Intellektueller gegen Intellektuelle

Klaus Brieglebs Streitschrift zum angeblichen Antisemitismus der Gruppe 47

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Zweifel: Klaus Briegleb, der sich vor allem als Editor der Werke Heinrich Heines einen Namen gemacht hat, weist sich mit dieser Streitschrift erneut als Typus des Intellektuellen aus, wie er unter Literaturwissenschaftlern heute nur noch selten anzutreffen ist: polemisch, engagiert und in der Tradition Zolas so wachsam wie unerbittlich gegenüber jeglicher Form antisemitischen Unrechts. Das Engagement seiner Schrift richtet sich jedoch nicht gegen Repräsentanten staatlicher Macht oder die Willkür der Justiz, sondern gegen – Intellektuelle, genauer: gegen den harten Kern jener Gruppierung in der deutschen Nachkriegsliteratur, deren Angehörige das Bild vom „Linksintellektuellen“ in der Bundesrepublik maßgeblich mit geprägt haben.

Mit der neukonservativen Intellektuellenfeindschaft, die um und nach 1989 in deutschen Feuilletons grassierte und die von der Gruppe 47 geprägte Literatur der alten Bundesrepublik für endgültig tot erklärte, hat Brieglebs Schrift allerdings nichts gemein. Ihre Kritik kommt von links, und sie zielt darauf, ein Image zu destruieren, das dieser Gruppe noch heute anhaftet.

In Opposition zur restaurativen Atmosphäre der Adenauer-Zeit, zur kollektiven Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit, zur Wiederbewaffnung und zur biedermeierlichen Selbstzufriedenheit angesichts des Wirtschaftswunders hatte die Gruppe die Aura des Unangepassten, auch Weltläufigen zu evozieren vermocht. Der „Aufruf zum Misstrauen“, mit dem die später in der Gruppe hochangesehene Erzählerin, Lyrikerin und Hörspielautorin Ilse Aichinger 1946 erstmals in die Öffentlichkeit trat und vor einer neuen gefährlichen Selbstsicherheit warnte, war dafür ebenso kennzeichnend wie der vielzitierte Appell in der Druckfassung von Günter Eichs Hörspiel „Träume“: „Seid der Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.“ Der Satz entsprach auch dem Selbstverständnis Heinrich Bölls, der 1972 nach dem Erscheinen seines Romans „Gruppenbild mit Dame“ als der international bekannteste Nachkriegsschriftsteller Deutschlands den Nobelpreis für Literatur erhielt. Seine Karriere begann, als er 1951 mit dem Preis der Gruppe ausgezeichnet wurde. Er war einer ihrer Gründungsmitglieder und über Jahre hinweg die zentrale Figur in ihr. Mit seinen Darstellungen der Kriegsrealität und der chaotischen Trümmerjahre nach 1945 aus der Sicht der „kleinen Leute“, mit seinen literarischen Parteinahmen für diejenigen, die von ihren Erinnerungen an Leid und Schuld in der Nazi-Diktatur nicht loskommen, und den Attacken gegen jene erinnerungsunfähigen Karrieristen, die skrupellos in die Machtzentren des neuen Staates aufsteigen („Billard um halb zehn“, 1951), mit der Bloßstellung militaristischer Mentalität und kirchlicher Heuchelei („Ansichten eines Clowns“, 1963) sowie mit der Verteidigung persönlicher Würde gegenüber staatlichen Verwaltungsapparaten und den Meinungsmanipulationen der Massenmedien („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1974) verschaffte sich Böll eine moralische Autorität, mit der er bis zu seinem Tod im Jahr 1985 gleichsam das Gewissen der Republik verkörperte. Weltruhm erlangte neben ihm vor allem Günter Grass, seit 1999 der zweite Nobelpreisträger aus der Gruppe 47. 1958 war er es, der für die Lesung aus dem Manuskript seines ersten Romans „Die Blechtrommel“ den Preis der Gruppe 47 erhielt. Die fiktive Autobiographie der phantastisch-grotesken Kunstfigur Oskar Matzerath verstand sich nicht zuletzt als erneuten Appell gegen das Vergessen der Nazi-Zeit.

Das intellektuelle Image der Gruppe 47 war freilich schon in den sechziger Jahren, im Umfeld der literarischen Politisierungsbewegung, in Misskredit geraten. Die Politisierung der literarischen Intelligenz hatte entscheidenden Anteil an dem Zerfall der Gruppe, deren Mitglieder über die Gegensätze ‚reiner‘ oder ‚engagierter‘ Literatur oft debattiert und in der Mehrzahl großen Wert auf ästhetische Autonomie gelegt hatten. Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger, um 1968 einer der Wortführer der Neuen Linken und ihres Engagements für die Dritte Welt, oder Peter Rühmkorf formulierten schon früh ihr Unbehagen an der politischen Zurückhaltung, die sich die Gruppe immer wieder auferlegte. Günter Grass und Siegfried Lenz begannen sich öffentlich für die Sozialdemokratie zu engagieren, Martin Walser und Peter Weiss näherten sich sozialistischen Positionen an. Und Erich Fried übertrug die im Theater und der Prosa dieser Politisierungsphase dominanten Verfahren der Dokumentation, des Protokolls und der Reportage auf die Lyrik – im Zitieren, Montieren und Kommentieren der Pressenachrichten zum Vietnamkrieg.

Die studentischen Protestdemonstrationen gegen den Vietnam-Krieg und die Springer-Presse, gegen Kapitalismus und Imperialismus, gegen Militarismus und Verdrängung der NS-Zeit, gegen die autoritären Strukturen in Hochschule und Gesellschaft wurden 1967 und 1968 zu Medienereignissen mit einer öffentlichen Wirksamkeit, vor der die Einflüsse einer noch so engagierten Literatur schwach und harmlos erschienen. Im berühmt-berüchtigten „Kursbuch“ 15 erklärte Karl Markus Michel, dass „die als Hort aller Unzufriedenheit, als Born der Zersetzung verschriene Gruppe 47 nicht einmal ein Papiertiger ist, sondern ein Schoßhund.“

Die jetzt von Briegleb spät nachgetragene Kritik an der Gruppe ist immer noch die eines ‚Achtundsechzigers‘ gegen die von ihm so genannten „Siebenundvierziger“. Doch sie richtet sich gegen anderes als damals. Und sie stellt sich ausdrücklich in die Kontexte erst kürzlich heftig geführter Debatten: vor allem die um Martin Walsers Rede 1998 in der Frankfurter Paulskirche und die um seinen 2002 erschienenen Roman „Tod eines Kritikers“.

Walsers Rede gegen die „Dauerrepräsentation unserer Schande“ und gegen öffentlich verordnete Erinnerungen an die Verbrechen des Nationalsozialismus sowie sein komödiantisch literarisierter und mit antisemitischen Klischees spielender Hass- und Racheakt gegen den jüdischen Kritiker Marcel Reich-Ranicki wertet Briegleb nicht als Äußerungen einer jener ehemals linkssozialistischen Intellektuellen, die sich in den achtziger und neunziger Jahren nach rechts gewendet hatten, sondern als Konsequenz einer Entwicklung, die in der Gruppe 47 schon vorgezeichnet war.

„Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“ Die Frage im Untertitel der Streitschrift präsupponiert, dass die Gruppe antisemitisch war und es nur noch darum gehen kann, in welcher Weise sie es war. Das Antisemitismus-Verdikt Brieglebs scheint freilich allein schon mit dem Hinweis widerlegt zu sein, dass an den alljährlichen Tagungen der Gruppe so viele Autoren und Kritiker jüdischer Herkunft regelmäßig beteiligt waren: Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss oder Erich Fried, Hans Mayer, Hermann Kesten oder Marcel Reich-Ranicki. In Brieglebs Einschätzung jedoch gab Hans Werner Richter, der Initiator, Organisator und Mentor der Gruppe, dieser durch seine Einladung jüdischer Schriftsteller und Kritiker nur die Fassade eines „deutsch-jüdischen Freundschaftsbundes“. Hinter der Fassade sei beim Studium der zum Teil noch unveröffentlichten Archivakten Anderes zu entdecken: „Mißachtung und Tabu“. Die Missachtung richtete sich – nach Briegleb – gegen Juden innerhalb und außerhalb der Gruppe, das Tabu betraf das Reden über „die Angst vor Juden und Judentum nach der Shoah“.

Es ist nicht eben leicht, in Brieglebs Streitschrift die empirische Substanz seiner Thesen zu finden und zu überprüfen. Seine Ausführungen erschöpfen sich zu weiten Teilen in ständigen Variationen gleicher Behauptungen. Der Philologe schreibt noch dazu ein syntaktisch derart verqueres, stilistisch ungelenktes, in den Formulierungen unpräzises und oft auch fehlerhaftes Deutsch, dass die Geduld bei der lesenden Suche nach stichhaltigen Belegen für den angeblichen Antisemitismus der Gruppe erheblich strapaziert wird. Der sprachlichen Wirrnis entspricht noch dazu die konzeptionelle. Drei ältere Studien zum Thema sind hier zu einem Buch kompiliert, dessen Unstrukturiertheit der Autor mit Attributen wie „aufgelockert und bunt“ beschönigt. Die Absichtserklärung, der Lektüre damit „Spielräume für frei assoziatives Mitgehen und nachdenkendes Innehalten anzubieten“, ist angesichts der offensichtlichen Mängel an konziser Ordnung des Materials und der Argumente schon ziemlich verwegen.

Die bisherigen Rezensionen haben sich denn auch schwer getan, mehr als die Thesen Brieglebs wiederzugeben. Ein Rezensent (Alfred Pfabigan) hat nach dem Beleg für jenen Satz gesucht, mit dem das Buch anfängt – und ihn nicht gefunden. „Der Vorwurf, die Gruppe sei antisemitisch, ist so alt wie die Gruppe selbst.“ In einem der vielen vom Haupttext separierten „Fenster“ steht vielleicht das, worauf Briegleb seine Behauptung gestützt sieht. Jedenfalls bezieht er sich wiederholt auf die dort zitierte Notiz Ingeborg Bachmanns: „Niendorf 1952. Am zweiten Abend wollte ich abreisen, weil ein Gespräch, dessen Voraussetzungen ich nicht kannte, mich plötzlich denken ließ, ich sei unter deutsche Nazis gefallen […].“ Das ist freilich sehr viel vorsichtiger formuliert, als Briegleb dies tut.

Vorsicht ist natürlich nicht das Kennzeichen einer „Streitschrift“. Doch etwas handfestere Belege kann man auch von einer Streitschrift erwarten. Es gibt nur ganz wenige in diesem Buch. Einer immerhin ist in der Tat zumindest als eine verbale Entgleisung Hans Werner Richters zu bewerten. In einem Brief schrieb er über den aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Hermann Kesten: „Kesten ist Jude, und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit miteinander austragen“.

Doch lässt sich von „Antisemitismus“ sprechen, wenn einige in der Gruppe auf den singenden Gedichtvortrag Paul Celans (wie Walter Jens sich erinnert) mit verständnislosem Gelächter reagierten oder wenn Peter Rühmkorf gegen die Hermetik von Celans Lyrik polemisierte? Celan nimmt in dem intellektuellen Diskurs Brieglebs gleichsam die Position des Hauptmanns Dreyfus ein, die eigene Streitschrift die des offenen Briefes, mit dem Zola zugunsten des Juden intervenierte, und die Gruppe 47 die der antisemitischen Justiz, die sich über das Recht skrupellos hinwegsetzte.

Solche Analogiebildungen liegen jedoch nur nahe, wenn man bereit ist, der fragwürdigen Argumentationsführung in dem Buch zu folgen. Ganz anders als Zolas Anklage basiert Brieglebs philologische Streitschrift auf einer diffus zwischen Psychoanalyse, Ideologiekritik, Diskursanalyse und Dekonstruktivismus positionierten Hermeneutik des Verdachtes und der Unterstellung. Seine von ihm selbst so bezeichneten „analytischen Erzählungen“ gleichen psychoanalytischen Verfahrensweisen darin, dass sie etwas Latentes unter oder hinter dem Manifesten suchen. Gelegentlich schreibt Briegleb vom „antijüdischen Unbewußten“ der Gruppe, an anderen Stellen legt er wiederum nahe, dass der Kern der Gruppe (vor allem Richter und Andersch) ihren Antisemitismus bewusst vor der Öffentlichkeit hinter einer Fassade verborgen hat. Warb Richter 1952 darum, es solle „nach außen sichtbar“ werden, dass „die emigrierten deutschen Schriftsteller und die neuen deutschen Schriftsteller […] sich zusammengehörig fühlen“, so liest Briegleb die Formulierung „nach außen sichtbar“ als Hinweis auf die hinter der äußeren Oberfläche verborgenen Ressentiments gegenüber den jüdischen Emigranten. Wollte Richter die Gedichte Celans unbedingt im Almanach der Gruppe veröffentlicht sehen, so zielte das nach Briegleb nur darauf, vom Ansehen Celans zu profitieren und die heimliche Missachtung des Autors zu verdecken.

Die unübersehbare Präsenz so vieler jüdischer Autoren und Kritiker bei den Zusammenkünften der Gruppe und in ihren Almanachen lässt Briegleb als Einwand gegen seine Thesen nicht zu, weil sein Konstrukt der Gruppe zwischen einer „Kerngruppe“ und den „internen Außenseitern in der Gruppe“ unterscheidet. Und wenn es sogar im Blick auf den Kern der Gruppe an manifesten Zeugnissen für deren Antisemitismus mangelt, ist das nur ein Beweis dafür, dass er zum „Gruppengeheimnis“ gemacht wurde.

Zu den Indizien, die der philologische Antisemitismus-Detektiv aufspürt, gehört die „geistige Faszination Ernst Jüngers“, die Heinz Friedrich zu einer Haupttendenz der Gruppe erklärt hatte und die Briegleb auch in Richters Leitartikel „Warum schweigt die junge Generation?“ vom 1. September 1946 in der Zeitschrift „Der Ruf“ nachweisen zu können glaubt. In dem Artikel kommt der Name Jünger allerdings nicht vor. Zu den Indizien gehört ferner, dass es „keine Reaktion“ der Gruppe auf den 1963 begonnen Frankfurter Auschwitz-Prozess gegeben habe. Wieder meint Briegleb allerdings nur den „Kern“ der Gruppe, muss Peter Weiss und Marcel Reich-Ranicki zugunsten seiner Behauptungen aus der Gruppe herauslösen. Doch auch Martin Walser besuchte den Prozess und schrieb über ihn. Was er darüber schrieb, disqualifiziert Briegleb allerdings als „unangemessen“.

Die Rolle Reich-Ranickis in der Gruppe wird schließlich ebenfalls der Antisemitismus-These angepasst. Die Missachtung von Juden richtete sich in dieser Perspektive auch gegen ihn, insofern man ihn zum „Sündenbock einer internen Entwicklung“ gemacht habe, „die nach Meinung der Stammgäste zu literaturbetriebsähnlichen Zuständen geführt habe“. In der sich 1961 zuspitzenden „Opposition“ gegen Reich-Ranicki, habe man ihn, so formulierte es Richter, als „toten und störenden Punkt“ im Innenleben der Gruppe empfunden. Im Oktober 1961, vor der Tagung in Görde, beriet „der innerste Kreis der Gruppe 47 über den Ausschluß des Kritikers“ (Briegleb). Weil sich vor allem Siegfried Lenz für Reich-Ranicki eingesetzte, wurde er dennoch eingeladen, musste sich allerdings von Walser eine Ansprache über den Satz anhören: „Die Literaturkritiker aller Länder und Zeiten sind Lumpenhunde“.

Ist wenigstens dies ein klarer, wenn auch wiederum hinter den Kulissen verborgener Fall von Antisemitismus? Eine Vorwegnahme des Schundromans „Tod eines Kritikers“?

Wäre es – so ließe sich, Brieglebs Geschichte weitererzählend, fragen – ebenfalls ein Fall von Antisemitismus gewesen, wenn ein Literaturwissenschaftler an jener Universität, an der Briegleb bis zu seiner Emeritierung lehrte, sich vehement gegen die Auszeichnung des jüdischen Kritikers mit der Ehrendoktorwürde gewehrt hätte? Wenn es sich so zugetragen hätte, wäre dieser Literaturwissenschaftler dann ein Antisemit? Und wenn derselbe Literaturwissenschaftler immer wieder über den Antisemitismus in der Literaturgeschichte geforscht und Anklage gegen ihn erhoben hätte, wäre das dann ein besonders subtiler Versuch, sich selbst und der Öffentlichkeit den eigenen, vielleicht unbewussten Antisemitismus zu verbergen? Darauf mit Ja zu antworten hieße, der Logik von Brieglebs Argumentation zu entsprechen. Es ist eine fatale Logik. Man sollte die imaginierten Fragen zu dieser Geschichte, sei sie nun eine fiktive oder eine reale, besser mit einem klaren Nein beantworten.

Titelbild

Klaus Briegleb: Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift über die Frage: "Wie antisemitisch war die Gruppe 47?".
Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2002.
322 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3825703002

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