Schnittstelle Ich

Kein Ego-Trip: Barbara Kuhns Sammelband zu Selbstbildern in Literatur, Kunst und Philosophie trägt zum Dialog der Disziplinen bei

Von Stephanie BremerichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephanie Bremerich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sammelbände haben ihre Tücken – vor allem, wenn sie auf Tagungen zurückgehen, die einen interdisziplinären Anspruch erheben. Wenn es schlecht läuft, tut sich hinter einem vollmundigen Titel dann ein buntes Allerlei an Texten auf, die nur lose mit dem Oberthema verbunden zu sein scheinen und stattdessen jeweils ihr eigenes Süppchen kochen. Das hat viel mit den Funktionsweisen des Wissenschaftsbetriebs zu tun (etwa der Drittmittelfähigkeit bestimmter Buzzwords, dem Agenda-Setting von Turns und Themen, dem Gesetz des ‚publish or perish‘ oder dem ‚Ruf nach Interdisziplinarität‘ in den Geisteswissenschaften), die an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden sollen. Von Interesse ist hier der andere Fall: Wenn es nämlich gut läuft, kann ein Sammelband tatsächlich zum Dialog zwischen den Disziplinen und ihrer ‚wechselseitigen Erhellung‘ beitragen.

Ein solcher Fall liegt in einem von Barbara Kuhn herausgegebenen und 2016 im Wilhelm Fink Verlag erschienenen Band vor. „Selbst-Bild und Selbst-Bilder. Autoporträt und Zeit in Literatur, Kunst und Philosophie“ lautet der Titel der Publikation, die sich dezidiert gegen „den vorschnellen Verzicht auf den Blick über den disziplinären Tellerrand“ wehrt. Das weckt Erwartungen, wirft aber auch Fragen auf, enthält der Titel doch gleich mehrere Schlagworte: „Selbstbild“ beziehungsweise „Selbstbilder“, „Autoporträt“, „Zeit“. Deren Verhältnis zueinander erklärt sich keineswegs von selbst und ist zunächst zu untersuchen. Genau das passiert in Kuhns Sammelband, der kunst- und literaturwissenschaftliche sowie philosophische Perspektiven vereint. Im Fokus der 16 Beiträge stehen literarische und bildkünstlerische Selbstdarstellungen, für die Kuhn in Anlehnung an Michel Beaujours „Miroirs d’encre“ (1980) den Oberbegriff ‚Autoporträt‘ vorschlägt – nicht ohne in ihrer anregenden Einführung zugleich eine Problematisierung dieser Begriffsverwendung mitzuliefern, die vor allem im Hinblick auf literarische Werke zwangsläufig metaphorisch ist.

Unweigerlich schließt sich die Frage nach dem heuristischen Mehrwert an, zumal gerade in der Literaturwissenschaft durchaus kein Mangel an Begriffen herrscht, die den verschiedenen Formen literarischer Selbstdarstellungen Rechnung tragen wollen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie die aktuell sehr breit aufgefächerten Forschungsdiskurse zur Autobiografie beziehungsweise Autobiografik, zur Autofiktion oder neuerdings auch zur Automedialität und Autor-Inszenierung zeigen, die eng mit den theoretischen Debatten um ‚Tod‘ und ‚Rückkehr‘ des Autors in der Post(post)moderne sowie dem medialen Wandel und seinen Auswirkungen auf auktoriale Selbstpositionierung verbunden sind. Hinzu kommen Schlagworte wie ‚narrative Identität‘ (Paul Ricœur), ‚Autor-Funktion‘ (Michel Foucault) oder ‚Ego-Pluralität‘ (Foucault), die in der Forschung durchaus uneinheitlich verwendet werden, sowie verschiedene, einander zum Teil diametral entgegengestellte Vorstellungen von ‚(Autor-)Maskerade‘, die vom russischen Formalismus bis zu den Gender Studies reichen. Ganz zu schweigen von ‚Evergreens‘ wie dem ‚impliziten Autor‘ (Wayne C. Booth), der seit den 1960er-Jahren immer wieder zu erbitterten Fehden in der Theorie- und Methodendiskussion führt.

Kann ein Begriff wie ‚Autoporträt‘ da noch zusätzliche Erkenntnisse generieren? Durchaus. Zumindest, wenn man ihn als Schnittstellen-Kategorie benutzt, wie es in Kuhns Band geschieht. Im Autoporträt wird die Wechselwirkung von Bild und Text, Kunst und Sprache, Autobiografie und Selbstbild akut. Es handelt sich um visuelle und textuelle Selbstdarstellungen, die durch einen hohen Grad an Autoreflexivität und Intermedialität gekennzeichnet sowie durch „gemeinsame anthropologische und epistemologische Fragestellungen verbunden“ sind. Damit können sehr unterschiedliche Ausdrucksformen und Textsorten gemeint sein, die von malerischen, fotografischen und performativen Selbstbildern über autobiografische Reflexionen in der Kunstkritik sowie im kunstphilosophischen Essay bis hin zu autofiktiven Rollenspielen im Künstlerroman reichen.

Diese Bandbreite spiegelt sich anschaulich in den Beiträgen des Bandes wider. Sie handeln von „Techniken des Autoporträts“ in der Künstler-Vita des Renaissance-Bildhauers Benvenuto Cellini (Kirsten Dickhaut), von „Zeit und Medienreflexion im Selbstporträt des Siglo de Oro“ (Jutta Weiser), von „(Selbst-)Spiegelungen“ in den kunstkritischen Schriften Michel Leiris’ (Angela Oster), von autofiktiv-intermedialen „Maskenspielen“ bei Michel Houellebecq (Kurt Hahn) sowie von „Autoportraits“ in der französischen Gegenwartsliteratur (Barbara Kuhn) – um nur eine Auswahl zu nennen.

Eine Schlüsselkategorie kommt dabei der ‚Zeit‘ zu. Diese wird bereits in der Autobiographie des 18. Jahrhunderts tendenziell prekär, wie sich anschaulich in der Differenz von erzählendem und erzählten Ich (etwa in Rousseaus „Confessions“) oder dem spannungsvollen Verhältnis von „Dichtung und Wahrheit“ zeigt, das Goethes gleichnamiger Autobiographie programmatisch eingeschrieben ist.

Entsprechend wird die Tendenz zu einer „vitalen Zeitordnung“ als wichtiges Charakteristikum moderner Autobiografik hervorgehoben (vgl. Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000). Das Erinnern und Rekonstruieren des eigenen (nicht immer geraden) Lebenslaufs erweist sich als ein Vorgang, der strukturell den „Akten des Fingierens“ (Wolfgang Iser) – Selektion, Kombination, Selbstanzeige – ähnlich ist. Biografische Referenz wird, ebenso wie die folgerichtige, chronologische Lebensgeschichte, gleichsam ent-selbstverständlicht und damit der kreativen Gestaltung anheimgegeben.

Im Autoporträt kommen weitere Aspekte zum Tragen, die insbesondere die Eigenschaften der zugrundeliegenden Zeichensysteme – Sprache und bildende Kunst – betreffen und ihre Grenzen ausloten. Eine strenge Gegenüberstellung von sprachlich-sequenzieller Zeitkunst und bildlich-simultaner Raumkunst, wie sie Gotthold Ephraim Lessing in seinem „Laokoon“ (1766) vorgeschlagen hat, lässt sich dabei nicht aufrechterhalten. Die Gestaltung von Lebenszeit und das Erleben von Zeitlichkeit treten in ein besonderes Spannungsverhältnis – nicht zuletzt für den Rezipienten.

Als „ästhetische Kategorie“ wird die Zeit von Fabiana Cazzola in den Fokus gerückt, die in ihrem Beitrag die „transitorische, prozessuale und damit zeitliche Eigenschaft“ einer besonders selbstreflexiven Gattung – dem Selbstporträt „im Akt des Malens“ – untersucht. Die Dialektik von Flüchtigkeit und Dauer, Ganzheitlichkeit und Fragment sowie Wiederholung und Archivierung wird in Alma-Elisa Kittners Ausführungen zu Hanna Höchs Collage „Lebensbild“ (1973) und Marina Abramovićs Performance „Biography“ (ab 1992) deutlich. Dabei gelingt es Kittner nicht nur, auf prägnante Weise die Medienspezifik der Werke in den Blick zu nehmen, sondern auch genderkritische Perspektiven zu eröffnen, wie insbesondere ihre erhellenden und instruktiven Ausführungen zu den Foto-Text-Installationen Sophie Calles zeigen.

Freilich: Nicht in allen Beiträgen werden die Schlagworte des Bandes – Zeit und Autoporträt – benutzt oder terminologisch reflektiert. Allerdings geben sie – von der Renaissance bis in die Gegenwart – wichtige Anregungen, was den theoretischen und methodologischen Dialog von Kunst- und Literaturwissenschaft angeht. Als instruktives Beispiel sei abschließend Moritz Lampes Beitrag zum „unbeabsichtigten Selbstporträt als Ochse“ hervorgehoben. In seinen breit informierten (und durchaus auch unterhaltsamen) Ausführungen zur Produktionsästhetik Benvenuto Cellinis zeigt Lampe den Wandel von Künstlerbildern in der Renaissance auf, die er mit neuen ökonomischen Produktivitätsparadigmen in Verbindung setzt. Auf vorbildliche Weise leistet er das, was man (um ein letztes Mal Oskar Walzel zu bemühen und abzuwandeln) von einer ‚wechselseitigen Erhellung‘ der Disziplinen erwarten muss: philologische Genauigkeit, kunstwissenschaftliches Knowhow und kontextorientiertes Argumentieren ‚über den Tellerrand‘ hinaus.

Titelbild

Barbara Kuhn (Hg.): Selbst-Bild und Selbst-Bilder. Autoporträt und Zeit in Literatur, Kunst und Philosophie.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
400 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770559367

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