Außerhalb der Arkaden

Keine Lust auf sich selbst: Clemens J. Setz und seine Bamberger Poetikvorlesungen

Von Niklas SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niklas Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unmittelbar vor den sogenannten ‚Arkaden‘ des Bamberger Balthasargäßchens steht die wohl gemeinste Ampel der fränkischen Kleinstadt. Wer nicht mit einigem Ungehorsam gegenüber der StVO gesegnet ist, wartet mitunter sehr lange, während er auf das rote Haltzeichen auf der gegenüberliegenden Straßenseite starrt. Wer aber die Zeit nutzt und sich umsieht, wird bei einem Blick in den betongrauen Durchgang rechts von sich lesen können: „Außerhalb der Arkaden wird nicht geräumt und gestreut.“ Was dem Touristen oder Einheimischen, gerade im Sommer, bloß als unpassender Hinweis der Stadtverwaltung erscheint, wird bei Clemens Setz, dem diesjährigen Poetikprofessor an der Universität Bamberg, zum Poetisierungsgrund für seine Ballade von den Bamberger Arkaden. Auf seinem Instagram-Account macht er aus dem harmlosen Hinweisschild ein ausgewachsenes Gedicht: „Außerhalb der Arkaden/ wird nicht geräumt und gestreut/ denn Menschen sind Fassaden –/ so sagt mein Therapeut“, beginnt es. Über dieses poetische Verfahren verlautet Setz in einer der insgesamt vier Poetikvorlesungen: „Man füge Dinge aneinander, die niemals von selbst zueinander fänden, aber zwischen denen doch eine mysteriöse Anziehungskraft besteht.“

Das Gedicht mag zwar nichts weiter als eine Fingerübung sein, doch kann man daran auch mehr ablesen: Da wäre zum einen die Aufmerksamkeit, mit der Setz durch die Welt geht und ihre versteckten Angebote annimmt – und oft auf absurde Weise ergänzt. Zum anderen lassen sich leicht Gelehrte vorstellen, die das Gedicht völlig ernstgemeint in eine Tradition von Großstadtgedichten als Ablehnung romantischer Arkadienideale einreihen. Im Prinzip trafen in Bamberg also nichts anderes als ein gewitzter Autor und der Versuch der Wissenschaft, ihm nahezukommen, aufeinander.

Ganz im Sinne dieser Dualität hat Clemens Setz in seinen Vorlesungen jede Selbstaussage vermieden. Sein Anspruch schien weniger darin zu bestehen, seine Poetik konzis wiederzugeben, als der Zuhörerschaft mit Geschichten aus dem Setz’schen Universum zu unterhalten. Also spricht er, so der Obertitel seiner Vorlesungsreihe, über „Jugend und Langlebigkeit von Literatur bzw. von Computerspielen“ und überlässt es dem Publikum, darin ihn, den Autor, zu erkennen. Von sich selbst zu reden, das können andere ohnehin besser als er. Peter Stamm zum Beispiel, der 2014 Poetikprofessor an der Otto-Friedrich-Universität war und einfach aus seinem nicht ganz so spannenden Leben erzählte, oder im Jahr darauf Lukas Bärfuss, der besonders gelehrt auftrat und die ganz großen Fragen nach Verwandlungen zwischen Schönheit und Schmerz oder dem Ewigen und Ephemeren aufwarf. Alles sehr schön und sehr wichtig – nur Clemens Setz interessieren solche altgedienten Themen einfach nicht. Vielmehr hat er seinen Spaß mit dieser in Bamberg über 30 Jahre alten Institution Poetikprofessur und spielt ironisierend damit, dass ausgerechnet er, der keinen Universitätsabschluss hat, dort über seine Poetik sprechen solle. Ja, fast lächerlich scheint ihm sein kurzzeitiger Professorentitel vorzukommen. Aber dennoch wolle er versuchen, es wenigstens „respektabel literarisch“ zu halten. Das gelingt ihm gleichwohl gut.

Dass er nur über sich selbst spricht, wenn er sich über eigene frühe Schreibversuche lustig macht, ist seiner Bescheidenheit und nicht der mangelnden Fachkenntnis geschuldet. Um die wissenschaftliche Betrachtung seines Werkes kümmert sich indes das traditionell seit 2005 im Anschluss stattfindende Kolloquium, diesmal von der Bamberger Literaturwissenschaftlerin Iris Hermann veranstaltet, dessen Titel gleich jeglichen Zweifel an eventuell fehlender Literarizität ausräumte: „Intermedialität und Phänomenologie der Wahrnehmung“.

Wie nun sieht aber die poetische Welt aus, von der Clemens Setz berichtet? Nachvollziehbar beginnt Setz seine Vorlesungen noch vor dem eigentlichen Beginn von Texten, also bei den Anlässen zum Schreiben – und wo er diese findet. Exemplarisch führt er das an kleinen Gedichten vor. Für diese schöpft er vor allem aus zufälligen obskuren Zusammensetzungen von Sätzen, die er ebenso in Zeitungsartikeln und Annoncen findet wie in den Weiten des Darknets oder eben auch auf Straßenschildern in Oberfränkischen Kleinstädten. Dieser kleinen Lyrikwerkstatt ist anhand der Beispiele kurzweilig zu folgen. Dahinter steckt bei Setz immer auch ein Appell zum genauen Lesen. Wo er aber eine Leerstelle hinterlässt, was er mithin den Zuhörern voraushat, ist seine Imaginationsgabe, die aus dem scheinbar Unbedeutenden eine Geschichte hervorbringen kann. Etwa wenn er zwei Annoncen glücklich zusammengefügt findet: Wegen Todesfalls Reisende gesucht. Was bei den Zuhörern zu heiterem Auflachen führt, nimmt Setz im Gegensatz dazu ziemlich ernst. Denn man könne sich gleich einen Roman denken, der solch einen Titel trägt. „Eine Reisegesellschaft aus lauter ihnen unverzichtbar gewordenen Menschen erleidet einen plötzlichen Rückschlag. Einer von ihnen liegt am Morgen tot in seinem Zimmer. Er ist nachts beim Versuch eine ihn ängstigende Winkelspinne in einem leeren Trinkglas zu fangen und sie so nach draußen zu befördern, von einer Bettkante abgerutscht und hat sich beim Sturz das Genick gebrochen.“ Der Roman würde von der Austauschbarkeit des Menschen handeln, von seiner Einzigartigkeit, dem Mysterium des gemeinsamen Reisens sowie des grellen Unsinns menschlicher Interaktion. An diesem Zusammenfügen unzusammenhängender Dinge, deren Verbindung Setz herstellt, zeigt sich wohl am deutlichsten sein Poetisierungsverfahren.

Wie aber können Geschichten in Zukunft ihre Relevanz behalten? Auch darum geht es in Setz’ Vorlesungen. Die zweite Strophe von Setzʼ Arkadenballade lautet: „Der Wind ging durch die Plejaden/ die Ähren wogten erfreut/ es hüpften leis die Maden/ um die schlafenden Bamberger Leut.“ Dort sind es die unpassend hüpfenden Maden, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen, die zwischen Plejaden und Ähren anfangen, seltsam zu leuchten. Setz ist auf der Suche nach solchen einprägsamen Details, die er dann in seinen Büchern, Artikeln oder den Vorlesungen zum Leuchten bringt. Dort werden einzelne Sätze zitiert und begeistert gelobt, unbekannten Autoren wie Samuel Delany oder avantgardistische Computerspiele von Jason Rohrer gewürdigt, die voller Detailreichtum sind, sodass Setz sich manchmal in deren Beschreibung verliert. Wenn er aber ein solches ‚Luminous Detail‘, wie es die Hauptfigur in Setz’ aktuellem Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre bezeichnet, zur Metapher ausweitet, dann bleibt da etwas hängen. So werden ihm diese als Gag daherkommenden Ausschweifungen nie zum unterhaltsamen Selbstzweck, sondern können auch etwas über die Langlebigkeit von Literatur aussagen. Denn gute Literatur ist wie eine Strahlenkatze, erklärt er, und spielt damit auf einen Aufsatz der Philosophen Paolo Fabbri und Françoise Bastide über Kernstrahlenmessung durch Tiere an. Deren DNA wurde an einer Stelle derart geändert, dass sie in radioaktiver Umgebung zu leuchten beginnen. Dieses eine Detail reicht aus, dass die Katzen durch Sprichwörter und Mythen über Generationen hinweg weitertradiert werden. Allein der Name ‚Strahlenkatze‘ hat etwas suggestiv Rätselhaftes, wie die springende Made im Gedicht. Genau diese Details unterscheidet gute Literatur von nur noch künstlich am Leben erhaltenen Klassikern, die eben nicht auf Radioaktivität reagieren und daher für zukünftige Generationen recht inhaltsleer daherkommen müssen.

Amüsant in Hinblick auf das folgende Kolloquium war die Setz’sche Umkehrung der akademischen Verhältnisse in seiner dritten Vorlesung, in der er den älteren Semestern der Zuhörerschaft Spiele wie Tetris oder GTA V erklärt. Umso tragischer daher auch der Ausfall des einzigen Kolloquiumsvortrags über Videospiele im Werk von Setz. Dafür füllten die anderen Vorträge jene klaffende Lücke aus, die Setz in seinen Vorlesungen gelassen hat: das eigene Werk. Sie folgten, womöglich unbewusst, den in den Vorlesungen vorgegebenen Bahnen. Setz beschäftigte sich mit Dingen, die über die totgetrampelten Pfade herkömmlicher Poetiken hinausgingen. Die Frage nach Fiktion und Wirklichkeit sei ihm „total egal“. Ganz anders als der aktuellen Heidelberger Poetikdozentin Felicitas Hoppe, die gleich zu Beginn erst einmal über Autobiografie und Selbsterfindung spricht. Aber er gehört ja noch nicht zu den etablierten Büchnerpreisträgern, die ein Publikum von Ottonormallesern zu befriedigen haben. Setz hingegen schreibt, wie er sagt, eigentlich nur über das, was er selbst mag und gerne lesen würde. Und das stammt aus den neuen Medien, der damit einhergehenden veränderten Wahrnehmung der Welt und der Interaktion der Menschen darin, nicht jedoch aus einem Alter Ego, das den nächsten großen Ich-Roman schreibt. Leider bleiben im Kolloquium manche Versuche, genau dieser ihm gleichgültigen Fakt-Fiktions-Frage nachzugehen, etwas unergiebig.

Geradezu hübsch hingegen findet Setz es, wie er während des Kolloquiums in einem Gespräch mit dem Literaturkritiker Paul Jandl betont, „wenn sich die Realität eines Kunstwerks bemächtigt.“ Dafür sieht er sich allerdings, im Gegensatz zu den potentiell absichtsvoll gesetzten Luminous Details in seinem Werk, nicht verantwortlich. Jedoch kann Joanna Jabłkowskas (Universität Łódź) Vortrag über Setz’ essayistisches Werk plausibel nachweisen, dass er in seinen Zeitungsartikeln den anderen Weg geht – und dort zwar von Abwegigem wie Grottenolmen berichtet, dies aber genrekonform wesentlich faktenbezogener vollzieht als in seinem belletristischen Werk. Gingen die Vorträge hingegen sonst gestreuten Luminous Details nach, glaubte man, sich Setz’ ausgelassener Poetik ein wenig zu nähern. Zumindest innerhalb jenes akademischen Gedankengebäudes, das er in seinen Vorträgen demonstrativ gemieden hat. Und es stellt sich die Frage, wer ihm einen Vortrag über die Poetik der Störung (Florian Lehmann, Universität Duisburg-Essen) oder die Ästhetik des Ekels (Marie Gunreben, Universität Konstanz) zugetraut oder auch nur von ihm gewünscht hätte; das wäre mutmaßlich so fad ausgefallen, wie es beim wissenschaftlichen Kolloquium spannend war. Es lässt sich nur erahnen, was er aus diesen beiden Interpretationsversuchen macht. Vermutlich sind sie ihm recht gleichgültig, doch er braucht ja auch keine Erklärung mehr für seine Bücher: „Und außerhalb der Arkaden/ wird immer noch nicht gestreut/ Und wir, wir singen Balladen/ von Sach- und Personenschaden/ inmitten von Glockengeläut.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
1019 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424957

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