Ein Roman, der eine ganze Generation definiert?

In ihrem Erstlingswerk „Sweetbitter“ erzählt Stephanie Danler die Geschichte der jungen und naiven Tess, die sich nach New York City begibt, um ihrem alten Leben zu entfliehen

Von Katharina FritzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Fritz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem Roman zu attestieren, er helfe, eine ganze Generation zu definieren, ist ein schwieriges Unterfangen, vielleicht sogar eines, welches man generell vermeiden sollte. Oft bedarf es einer zeitlichen Distanz von mehreren Jahrzehnten, um die Nachhaltigkeit eines Werkes überhaupt einschätzen zu können. Stefanie Danlers Erstlingswerk „Sweetbitter“ wurde dieses Prädikat bereits vor seiner Veröffentlichung verliehen. Die Erwartungen an die junge U.S.-amerikanische Autorin sind dementsprechend hoch, bereits 2014 wird die Geschichte um ihr Manuskript in einem Artikel der New York Times zu einem modernen Mythos erhoben. Die mittlerweile in Los Angeles wohnhafte Autorin lebt zu dieser Zeit in New York City und arbeitet als Kellnerin in einem französischen Restaurant im West Village. Einem Verleger, der dort Stammgast ist, erzählt sie von ihrem gerade fertiggestellten Roman. Diesem passiert es schon zum zweiten Mal, dass eine Kellnerin ihm signalisiert, sie sei Schriftstellerin, weshalb er Danler zunächst – nach eigenen Angaben –  seine gewöhnliche, höflich ablehnende Antwort gibt: Lassen Sie es mir von ihrem Agenten zuschicken. Als der Roman wenige Tage später auf seinem Schreibtisch liegt, braucht es nur 10 Seiten, um den Verleger von Danlers außergewöhnlichem Talent zu überzeugen. Doch auch andere Persönlichkeiten der New Yorker Verlegerszene, denen er von dem Manuskript erzählt, haben bereits von der jungen Autorin gehört. Binnen weniger Wochen verkauft Danler die Publikationsrechte für „Sweetbitter“ und ihr nächstes Werk an den Alfred A. Knopf Verlag für eine sechsstellige Summe. 

Trotz des großen Medienrummels um ihr Erstlingswerk und den damit einhergehenden, nicht selten sexistischen Annahmen über die Person und das Talent Danlers – so wurde ihr beispielsweise unterstellt, sie habe für ihren Roman allein wegen ihres attraktiven Äußeren so viel Geld bekommen –, kommt die 32-Jährige, die 2014 mit einem Master of Fine Arts in Creative Writing von der New School graduierte, bisweilen in den USA mit vorwiegend positiven Kritiken davon. Allein dies ist angesichts der hohen Erwartungen bemerkenswert. Es wäre voreilig, diesem Roman eine überzeitliche Bedeutung zusprechen zu wollen. Allerdings ist Danlers Talent nicht von der Hand zu weisen. 

Betrachtet man lediglich den Inhalt des Romans, so bedient „Sweetbitter“ auf den ersten Blick viele Klischees. Der Roman handelt von der 22-jährigen Tess, die ihrem bis dato banalen und provinziellen Leben den Rücken kehrt und sich nach New York City begibt, um ein aufregendes Leben voller Erfahrungen zu führen. Sie findet ein Zimmer in Williamsburg und bekommt einen Job als Hilfskellnerin in einem bekannten Restaurant in Manhattan. Ihre dort beginnende kulinarische Lehre und das Erwachen ihrer Geschmacksnerven stehen im Roman symbolisch für Tess’ wachsenden Erfahrungsschatz. Tess wird Teil eines Mikrokosmos, einer eigenen Bevölkerung innerhalb New Yorks, und gerät zudem in eine bizarre Dreiecksbeziehung mit der erfahrenen Kellnerin Simone, die ihre Lehrerin und Vorbild wird, und Jake, einem tätowierten Barkeeper mit dunkler Vergangenheit. Diese Art von Szenario ist so schablonenhaft, dass es bereits einen – durchaus abwertend gemeinten – Ausdruck dafür gibt: „The coming-of-age-in-Brooklyn-novel.“ 

Es ist jedoch nicht unbedingt das, was Danler beschreibt, sondern die Art und Weise, wie sie es beschreibt, was den Roman von der Masse abhebt. Ganz explizit wird benannt, dass sich die Handlung im New York des Jahres 2006 abspielt – also vor der Finanzkrise und kurz vor dem Erscheinen des ersten iPhones. Der Leser taucht somit in eine Welt ein, die in dieser Art heute nicht mehr zu existieren scheint. Diese Nostalgie eines verlorengegangenen New Yorks durchzieht den gesamten Roman: „We all walk in a cloud of mourning for the New York that just disappeared.“ 

Was die Protagonistin so interessant macht, ist die Tatsache, dass sie sich selbst nicht in die Kategorie „waiter-slash-something“ einordnet. Tess ist mit ihrem Job als Hilfskellnerin zufrieden, sie träumt nicht von Ruhm oder einer großen Broadwaykarriere, wie es ihre Kollegen tun. Allerdings wird auch nicht klar, ob sie in ihrem Leben überhaupt irgendetwas will. Durchzechte Nächte, Alkohol und Kokain lassen den Roman auf weiten Strecken wie einen einzigen Rausch, eine einzige Zelebration individueller Ziellosigkeit erscheinen. Immer wieder benutzt Tess den Ausdruck „Let’s say“ und schlägt dem Leser damit eine Variante ihrer eigenen Identität vor, während Informationen von ihrem Leben vor ihrer Ankunft in New York nur vereinzelt zum Vorschein kommen und sofort unterdrückt werden: „Let’s say I was born in late June of 2006 when I came over the George Washington Bridge at seven a.m. with the sun circulating and dawning.“

Die von Tess naiv konstruierte Fassade eines aufregenden New York, in dem man sich verlieren und vergessen kann, bricht im Laufe des Romans, die Protagonistin entwickelt einen selbstzerstörerischen Appetit für Drogen und Sex, über den sie die Kontrolle verliert. Der Roman selbst macht dem Leser die Porosität von Tess’ Welt immer wieder bewusst. So ist die Erzählung aufgebrochen und anfangs achronologisch, eine Art Silhouette der Protagonistin formt sich erst nach etwa der Hälfte des Romans und auch diese erscheint immer spekulativ, auf nichts wirklich festgelegt. 

Stephanie Danlers Talent besteht besonders darin, auf scheinbar banalem Weg die Abgründe, die sich unterhalb der Oberfläche auftun, zu beleuchten. Dies zeigt sich vielleicht am meisten in den lyrischen Passagen, die sich immer wieder in die Erzählung einschleichen und schon auf visueller Ebene einen Bruch im Erzählfluss darstellen. Eine dieser Passagen, die von Tess aufgegriffene, aneinandergereihte Wortfetzen von Restaurantgerede darstellen sollen, nimmt beispielsweise während des Lesens die Form eines Gedichts über den 11. September an. Es sind Stellen wie diese, die deutlich machen, dass Tess’ nostalgische Vorstellung von New York bereits tiefgreifende Risse aufweist. Dass sich New York nicht ihren Vorstellungen anpassen wird, sondern dass es Tess ist, die sich anpassen muss. 

„Sweetbitter“ scheint auf den ersten Blick trivial, und doch handelt es sich um einen Coming-of-Age-Roman, der in vielerlei Hinsicht überrascht. Scheint der Roman an manchen Stellen auch etwas repetitiv und um einer weiteren Beschreibung von Drogenexzessen und Beziehungsdramen halber künstlich in die Länge gezogen, so gelingt es Danler doch, eine in ihrer Sprache unglaublich realistische Geschichte darüber zu schreiben, was übrigbleibt, wenn Illusionen verschwinden und die Ernüchterung einsetzt.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2016 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2016 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Stephanie Danler: Sweetbitter.
Alfred A. Knopf, New York 2016.
368 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9781101875940

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