Täglich Mozart

Hanns-Josef Ortheils Hör-Projekt zum Gesamtwerk des großen Komponisten

Von Julia SchöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schöll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, wie Musik literarisch darstellbar ist, wie sich ihre Strukturen und Formen sprachlich abbilden lassen, beschäftigt Autoren seit jeher, spätestens aber seit der Romantik. Die Palette der Antworten auf diese Frage ist weit gefächert, sie reicht von der Nachahmung von Kompositionsformen, z. B. der Sonatenhauptsatzform in den Texten Thomas Manns bis zur Lautmalerei avantgardistischer Wortmusik.

Hanns-Josef Ortheil hatte stets eine eigene Antwort auf diese Frage, was damit zu tun haben mag, dass er Musik und Sprache liebt und mit beiden professionellen Umgang pflegt. In seiner ersten großen literarischen Annäherung an Mozart, dem 1982 erschienenen Essay "Mozart im Innern seiner Sprachen", löste Ortheil das Problem der Darstellbarkeit von Musik in Sprache, indem er erst gar nicht versuchte, Musik sprachlich nachzuformen, sondern sich ganz auf die Sprache selbst konzentrierte. In diesem Text analysiert er die Briefe und Notizen Mozarts entlang der Biografie, doch er analysiert diese nicht allein im Hinblick auf ihren Inhalt, sondern bildet Mozarts spezifische Sprechweise nach. Ortheil paraphrasiert dieses musikalische Sprechen, dringt mit seiner eigenen Sprache in die verschiedenartigen Codes des Komponisten vor und kommt auf diesem Weg dessen Musik näher als mit einer direkten Beschreibung.

Einen anderen Weg, Musik sprachlich abzubilden, wählt Ortheil in seinem jüngsten Essay "Das Glück der Musik. Vom Vergnügen, Mozart zu hören". Eine der klassischen literarischen Lösungen für das Problem, Sprache und Musik kompatibel zu machen, besteht darin, nicht die Musik selbst sprachlich nachzubilden, sondern deren Wirkung auf den Zuhörer darzustellen. Ortheil geht diesen Weg in Form eines Hörtagebuchs: Ein Jahr lang hört er täglich Mozarts Musik und notiert seine Höreindrücke in Tagebuchform. Mozarts Musik begleitet ihn im Alltag und auf Reisen, er hört sie allein oder in Begleitung, während die Jahreszeiten, das Wetter, die Stimmungen wechseln und sein "Mozart-Hörsinn" sich schärft: "Hatte das schon einmal jemand versucht, hatte schon einmal ein Hörer möglichst genau und über einen längeren Zeitraum davon erzählt, wie er Mozarts Musik hört und wann sie ihn mehr als jede andere animiert und begeistert? Genau das, dachte ich [...], müßte man aber einmal genauer erkunden, anstatt immer nur ins Biographische oder Analytische zu flüchten, zu Lebensdetails also oder in das oft hilflose Sezieren der Stücke [...]."

Die Flucht in das Biografische vermeidet Ortheil hier tatsächlich konsequenter als noch in seinem (in vielerlei Hinsicht konstruierten) Mozart-Roman "Die Nacht des Don Juan", der fast penetrant um biografische Fakten und deren populärpsychologische Deutung kreiste. Auch für "Das Glück der Musik" ist Mozarts Lebensgeschichte von Belang, doch nur insofern sie Werkgeschichte ist. Ortheil schreitet die Lebensstationen Mozarts ab - Salzburg, Wien, Mannheim, Italien, Paris -, um deren räumliche Qualität fassbar zu machen. Indem er zu Mozarts Musik und deren Entstehung einen topografischen Hintergrund, ein Setting, eine Kulisse liefert, macht Ortheil die Musik nicht nur hörbar, sondern sehbar.

Dieses Hör-Tagebuch ist ein Tagebuch der Räume. Zu jedem Stück eröffnet Ortheil einen Raum, in dem sich die Präsenz der Musik entfalten kann - seien es die realen Räume, in denen er sich beim Hören befindet, seien es imaginäre Räume, etwa die erinnerten der Kindheit und Jugend. So arbeitet Ortheil in diesem Jahr nicht nur an einer Hörreise durch das Köchel-Verzeichnis, sondern auch an einer Art Mozart-Hör-Autobiografie: "Wenn ich mich auf das Stichwort Erinnerungen konzentriere und dabei einen Blick in das Köchel-Verzeichnis werfe, kommt es mir beinahe so vor, als könnte ich einen Großteil meines Lebens erzählen, indem ich nur davon erzähle, wie und wo ich Mozarts Musik gespielt und gehört habe ...".

Das autobiografische Moment in diesem Text geht nicht selten mit Klischees einher. Allzu idyllisch erscheint diese Kindheit, die als eine Art fröhlicher Spaziergang durch Mozarts Musik geschildert wird, allzu friedvoll auch das Familienleben der Gegenwart, in dem Kinder mit der Musik Mozarts zu bannen sind und man gemeinsam, als ein nicht näher spezifiziertes "Wir", in Köln den Papst besucht.

Irritierend ist auch manche Analyse der Opern, die man so oder so ähnlich schon gehört oder gelesen hat. Und warum Despina aus "Così fan tutte" gleich zweimal als "kleine Schlampe" tituliert werden muss, mag ebenfalls nicht einleuchten. Gibt es im Lektorat bei Luchterhand niemanden, der Herrn Ortheil erklären könnte, dass dieser Begriff außerhalb Schwabens nicht für witzig gehalten wird?

Dennoch und trotz dieser Vorbehalte ist Ortheil ein spannendes Mozart-Buch gelungen, das Lust macht, das zu oft Gehörte wieder und neu zu hören - oder neu zu spielen, falls man dazu in der Lage ist. Theodor W. Adorno hat den grundlegenden Graben zwischen Musik und Sprache mit folgenden Worten beschrieben: "Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren: Musik machen." Ortheil als Musiker und Autor ist wie wenige berufen, diesen Graben zu überbrücken.


Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Das Glück der Musik. Vom Vergnügen, Mozart zu hören.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
223 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3630620825

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