scheinbare ist, da sie zu hoher Empathie fähig ist. Vor allem aber ist sie durchlässig für traum- und tranceartige Wahrnehmungszustände, die ihr Einsichten ermöglichen, die allein durch nüchternes Registrieren dessen, was sinnlich erfassbar ist, nicht zu haben sind. Der externe Handlungsbogen – die Aufdeckung des Kriminalfalls, und die biografische Suchbewegung der Ich-Erzählerin Alicja, gespeist durch Erzählungen anderer – überlagern sich und werden in Alicjas Gefühlswelten von Erinnerung, Traum und Trauer entfaltet, miteinander untrennbar verschmolzen. Auf diese Art wird ein Erzählraum mit eigener Logik und imaginärer Kraft entworfen, der sich von der Basis des Krimiplots bis hin zu fast surrealen Momenten von Phantasmen, Märchen und Mythen erstreckt.

Erzählt wird dabei nicht hölzern oder schwerblütig, sondern leichtfüßig, gewissermaßen federnd – die Lektüre bleibt, auch wenn die Handlung sich zum Ende hin fast überschlägt, immer unangestrengt und mühelos. Dazu trägt der ironische Ton bei, den Bator einschlägt, wenn sie das Geschwätz der Leute wiedergibt, die sich in ihrem Gejammer über ihre prekäre Lage – „Früher war sowieso alles besser!“ – allzu leicht nicht nur bei ihrer verehrten Gottesmutter Maria ausweinen, sondern in böses Gewäsch über fremde Mächte verfallen, die das arme polnische Volk ausbeuten. Das geht schon im Zug nach Wałbrzych los: „,Ogottogottogott‘, seufzte die Frau in Leggings noch einmal […]. Lachen beim Schlangestehen für Fleisch für Knochen über GierekGomułka man lebte man wollte träumen und jetzt Beine in den Bauch Martermeinemarter […]. Sie wollen uns zugrunde richten. Das ganze polnische Volk peinigen.“

Selbst die verfluchte kommunistische Vergangenheit erscheint so noch im milden Licht, wo man sich jetzt dem bedrohlichen Wirken blinder Mächte, irgendwelcher „Mossadam Huseins“, ausgeliefert fühlt. Dieses dumpfe Klima bildet nach dem Verschwinden der Kinder den idealen Nährboden für Gerüchte über kinderentführende „Zigeuner“: „Eine große Frau mit Damenbart meinte auf die Frage der Reporterin: ‚Wer sagt denn, dass ein Zigeuner kein Pediphiler sein kann oder wie das heißt?‘“ Die um sich greifende allgemeine Verrohung, die Aggression gegen angeblich Schuldige hat ihre Entsprechung in der Verwahrlosung von Kindern, in zunehmenden Fällen von Tötungen von Katzen und Hunden, schließlich Brandanschlägen auf Tierheime, Straßenschlägereien und offenen Attacken gegen Roma. Ein verwirrter ehemaliger Bergarbeiter beginnt von seinen Marienerscheinungen zu predigen und kommt zu Tode; es entwickelt sich daraus ein schwungvoller Handel mit Reliquien für den Bau einer Statue der „Schmerzensmutter“. „Knochenverkäufer“ treten auf, die ihre Funde von Leichenteilen ermordeter Juden, Sinti und Roma oder von ehemaligen deutschen Einwohnern verhökern. Tatsächlich steht ein Pädophilenring hinter den Entführungen.

Auf die Spitze getrieben wird die paranoide, gewalttätige Stimmung in den Internetforen, in die sich Alicja abends im Haus ihrer Eltern einschaltet und aus der ihr eine derartige Sturzflut aus sexistischen und rassistischen Kommentaren entgegenschwappt, dass es einem die Sprache verschlägt. Joanna Bator hat dazu drei eigene Kapitel mit dem Titel „Schwall“ eingeschoben, in denen Alicja sich Chats aussetzt, in denen sich hyperreaktionäre Halbalphabeten mit ebensolchen Gegnern, die sie als impotente „Katholiban“ beschimpfen, anpöbeln. Der Kontrast dieser drei Einschübe zu Bators eigenem eleganten und dennoch unprätentiösen Stil ist atemberaubend.

Alicja gibt zunehmend ihre professionelle Distanz zu dem Kriminalfall auf und engagiert sich bei der Rettung der Kinder, ja, sie lässt dafür den Plan, eine Reportage zu verfassen, fallen. Sie ist dem Mob und der herrschenden Stimmung in ihrem Kampf aber nicht hilflos ausgeliefert. Es wachsen ihr ständig neue Bündnisgenossen zu, die sie in ihrer Recherchearbeit unterstützen: ein alter, väterlicher Freund namens Albert, der von Zigeunern abstammt und in mehreren Rückblenden seine Lebensgeschichte erzählt und damit auch Alicjas Kindheit weiter aufklärt, fernere frühere Schulkameraden, etwa eine transsexuelle Bibliothekarin oder ein Tierhändler namens Adam, der aber eher eine Art Tier-WG betreibt und diese nur an ausgewählte Kunden verkauft. Schließlich taucht noch ein jüngerer Mann auf, der in irgendeiner Weise ebenfalls an der Aufdeckung der Kindesentführungen arbeitet, aber auch in Alicjas Familiengeschichte verstrickt ist. Zwischen beiden entsteht eine tiefe Nähe. Diesen vier oder fünf Leuten, alle auf ihre Art Außenseiter, wird nun häufig, wenn es für sie gefährlich wird, von alten schrulligen Frauen geholfen, die sich der Pflege streunender Tiere widmen. Das Auftauchen dieser merkwürdigen „Katzenfrauen“ bildet den Kontrast zum Wirken der „Katzenfresser“, als das Ewa der kleinen Alicja das Wirken des Bösen in der Welt erklärt hat – dieser Mythos der Katzenfresser findet seine aktuelle Ausprägung im Kindesmissbrauch als womöglich extremster Form von innergesellschaftlicher Gewaltanwendung.

In den Rückblenden, in denen Albert oder auch Adam ihre Geschichten schildern, werden die diversen Erzählstränge miteinander verknüpft und mithilfe durchlaufender Motive wie den Gegensatz von Katzenfressern und Katzenfrauen sowie märchenhafter Momente miteinander verklammert. So spielt etwa die Geschichte einer Fürstin Daisy, die als letzte ihrer Art auf dem Schloss Fürstenberg bei Waldenburg gelebt hat (eine solche Figur gab es tatsächlich) und von der SS drangsaliert wurde, und ihren sagenumwobenen Perlenschatz eine große Rolle und verleihen der Handlung einen immer magischeren Charakter, etwa als unterirdische Gänge und Zauberspiegel ins Spiel kommen. Alicja fühlt sich zunehmend wie „durch eine feine Schicht von der Wirklichkeit getrennt“. Während einer Massendemonstration, in der sich die Hetzparolen aus den Internetforen in der Wirklichkeit entladen, kommt es zu einem an Quentin-Tarantino-Filme erinnernden, fast slapstickartigen Showdown mit Verfolgungsjagden, die eher an Wettrennen erinnern. In diesen gelingt es Alicja und ihren Verbündeten schließlich, die Bösen – die Mutter eines romanschreibenden Muttersöhnchens und einen falschen Propheten, der den Marien- und Märtyrerwahn zur persönlichen Bereicherung nutzen will – zur Strecke zu bringen. Der eigentliche Drahtzieher des Pädophilenringes, ein chamäleonartiger, permanent die Erscheinung wechselnder Jedermann, kann indes entkommen.

Der Zunahme der fantastischen, ja schauerromanartigen Momente entspricht, dass die gewöhnliche Zeitenfolge durcheinandergerät. Schon als Alicja das Haus ihrer Kindheit betritt, kommt es ihr vor, als verhakten sich die Zeit des Hauses, in dem die Geister der Toten spürbar sind, und ihre eigene verdrängte, traumatische Vergangenheit. Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden, wie ihr Vater Alicja nach Ewas Selbstmord (im Alter von 17 Jahren) gesagt hat, sondern „läuft einfach immer weiter, immer in dieselbe Richtung, wie ein Fluss.“ Aber nicht wie ein einfacher ruhiger Strom, sondern eher mit Staus, Katarakten, Seitenarmen, das heißt indem sich Vergangenheit und Gegenwart übereinanderlegen und mitunter gar zu verwirren scheinen. Von Ewas früherem Freund Dawid, der Alicja noch seine Version der Liebesgeschichte mit Ewa erzählt hat, wird gegen Ende des Romans gesagt, dass er schon seit 20 Jahren tot sei. Selbst die Freunde, die an ihrer Hilfsaktion teilnehmen, bleiben bis zum Schluss leicht rätselhaft, so füttern sie die Protagonistin zwischendurch – zur Beruhigung – gar mit Marihuanaplätzchen. Während sich Alicja also zunehmend in einer surrealen Sphäre bewegt, zum Beispiel findet sie Pfotenabdrücke riesiger Katzen, und man sich als Leser zunehmend in einem Schauer- oder Kolportageroman wähnt, kommen dennoch schonungslos alle Gräuel der Geschichte und ihr Fortwirken in gegenwärtigen Formen von Hass, Verfolgungswahn und Gewaltausbrüchen in den Fokus. Die Parallelen zu xenophoben Erscheinungen wie Pegida oder die Attacken auf Flüchtlingsheime in Deutschland liegen auf der Hand.

Alicja wendet den Blick von all diesem Unheil nicht ab, sondern hält ihn aus und bekämpft ihn nach Kräften. Bator sorgt durch offenkundige Übertreibungen und ironische Distanzierungen für ein ästhetisches Gegengewicht. Gegen Ende des Romans heißt es „Ein so schweres Schweigen kehrte ein, dass selbst der Zeiger der Wanduhr sich nur mühsam voranschleppte, als wäre das Uhrwerk in zähe Gelatine getaucht.“ Gegen den Mehltau der drückenden Verhältnisse steht damit nicht einfach eine schöne Metapher, sondern in der Eleganz von Bators Stil liegt eine Schönheit, die den Gräueln abgerungen werden musste, um sie überhaupt aushaltbar zu machen. Dafür gibt es natürlich Grenzen. Als eines der ermordeten Mädchen in einer Badewanne gefunden wird, heißt es nur knapp „Es war nackt, die Unterarme fehlten.“ Hier endet jede Ästhetik, das Grauen dringt direkt ins Hirn.

Gerade in der überbordenden Phantasie der großen Schwester mit ihren blühenden Sprachbildern liegt aber etwas, das über alle schwarze und graue Realität hinausgeht. „Ektoplasma“, flunkert sie ihre kleine Schwester an, ist die Substanz, aus der Geister gemacht sind, eine Mischung aus Kohlenstaub und Tränen. Und Liebe, erklärt Ewa Alicja, „ist, als hättest du Licht getrunken.“ Überhaupt steht die anrührende Art, in der Ewa ihre kleine Schwester zärtlich und beschützend umsorgt, für etwas sehr Kostbares, das durch Ewas Tod nicht verlorengegangen ist. Am Ende, nachdem Albert Alicja die Schlüsselszene ihrer traumatischen Kindheit offenbart hat, kommt es zu einer Versöhnung mit ihrer noch lebenden dementen, verstummten Mutter, die in einem Pflegeheim vor sich hin dämmert. Alicja nimmt, von Wałbrzych ans Meer fahrend, eines der Mädchen mit sich, das sie vor den Entführern retten konnte und dem sie damit einen Wunsch erfüllen kann. Mit dieser Rettung und der Übernahme von Verantwortung sucht sie einen Weg, ihr Schuldgefühl, bei Ewas Tod zu spät gekommen zu sein, abzulegen und damit auch das Gefühl, Ewas Leben nachleben und unausgesetzt betrauern zu müssen, ins Positive zu kehren, indem sie Ewas Rolle ihr gegenüber selbst einnimmt. Die Toten sind dann nicht tot, wenn wir ihren Faden fortspinnen, aber sie können dann ruhen.

Es bleibt zu hoffen, dass Joanna Bator mit diesem Roman ein wirklicher Durchbruch in Deutschland gelingt. Ihre Mischung aus nüchternem und doch ironischem Blick auf die Wirklichkeit verbunden mit subtiler psychologischer Schilderung und historischem Tiefgang, geschildert mit Mitteln des magischen Realismus, ja der Schauerromantik, und vor allem hohem sprachlichen Feingefühl, funkelnd von poetischen Glanzlichtern, ist etwas, das man in der deutschen Gegenwartsprosa nicht häufig findet.

Titelbild

Joanna Bator: Dunkel, fast Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Lisa Palmes.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
512 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424971

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