Was ist Politik nach Hannah Arendt?

Von der Gewalt der Direktiven zur Macht des Narrativen

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grit Straßenberger ist als Politikwissenschaftlerin in Aufsätzen durch einen neuen methodischen Zugriff auf Hannah Arendt hervorgetreten und stellt mit ihrer Schrift Hannah Arendt zur Einführung die heutige und zukünftige Arendt-Rezeption auf eine neue Grundlage. Straßenberger bezeichnet das Neue als „narrativistische Wendung politischer Theorie“ (so Straßenberger in Neoaristotelismus und narrativistische Wendungen politischer Theorie) und erkennt sie im Neoaristotelismus, neben Hannah Arendt bei Michael Walzer und Martha Craven Nussbaum. Wie Walzer den Gerechtigkeitsbegriff durch Rückgriff auf die alttestamentliche Exodus-Geschichte und Nussbaum den Fähigkeitenbegriff in Bezug auf das griechische Drama Antigone reflektiert, gewinnt Arendt nach Straßenberger ihren Begriff des Politischen bei Homer. Straßenberger rekonstruiert wie Arendt vor allem in der Nachlass-Schrift Was ist Politik aus Homers Epen Ilias und Odyssee das Scheitern einer Politik auf der Basis von Gewalt herausliest. In der Gestalt des Erzählers Odysseus am Königshof der Phäaken und der Dramaturgie des Erzählens wird augenscheinlich, dass das Erzählen auf der Basis der Macht einer Gemeinschaft zu einer neuen politischen Kraft des Neuanfangs auf den Trümmern von Gewaltherrschaft wird und damit Politik produktiv wendet; die Stimmen der Unterlegenen, der Opfer bleiben präsent.

Deshalb kann das Kapitel 2 in Junius-Einführungsband als Kern herausgestellt werden. Es geht um nichts weniger als die „Neubeschreibung des ideellen Bezugsrahmens“ des Politischen, eine „Revitalisierung“ durch „Reintegration in das politische Gedächtnis einer Gemeinschaft“, eine „Mobilisierungsressource für das Beginnen von Neuem“. „Neoaristotelische Rückbesinnung auf die griechische Polis“ heißt nicht klassizistische Griechen-Sehnsucht und „antimodernistische und tendenziell elitäre Polisnostalgie“, sondern philologisch und philosophisch hochkomplexe wie praktisch anschauliche „Reinterpretation der homerischen Epen“ als Politik der Poesie, der Polis-Gemeinschaft, der Praxis des Miteinandersprechens als Handeln, des Prozessualen im Raum der Öffentlichkeit und der Perspektivität von Pluralität. Arendt demontiert nach Straßenberger die gängigen politischen Begriffe und setzt neu an: Pluralität statt Souveränität, Natalität statt Mortalität, Macht statt Gewalt, tatsächliches Sich-Vertragen durch Selbst-Verpflichtung statt Theorien über hypothetische Verträge im Kontraktualismus.

Gegen Carl Schmitts durch Gewalt konstituierten Begriff der „Souveränität“ setzt Arendt die „Freiheit“ als „Sinn von Politik“, d.h. die Möglichkeit und Befähigung, „einen kommunikativen Modus der Konfliktaustragung“ zu wählen. Diese Macht der Kommunikation vollzieht sich in „Pluralität“, als Aushalten und Austragen der Vielstimmigkeit, ohne eine durch Herrschaft erzwungene Einstimmigkeit. Damit wird ein neuer Anfang gesetzt, der Kern von Arendts seit ihrer Dissertation bei Augustinus formuliert gefundenen anthropologischen Basis „damit ein Anfang (initium) sei, wurde der Mensch geschaffen“. Gegen die Gewaltpolitik, die auf „Mortalität“ zielt, ist die „Natalität“ ein Ausdruck der schützenden, bewahrenden Macht von Gemeinschaft oder eine „Spontaneität“ nach Kant. Die „menschliche Fähigkeit des Anfangen-Könnens“ ist der entscheidende Machtfaktor.

Wie Arendt kämpft Straßenberger um die bis heute nicht in politischen Texten und Handlungsformen, also in Theorie und Praxis der Politik vollzogene sprachkritische Begriffsunterscheidung von „Macht“ und „Gewalt“. Durch die Entdeckung der performativen Qualität des Sprechens als Handeln erläutert Straßenbergers Arendts Sprechakt-Analyse des Verzeihens in Richtung Vergangenheit und Versprechens in Richtung Zukunft. Damit wird die Macht aufgewiesen, Gewalt zu überwinden.

Von diesem Schlüsselkapitel her sind Arendts luziden Analysen an Aktualität für unsere Gegenwart sofort einsehbar: die Techno- und Bürokratie-Kritik (in Kapitel 1) und die Bedeutung des „zivilpolitischen Protestes“ im Raum der Öffentlichkeit (in Kapitel 3). Sehr spannend innerhalb einer fachinternen Rezeptionsgeschichte, aber auch verwirrend sind die Wege der Arendt-Rezeption, wie sie Straßenberger im Kapitel 4 und 5 nachzeichnet. Hier bemüht sich Straßenberger um eine diffizile Weise, Arendts in der Politikwissenschaft in der Regel abgewiesenen politischen Unterscheidungen zwischen „Sozialem“ und „Politischem“ bzw. „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“, Fragen der Ökonomie und Fragen der Politik, den Ansprüchen von Tatsachenwahrheit angesichts von Meinungen, Interessen und Urteilkraft des „Gemeinsinns“ (nach Kant) zu rechtfertigen.

Entscheidender als die fachintern höchst kenntnisreichen Auseinandersetzungen zu Arendt, die letztlich in ihrer Zunft eine Ausnahmeerscheinung blieb und bleibt, wäre hier die Frage nach der Aktualität des Politik-Begriffs Arendts in der Zivilgesellschaft als Konzept einer notwendigen Erneuerung gewesen, so wie es der Begriff der „Kreativität politischen Handelns“ am Ende des Kapitel 2 andeutet. Diesen füllt die Arte-Dokumentation Hannah Arendt und die Pflicht zum Ungehorsam (2015), erstellt von der israelischen Filmregisseurin Ada Ushpiz. Dort belegen AktivistIinnen verschiedener revolutionärer Bewegungen (z.B. Tunesien, Ägypten, Ukraine, Israel/Palästina, die Occupy-Bewegung in Kanada), wie Arendts Theorie die Befreiungsaktivitäten jeweils begründet. Neben dieser kosmopolitisch-globalen Perspektive ist die Bedeutung Arendts für die politische Bildung in der Schule zu nennen, dem Ort der Polis für alle. Der Philosophie-Didaktiker René Torkler hat in seiner Dissertation Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung dazu Wichtiges entworfen. Das ist längst in den Klassenzimmern angekommen, seitdem Hannah Arendt als erste Philosophin mit ihrer Schrift Macht und Gewalt als Obligatorik des Zentralabiturs Philosophie behandeln werden soll und ‚darf‘, wie man auch hier leider immer noch zu sagen genötigt wird.

Ermutigend ist hier der internationale Blick, mit dem Yitzhak Laor kürzlich in Lettre International Hannah Arendt vorstellt, die als Bürgerin Literatur rezipiert, nicht als Kunstwerke von DichterInnen für LiteraturwissenschaftlerInnen und LiteraturkritikerInnen, sondern als erzählte Erfahrungen von BürgerInnen für BürgerInnen, Initiation eines Gesprächs zwischen heutigen LeserInnen untereinander und mit Hannah Arendt, auch gerne im Kontakt ihrer InterpretInnen.

Weiterführende Literatur

Maria Behre: „Rezension zu René Torkler: Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung“. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 38 (2016), H. 1: „Jugendliteratur“, S. 131-133.

Maria Behre: „Vom Krieg zur Kunst – vom Agon zur Agora. Homers ‚Odyssee‘ als philosophischer Text für die Jugend nach Hannah Arendt und Michael Köhlmeier“. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 38 (2016), H. 1: „Jugendliteratur“, S. 74-87.

Maria Behre: „GIVE US A PLACE“ – Politischwerden auf dem Oranienplatz. Jenny Erpenbecks Roman ‚Gehen, ging, gegangen‘ als Narrativ zu Hannah Arendts politischer Philosophie“, In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 39 (2017), Heft „Hannah Arendt“, S.58-65.

Yitzhak Laor: „Unter Apollos Gesetz. Hannah Arendt und Bertolt Brecht – Liebe, Tugend, Schuld und Sühne“. In Lettre International 113 (Sommer 2016), S. 70-77.

Grit Straßenberger: „Neoaristotelismus und narrativistische Wendungen politischer Theorie. Hannah Arendt, Michael Walzer und Martha Craven Nussbaum“. In: Politische Ideengeschichte im 20.Jahrhundert. Hg. v. Harald Bluhm u. Jürgen Gebhardt. Baden-Baden 2006, S. 15-180.

Grit Straßenberger: „Politik zwischen Freiheitsgewinn und Enttäuschungserfahrung. Zu den Kompensationsleistungen von politischer Theorie bei Hannah Arendt“. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste. Hg. v. Wolfgang Heuer u. Irmela von der Lühe. Göttingen 2007, S. 227-242. 

Grit Straßenberger: „Am Anfang war Homer“. In: Research Notes 4,1 (2001) <http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/217>. 

René Torkler: Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung. Freiburg/München 2015.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Grit Straßenberger: Hannah Arendt zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2015.
208 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783885060895

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