Saint-Just, Büchner, Himmler

Martin Mosebach und die Frankfurter Allgemeine Zeitung

Von Burghard DednerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Burghard Dedner

Martin Mosebach schätzt modernistische Literatur wenig, setzt sich für die altkatholische Messe ein und wird von Missgünstigen deshalb als "Reaktionär" bezeichnet. Georg Büchner belustigte sich über das "Schellen und Knieen der buntscheckigen Pfaffen", schrieb eines der radikalsten revolutionären Pamphlete deutscher Sprache und inspiriert seit 1890 die jeweilig Modernen unter den Schriftstellern. Viel haben Mosebach und Büchner also nicht gemeinsam, und so zeigte sich die Weltgeschichte wieder einmal von ihrer humoristischen Seite, als sie die Darmstädter Akademie veranlasste, den neuen Messdiener unter den Gegenwartsautoren mit dem Büchner-Preis zu ehren. Von dem Ausgezeichneten muss man lobend sagen, dass er in der obligaten Preisrede nicht gekniffen hat. Statt über Harmlosigkeiten wie das Spielerische in "Leonce und Lena" oder Büchners tiefempfundene Liebe zum Volk zu reden, behandelte er ein heißes Eisen, nämlich Büchner als radikalen Revolutionär. Die für Überschriften zuständigen Redakteure der "FAZ" oder auch Lorenz Jäger selbst gaben der Rede den einprägsamen Titel "Saint-Just. Büchner. Himmler". Das nennt man Nobilitierung durch Nachbarschaft; Himmler würde sich freuen.

Seine Kompetenz im Reden über Revolutionäre stellt der äußerlich eher sanft wirkende Mosebach gleich anfangs klar. Sein Lieblingsmaler ist noch immer Jacques Louis David, von dem es bei Büchner heißt, er habe während der Septemberliquidierungen 1792 "die Gemordeten, wie sie aus der Force [dem Gefängnis] auf die Gasse geworfen wurden, kaltblütig" gezeichnet. Und als junger Mann schwärmte Mosebach nicht etwa für Mutter Teresa, sondern für die mystische Kriegsmaschine Jeanne d'Arc sowie für Napoleon und Robespierre. Das ist lange her, aber sein Revolutionsbild scheint noch immer stärker von der Faszination am Schrecklich-Heroischen geprägt als von den realgeschichtlichen Fakten, die Büchner und seinen Zeitgenossen natürlich allzu geläufig waren. Dass etwa die Französische Revolution begann, weil die Herren des Machtapparats durch eine Anhäufung von Schulden den Staat bankrott gewirtschaftet hatten, erwähnt Mosebach in seiner Rede nicht. Ebensowenig auch, dass Teile der Bevölkerung von Paris die schrecklichen Morde vom September 1792 begingen, als der Truppenführer der europäischen Könige, der Herzog von Braunschweig, 250 Kilometer vor Paris ankündigte, er beabsichtige, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Auch nicht, dass infolge der Revolutions- und Kriegswirren die Bevölkerung in Paris im Winter 1794, dem Zeitpunkt von Büchners Drama, zu verhungern begann. An die Stelle solcher Fakten setzt Mosebach revolutionäre Subjekte, "die aus wohlerwogenen Gründen dem Massenmord zugestimmt" hätten und die "für die Vervollkommnung der Welt einen hohen Preis zu zahlen bereit" waren, also Idealisten, die über Leichen gehen wie Touristen über Sandstrände.

Das mag für den Büchner'schen Saint-Just sogar zutreffen. Mit dem eher vorsichtigen Robespierre hat es wenig zu tun, mit Danton gar nichts und mit Büchner noch weniger. Büchner lässt seine Saint-Just-Figur eine rhetorisch grandiose Rede halten, deren Inhalt dem Denken des historischen Saint-Just nicht entspricht und in die stattdessen Elemente aus einer jakobinismuskritischen Deutung von Joseph Görres eingegangen sind. Gegen Ende seiner Rede vergleicht Büchners Saint-Just die Revolution mit den Töchtern des Pelias, die ihren Vater schlachteten und kochten, um ihn zu verjüngen. Das Experiment aber - so erzählt der Mythos - misslang. Dieser Missgriff in der Wahl des mythischen Vorbilds lässt sich nur als Denunziation der Figur durch den Dramatiker beurteilen und spricht deutlich gegen eine Identifikation Büchners mit Saint-Just. Hiervon unbeirrt - wahrscheinlich in Unkenntnis dieser Hintergründe - konstruiert Mosebach dennoch einen idealtypischen Einheitsrevolutionär bestehend aus Robespierre, Saint-Just, Danton und Büchner (mit fernerem Einschluss Himmlers). Mit alledem will Mosebach den Darmstädter Dichter nicht etwa entlarven, sondern nur ein möglichst kontrastreiches Bild von ihm entwerfen.

Dass er Frühkommunist und Anhänger Robespierres war, das sind konventionelle und relativ langweilige Facetten an Mosebachs Büchner. Spannender ist folgendes: Er "ersehnte die Katastrophe, den unerträglichen Hunger"; er hörte "keinen Augenblick seines Lebens" auf, "dem Großherzog von Hessen den Tod an der Laterne zu wünschen", und er propagierte den Anbau von Hanf, um "alle Feinde aufhängen zu können". Mehr als bedauerlich, so sollte jeder rechtlich Denkende meinen, dass dieser gemeingefährliche Mensch, statt endlich eingesperrt zu werden, sich dem Zugriff der Behörden durch Flucht entzog. Und welch Glück auch, so denkt man weiter, dass er in Straßburg und Zürich seine Blutgelüste im Sezieren von Fischen sublimierte, um sich dann als Dreiundzwanzigjähriger in Vergleichender Anatomie zu habilitieren. Mosebach jedoch will den Schreckensmann nicht kritisieren, sondern vielmehr ein Faszinosum beschwören.

Die Brust des vorgestellten Dichters nämlich ist weiträumig und das Monströse darin nur ein Herz von vielen. Äußerlich, so hören wir, gab er sich als der "elegante junge Büchner mit dem seidenen Zylinder und dem auffällig kleinen Mund, geradezu einem Mündchen". Dann versah er seine Dramenfiguren Robespierre und Danton mit einem schlechten Gewissen, das man diesen über Leichen gehenden Menschen gar nicht zugetraut hätte und das wohl Büchners eigenes war. Außerdem führte der Terrorismus den "Danton-Büchner" zum Nihilismus, dem "schärfsten Gegensatz zur Revolution", und dieses und manches andere dann schließlich zur versteckten Liebe zum König "als letzter [...] Bastion gegen den Nihilismus". Mosebach erzählt uns von der magischen Macht der Königshände, die die "Skrufulösen" zu heilen vermochte, als hätte auch Büchner solchen Königsfantasien angehangen. Tatsächlich - und dies ist Mosebachs Aufhänger - lässt Büchner die über dem Verlust ihres Mannes und anderem Elend wahnsinnig gewordene Lucile am Ende von "Danton's Tod" ausrufen: "Es lebe der König".

Mosebach kennt und nennt die naheliegende Deutung für diesen Satz. Mit ihm, so berichteten Büchners Quellen, lieferten sich des Lebens überdrüssige Witwen ans Henkerbeil. Am Anfang des Dramas hatte der Revolutionär und Königshasser Desmoulins von einer nachrevolutionär zu errichtenden bacchantischen Republik fantasiert. Dass an dessen Ende seine Frau, um ihm in den Tod zu folgen, sich als königstreu ausgibt und mit dem Satz "Es lebe die Republik" verhaftet wird: das erschien Büchner wohl als genügend eindringliches Schlussbild für die verkehrte Welt, die sein Drama darstellt. Dem Autor - wie spekulierend auch immer - Königsmystik anzudichten und dieses Thema an mindestens einem Dutzend Stellen der Büchnerpreisrede variierend auszubreiten, ist in Bezug auf Büchner nicht erhellend, eher wohl in Bezug auf Mosebach.

Ein Festredner ist nicht gehalten, seine Vorstellungen penibel zu belegen und sich auf die Feinanalyse von Textstellen einzulassen. Aus der Sicht des strengen Historikers nähert er sich also ohnehin dem Reich der Dichtung. Bemerkenswert ist dennoch die Entschlossenheit, mit der Mosebach diese Annäherung vollzieht. Hier unterscheidet sich seine Rede radikal von Büchners Drama, das für seine Realitätsnähe bekannt ist. Die Dramenfiguren Danton und Robespierre stehen ihren historischen Vorbildern sehr viel näher als Mosebachs Büchner der historischen Person dieses Namens, und über Georg Büchner aus Darmstadt kann man in der Rede nichts erfahren. Als Dokument für ein Bewusstsein, in dem sich konservative Schwärmerei mit der Faszination am Schrecklichen und Widersprüchlichen mischt, entspricht sie wohl dennoch dem Zeitgeist. Man soll den schon anfangs gerühmten Humor der Weltgeschichte also nicht unterschätzen. Er beweist auch hier wieder seine tiefere Bedeutung.

Nachspiel: Die Frankfurter Allgemeine hat den Abdruck meines sie "nicht überzeugenden" Beitrags abgelehnt. Ich hätte - so der Chef des Feuilletons - übersehen, dass es Mosebach in seiner Rede "um das Absurde" geht. Während er mir dies mitteilt, kämpft sein Kollege Lorenz Jäger einen Kleinkrieg gegen alle diejenigen, die den von ihm forcierten Vergleich Himmlers mit dem historischen Saint-Just abwegig finden. Um sein Argument zu stärken, verweist Jäger auf den Quasi-Genozid, den die Truppen der Pariser Jakobiner im Sezessionskrieg der Vendée von 1793/94 begangen haben. Dass die jakobinischen Truppen gleichzeitig Kriege gegen auswärtige Aggressoren wie England an der Mittelmeerküste und Preußen-Österreich an der Ostgrenze zu führen hatten, erwähnt er natürlich ebenso wenig wie vor ihm Mosebach. Vergleichbar wäre der jakobinische Terror mit der nationalsozialistischen Vernichtung der Juden allenfalls, wenn man annehmen würde, dass auch die Nazis sich in einem Krieg gegen innere Sezessionisten und auswärtige Aggressoren befunden hätten. Nun haben die Nazis ja tatsächlich behauptet, sie verteidigten sich nur gegen die Aggression des "internationalen Judentums". Bisher haben wir diese Behauptung immer für eine Propagandalüge gehalten. Soll sich das etwa ändern?