Bleibt Freud schlechter ediert als Hitler oder Heidegger?

Zu den ersten Bänden der von Christfried Tögel herausgegebenen Gesamtausgabe

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Personen und drei Ausgaben – ein fragwürdiger Vergleich?

Während die „kritische Edition“ von Adolf Hitlers Mein Kampf nun schon länger auf den ersten Plätzen der Spiegel-Bestsellerliste steht und die weit fortgeschrittene „Gesamtausgabe“ von Martin Heideggers Werken seit dem Erscheinen der Schwarzen Hefte erneut zu heftigen Debatten über den Philosophen geführt hat, finden die ersten, seit einigen Monaten vorliegenden Bände von Sigmund Freuds Gesamtausgabe bislang nur wenig Beachtung.

Auf der Homepage des Gießener Verlags steht unter „Rezensionen“ bisher (30.5.16) lediglich eine Ankündigung im Gießener Anzeiger. Sie beginnt mit den Sätzen:Es ist nicht zu hoch gegriffen, von einer Sensation zu sprechen. Denn der heimische Psychosozial-Verlag gibt ab 2015 nicht nur die überhaupt erste Gesamtausgabe der Schriften Sigmund Freuds in 23 Bänden heraus. Zum ersten Mal werden darin vor allem auch die unbekannten voranalytischen Arbeiten des Gründervaters der Psychoanalyse und eines der größten Denker des 20. Jahrhunderts gesammelt und öffentlich zugänglich gemacht.“

Eine „Sensation“ ohne entsprechende Resonanz? Immerhin ist am 8.1.2016 eine Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen, und zwar von dem renommierten Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, aber die ist ziemlich negativ. Eine hymnische Rezension des an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien lehrenden Wissenschaftshistorikers und Psychoanalytikers Johannes Reichmayr in der Wiener Zeitung vom 31.1.2016 eignet sich aus einem anderen Grund nicht zur Präsentation auf der Verlagshomepage. Sie wäre zu peinlich, weil Reichmayr selbst mehrfacher Autor des Verlags und dem Herausgeber der Werkausgabe, Christfried Tögel, unter anderem durch gemeinsame Publikationen verbunden ist. Seine völlig unkritische Besprechung ist Musterbeispiel einer „Gefälligkeitsrezension“ und als solche allzu leicht zu erkennen.

Hitler, Heidegger und Freud sowie die Ausgaben ihrer Werke zu vergleichen, mag manchem deplatziert erscheinen, lässt sich aber mit Hinweisen auf einige symptomatische Ähnlichkeiten und Kontraste rechtfertigen. Heidegger, wie Hitler 1889 geboren, hat Mein Kampf trotz einiger Vorbehalte mit großer Bewunderung gelesen. Das geht aus dem seit November 2014 der Forschung im Deutschen Literaturarchiv Marbach zugänglichen Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und seinem Bruder Fritz hervor. Die in Siegen lehrende Philosophin und Heidegger-Forscherin Marion Heinz hat ihn eingesehen, darüber 2015 unter dem Titel Die geheimen Briefe in der Zeitschrift Hohe Luft (Heft 3/2015) einen Artikel veröffentlicht und im März 2015 in einem Gespräch mit Thomas Assheuer in der Zeit darüber informiert. Demnach legte Martin Heidegger im Dezember 1931 „dem Bruder nahe, sich mit Hitlers Mein Kampf auseinanderzusetzen“. Seine Empfehlung, so Marion Heinz weiter, „wird begleitet von einer Einschätzung Hitlers, die überaus positiv ist. Heidegger schätzt Hitler als die Person ein, die den besten politischen Instinkt besitzt und der allein zuzutrauen ist, das Abendland zu retten.“

Zitieren durfte die Wissenschaftlerin, wie sie erklärte, aus dem Brief nicht. Dazu bedarf es einer Genehmigung der Erben. Kürzlich erst, am 6. Mai 2016, hat das ein Artikel über Hitlers Buch von Rainer Blasius in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachgeholt. Demnach schrieb Heidegger in dem Brief: „Ich wünsche sehr, dass Du Dich mit dem Hitler-Buch, das in den selbstbiographischen Anfangskapiteln schwach ist, auseinandersetztest. Dass dieser Mensch einen ungewöhnlichen und sicheren Instinkt hat und eben schon gehabt hat, wo wir alle noch benebelt waren, das darf kein Einsichtiger mehr bestreiten.“

Bei allen fundamentalen Unterschieden bestehen weitere Affinität zwischen dem Philosophen und dem Politiker zumindest in ihrem Antisemitismus. Aber nicht nur damit sind sie Kontrastpersonen zu Freud, der mit ihnen ansonsten vor allem eines gemeinsam hat: Wie wenige andere prägte er das Denken des 20. Jahrhunderts und noch darüber hinaus. Freud, vor nun 160 Jahren, am 6. Mai 1856 geboren, war Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns und seiner ebenfalls jüdischer Ehefrau Amalia (geb. Nathanson). 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Hitler-Deutschland, floh Freud mit seiner Familie aus Wien nach London und starb am 23. September 1939 im Exil. Zwei Jahre später schrieb Heidegger den inzwischen oft (und auch in literaturkritik.de) zitierten Satz : „Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.“

Nicht nur mit seiner Lebensgeschichte kann Freud als eine symbolische Kontrastfigur zu Heidegger und Hitler fungieren. Es gab zwar etliche prominente Versuche, seine Psychoanalyse mit Heideggers Existenzphilosophie kurzzuschließen, etwa in der maßgeblich von Ludwig Binswanger geprägten „daseinsanalytischen“ Schule der Psychiatrie oder im frühen Werk Jaques Lacans, und manche Ähnlichkeiten in der Skepsis gegenüber einer technischen Moderne, deren Naturbeherrschung ein beängstigendes Potential erreichte. Aber anders als Heidegger, der die wissenschaftliche Rationalität des 19. Jahrhunderts als einen Irrweg verabschiedete, auf dem sich das „eigentliche Sein“ zunehmend verbirgt, blieb Freud den Traditionen aufklärender Vernunft, nicht nur der wissenschaftlichen, auch noch nach der psychoanalytischen Abkehr von seinen neurophysiologischen Anfängen verbunden. Während Heidegger raunend die „Seinsvergessenheit“ der Moderne beschwor und seine apokalyptischen Phantasien nicht zuletzt das  „Weltjudentum“ dafür verantwortlich machten, beendete Freud 1929, wenige Jahre vor Hitlers „Machtergreifung“ seine Reflexionen über das Unbehagen in der Kultur der Moderne mit den ungleich konkreteren und klareren Sätzen:

Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte soweit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.

Und während 1933 in Paris in französischer, englischer und deutscher Sprache Freuds Briefwechsel mit Albert Einstein zur Frage Warum Krieg? erscheint, in dem er Einstein und sich selbst als „Pazifisten“ bezeichnet (beide waren es bereits im Ersten Weltkrieg; vgl. die Wiederveröffentlichungen damaliger Publikationen von Einstein in der Zeit und von Freud in literaturkritik.de), übernimmt Heidegger als Kandidat der NSDAP das Amt als Rektor der Freiburger Universität.

Wissenschaftliche Editionen von Werken, die das 20. Jahrhundert geprägt haben, im Hinblick auf ihre Qualität und öffentliche Resonanz zu vergleichen, kann auch heißen, sie als Symptome unterschiedlicher Wertschätzungen oder Bedeutungszuweisungen zu begreifen. Da gibt es schon zu denken, dass keine Ausgabe von Freuds Werken mit so hohem Aufwand und wissenschaftlichem Anspruch herausgegeben und kommentiert wurde wie jetzt Hitlers Mein Kampf. Während die Editoren dieser Ausgabe ihr Vorgehen detailliert auf fast 90 Seiten erläutern, erledigt das die neue Gesamtausgabe Freuds auf vier Seiten und bleibt damit noch knapper als die „Erläuterungen zur Edition“, mit denen 1969 die Studienausgabe Freuds eingeleitet wurden.

Das soll hier nicht missverstanden werden als Kritik an der Edition von Hitlers Kampfschrift. Der mit ihr verbundene Aufwand liefert zweifellos einen erhellenden Beitrag dazu, die Vorgeschichte der NS-Herrschaft besser zu verstehen. Aber der Vergleich mit alten und neuen Editionen von Freuds Werken verweist noch einmal sehr deutlich auf die bisherige Misere im wissenschaftlichen Umgang mit ihnen. Die haben dieser Autor und sein Werk angesichts ihrer Bedeutung und ihrer Bemühungen um eine aufgeklärte Humanisierung unserer Kultur nicht verdient. Dabei stehen wie im Fall Hitlers so auch im Fall Freuds der wissenschaftlichen Erschließung dieser Werke keine gravierenden Hindernisse mehr im Wege. Die Rechte an diesen Texten sind 70 Jahre nach dem Tod der Autoren frei geworden.

Was das für die Wissenschaft bedeutet, lässt sich an dem Gegenbeispiel Heidegger ablesen. Die Rechte an seinem Werk werden erst 2046 frei. Wie es hier mit der „Freiheit der Forschung“ steht, hat die Heidegger-Forscherin Marion Heinz in dem bereits zitierten Gespräch mit Thomas Assheuer beklagt: „Die Freiheit der Forschung ist in diesem Fall privatrechtlich auf die Einsichtnahme eingeschränkt. Die Publikation der Forschungsergebnisse dagegen ist, sofern sie mit Belegen aus den Briefen versehen werden, auf die Genehmigung der Familie angewiesen.“ Für ein derart restriktives Verhalten gebe es auch andere Beispiele, aber im „Fall von Heidegger gibt es eine besondere Provokation: Die Forschung bemüht sich seit Jahrzehnten, die Wahrheit über seinen Einsatz für den Nationalsozialismus ans Licht zu bringen und damit die Irreführungen der Öffentlichkeit durch Heidegger selbst aufzudecken. Dass die Publikation solcher Ergebnisse durch die Familie verhindert werden kann und auch – wie im Falle von Sidonie Kellerers Forschungen über Die Zeit des Weltbildes – verhindert werden, das ist schwer erträglich.“

Trotz solcher Hindernisse ist die wissenschaftliche Edition von Heideggers „Gesamtwerk“ weit fortgeschritten. Sie umfasst geplante 102 Bände, der (zeitlich) erste erschien 1975, als der Philosoph noch lebte. Die Ausgabe ist noch nicht abgeschlossen, unter anderen fehlt der Band mit seinem Hauptwerk Sein und Zeit, aber die meisten Bände liegen inzwischen vor. Warum dagegen erst jetzt das Gesamtwerk Freuds zu erscheinen beginnt und welche Hindernisse die bisherigen Editionen seiner Werke beeinträchtigten, ist eine Geschichte für sich. Anna Freud, die Tochter, hat sie im Vorwort zu den 1952 im Londoner Verlag Imago Publishing vollständig vorliegenden und 1999 auch im Fischer Taschenbuch Verlag erschienenen Gesammelten Werken in 18 Bänden skizziert, Ilse Grubrich-Simitis in ihrer Einleitung zu dem 1987 erschienenen, von Angela Richards herausgegebenen Nachtragsband fortgesetzt: Der Internationale Psychoanalytische Verlag in Wien, der die ersten Gesammelten Schriften von Sigm. Freud noch zu dessen Lebzeiten publizierte, wurde im März 1938 von den Nationalsozialisten liquidiert. Um einen Ersatz für die dabei in mehreren Tausend Exemplaren eingestampfte Ausgabe zu schaffen, begann im Herbst 1938 in London die Arbeit an den Gesammelten Werken. Nach Kriegsbeginn im September 1939 führte die Emigration von zwei Herausgebern (Edward Bibring und Ernst Kris) in die USA sowie die chronische Überlastung der Druckereien und Buchbinder zu erheblichen Verzögerungen. Immerhin konnten Anfang 1940 zwei Bände erscheinen und im Laufe des Krieges noch sechs weitere. Sieben Jahre nach Kriegsende konnte die Ausgabe vorläufig abgeschlossen werden.

Wie Ilse Grubrich-Simitis in dem Nachtragsband zugesteht, war sie, „was Textbestand und editorischen Apparat betraf“, der englischen Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, die 1956–1974 bei Hogarth Press in London erschien, deutlich unterlegen. In England ging man mit den übersetzten Werken Freuds professioneller um als in Deutschland mit den deutschsprachigen Originalen. Der Herausgeber der Standard Edition, James Strachey, erklärt Grubrich-Simitis,

hatte, unterstützt vom Londoner Institut of Psycho-Analysis, in jahrelanger Arbeit eine Freud-Editionskultur begründet, für die es hierzulande keine Entsprechung gab. Vielmehr mußten die Psychoanalytiker in der Bundesrepublik vordringlich darauf bedacht sein, die vom Hitler-Regime zerschlagene Tradition der Psychoanalyse wiederzubeleben und hinsichtlich Ausbildung und Wissensstand die Verbindung zu den neuen, insbesondere angloamerikanischen Zentren analytischer Forschung aufzunehmen.

Inzwischen hatte der aus der Emigration zurückgekehrte S. Fischer Verlag 1960 die Rechte an Freuds Werk von dessen Londoner Exilverlag Imago Publishing Company übernommen, suchte zur Vervollständigung der Gesammelten Werke Hilfe bei James Strachey und seiner engsten Mitarbeiterin Angela Richards. Vor allem sie half dann auch als Mitherausgeberin (zusammen mit Alexander Mitscherlich und Strachey) bei der Edition der zwischen 1969 und 1975 erschienenen Studienausgabe in zehn Bänden. In ihr wurden die Kommentare der Standard Edition weitgehend übernommen, übersetzt und damit deutschsprachigen Lesern zugänglich gemacht. Die Ausgabe enthält jedoch nur eine Auswahl von Freuds Werken und beispielsweise nicht das „Urbuch der Psychoanalyse“ (Grubrich-Simitis), die Studien über Hysterie.

Ilse Grubrich-Simitis, die im Verlag die verantwortliche Lektorin war, konstatierte denn auch 1987 mit Recht, dass die bisherigen Ausgaben nur „so etwas wie eine solide Zwischenstation […] auf dem Wege zu einer definitiven historisch-kritischen deutschen Freud-Gesamtausgabe“ sind, „die auch die voranalytischen Werke und die Briefe zu umfassen hätte. Diese Edition ist und bleibt ein Desiderat.“ In einem Beitrag zu dem 2006 erschienenen Freud-Handbuch formulierte sie knapp zwei Jahrzehnte später abschließend in kritischerem Ton: „Deren Verwirklichung freilich bleibt eine Aufgabe der Zukunft. Und es ist festzuhalten: solange die in London entstandenen Gesammelten Werke nach wie vor die umfassendste deutschsprachige Edition sind, ist der Autor Freud gleichsam nicht aus dem Exil zurückgekehrt.“

Keine Rückkehr Freuds aus dem Exil?

Bahnt sich nun diese Rückkehr an? Das Gesamtwerk Freuds erscheint seit August 2015 und müsste, wenn die Verlagsankündigung sich bewahrheitet, mit insgesamt 23 Bänden spätestens innerhalb eines Jahrzehnts vollständig vorliegen. Auf ein kühnes Unternehmen haben sich da der Herausgeber und der in Sachen Psychoanalyse einschlägig ausgewiesene Verlag eingelassen, anscheinend ohne finanzielle Förderung irgendwelcher anderer Institutionen, wie es sonst bei solchen Projekten üblich ist, und ohne ein Kollektiv dafür eigens angestellter Mitarbeiter. Lediglich einer, Urban Zerfaß, wird genannt, ein Berliner Antiquariatsbuchhändler, spezialisiert auf Psychologie und Psychiatrie, zugleich Aufsichtsratsvorsitzender in der Genossenschaft der Internet-Antiquare, also auch mit anderen Dingen als mit dieser Edition beschäftigt. Der Herausgeber Christfried Tögel selbst ist seit Jahren mit der Geschichte der Psychoanalyse bestens vertraut. 1988 wurde er mit einer Arbeit zum Thema Philosophische, historische und wissenschaftstheoretische Aspekte der Entstehung, Entwicklung und Rezeption der klassischen Psychoanalyse an der HU Berlin habilitiert, war danach Humboldt-Stipendiat am Institut für Geschichte der Medizin in Tübingen, dessem Direktor Gerhard Fichtner seine Forschungen zur Geschichte der Psychoanalyse und Freud-Biographik viel verdanken und bei dem Tögel sich am Ende seiner Einleitung denn auch ausdrücklich bedankt. Als Supervisor eines Forschungsprojekts des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung beteiligte er sich an der „Erfassung und Neuordnung des Freud Museums“ in Wien und arbeitete von 1994 bis 1999 am Freud-Museum in London. Er hat mehrerer Editionen von Briefen Freuds vorgelegt und etliche, auch populärwissenschaftliche Bücher zur Traumforschung und zur Freud-Biographik veröffentlicht.

2003 bis 2015 war er neben der Leitung eines Sigmund-Freud-Zentrums in Magdeburg Direktor des Salus-Instituts, das sich die „Professionalisierung von Fach- und Führungskräften aus der Sozialen Arbeit“ zur Aufgabe gemacht hat. Tögel hat offensichtlich nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch Management-Qualitäten. Er lebt inzwischen in Lausanne, wo seine Frau, Ginka Tögel, als Professorin und Programmleiterin an der Business School arbeitet. Derartiges sei hier deshalb angemerkt, weil die Arbeit an der Gesamtausgabe von solchen unternehmerischen Fähigkeiten deutlich geprägt ist.

Die Arbeit an der Ausgabe wirkt perfekt durchgeplant. 20 Bände enthalten die von Freud „zur Veröffentlichung bestimmten Arbeiten“, Band 21 präsentiert Zusammenfassungen seiner zu Lebzeiten unveröffentlichten Vorträge und Abdrucke von Interviews mit ihm, Band 22 bringt eine Chronologie von Ereignissen aus Freuds Leben und Band 23 ein Gesamtregister. Ein System von Abkürzungen in dieser SFG (Sigmund-Freud-Gesamtausgabe) erspart Platz, die strikt chronologische Anordnung der Texte nach ihren Ersterscheinungsdaten in Band 1-20 die Mühe, sie unter thematischen Gesichtspunkten zusammenzustellen. Die Texte werden zur Vereinfachung von Verweisen auf sie nicht durchnummeriert, sondern erhalten eine sinnvoll orientierende Kürzel, der erste aus dem Jahr 1877 zum Beispiel „1877-01“.

Die Richtlinien der Edition hat der Herausgeber mit ökonomischer Knappheit auf vier Seiten klar, stringent und übersichtlich formuliert. Jeder der fünf bislang vorliegenden Bände, ein sechster soll in Kürze erscheinen, wird im sparsamen Umfang jeweils ziemlich genau einer Seite eingeleitet. Von Aufwandsersparnis ist auch die Arbeit an den Druckvorlagen geprägt. Prinzipiell wird auf die Erstveröffentlichungen zurückgegriffen. Vergleiche mit späteren Fassungen, auch wenn sie von Freud selbst verbessert wurden, sind damit nicht nötig. Offensichtliche Druckfehler werden zwar wie schon in den Gesammelten Werken „stillschweigend“ korrigiert, aber auf alle weiteren Änderungen und Verständnishilfen wird verzichtet. Das heißt: keine orthographischen Vereinheitlichungen, keine Übersetzungen fremdsprachiger Texte, keine Erklärungen medizinischer Fachbegriffe, keine Korrekturen oder Ergänzungen fehlerhafter oder unvollständiger Quellenangaben Freuds, keine nachträglichen Querverweise auf spätere Texte zum gleichen Thema.

Ökonomischer geht’s kaum. Bei der Texterfassung konnte in den meisten Fällen auf bereits Digitalisiertes zurückgegriffen werden. Und ohne diese Sparsamkeit wäre diese Gesamtausgabe mit so wenig Personal und innerhalb eines so kurzen Zeitraums wohl gar nicht realisierbar. Allerdings bleibt sie damit hinter den Qualitäten der deutschen Studienausgabe und der englischen Standard Edition zurück und nach wie vor weit entfernt von jeglichen Ansprüchen an eine historisch-kritische Ausgabe. Kleinere Zutaten oder zumindest Versprechungen sollen aber nicht unerwähnt bleiben: Jedem Text stellt der Herausgeber „eine Einführung in den biografischen und wissenschaftshistorischen Zusammenhang“ voran und bei den abgedruckten Rezensionen Freuds eine Einleitung zu denen, die in einer bestimmten Zeitschrift erschienen sind. Diese Einleitungen sind durchaus hilfreich für das Verständnis der Texte, bleiben aber im Vergleich mit den Kommentaren in der Studienausgabe meist oberflächlich. Band VI der Studienausgabe beispielsweise mit Freuds gesammelten Schriften zu Hysterie und Angst beginnt mit einem 1893 in der Wiener medizinischen Presse unter dem Namen von Freud und Josef Breuer erschienenen Vortrag Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Die „Editorische Vorbemerkung“ weist darauf hin, dass es sich hierbei nicht um einen gemeinsam formulierten Vortragstext beider handelt, sondern „um die stenographische, von Freud revidierte Nachschrift eines von ihm gehaltenen Vortrages“. Sie verweist weiterhin mit Zitaten auf die späteren zusammen mit Breuer verfassten Studien über Hysterie, auf die Bedeutung, die der Vortrag mit der Beschreibung der kathartischen Behandlungsmethode für die Geschichte der Psychoanalyse hatte, und auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen Freud und Breuer, die später zu ihrer Trennung geführt haben. Als besonders auffallend hebt die Vorbemerkung schließlich „das Übergewicht des traumatischen Faktors unter den für die Hysterie angegebenen Ursachen“ hervor. In etlichen Fußnoten werden darüber hinaus Begriffe und Anspielungen kommentiert.

Die Vorbemerkung des Herausgebers zum Abdruck in Band 4 des Gesamtwerks beschränkt sich dagegen auf einen einzigen Satz. Zwar geht die Vorbemerkung zum Abdruck einer bereits im Januar 1893 erschienenen „Vorläufigen Mitteilung“ mit demselben Titel, die später in den Studien über Hysterie wörtlich übernommen wurden, ebenfalls auf die Zusammenarbeit zwischen Freud und Breuer ein, aber auch das unterbietet den Informationsgehalt der Studienausgabe erheblich. Dabei zeigt der Herausgeber allerdings wie in seinen Vorbemerkungen zu anderen Texten mit Zitaten aus Freuds Briefen, womit eine neue Edition die früheren ergänzen und übertreffen kann. Grubrich-Simitis hatte 1985 bereits darauf hingewiesen: auf die für eine solche Edition „gewichtigen Korrespondenzen“ Freuds, die zum Teil noch nicht veröffentlicht waren. Tögel kennt sie gut und nutzt sie immer wieder zur Erhellung biographischer Zusammenhänge, in denen die Texte Freuds stehen.

Kleinere editorische Zutaten zum bloßen Nachdruck der Erstveröffentlichungen verspricht die Gesamtausgabe mit Korrekturen „bei offensichtlich falsch geschriebenen Namen“, bei denen „in Fußnoten die korrekte Schreibweise angegeben“ wird. Die ganz seltenen und etwas zufällig wirkenden Anmerkungen des Herausgebers in den bislang vorliegenden Bänden mit Hinweisen und Korrekturen (auch zu falschen Jahreszahlen) nehmen jedoch so gut wie keine Namenskorrekturen vor. Eine Ausnahme ist die Anmerkung zu Freuds Rezension über Die Migräne. Von G. J. Moebius. Hier steht die nicht sonderlich aufschlussreiche Richtigstellung: „Ob der Fehler bei den Initialien – G. J. Moebius statt P. J. Moebius – von Freud stammt oder ein Druckfehler der Zeitschrift ist, lässt sich nicht mehr feststellen [Anmerkung des Herausgebers].“ Schwer festzustellen ist, ob der Fehler ein Zufallsfund des Herausgebers war oder ob die zahllosen Namen, die in Freuds Schriften genannt werden, wirklich einigermaßen systematisch überprüft wurden. Der Aufwand dafür wäre jedenfalls erheblich.

Was frühere Freud-Ausgabe in dieser Hinsicht versäumt haben, mag ein für literarisch interessierte Leser nicht ganz belangloses Beispiel (vgl. dazu die Hinweise in literaturkritk.de) zeigen: In seinem Aufsatz über Das Unheimliche von 1919 interpretierte Freud E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und schrieb dort durchgängig den Namen des Protagonisten falsch. Er heißt Nathanael und nicht Nathaniel. Eine aufschlussreiche und daher erhaltenswerte Fehlleistung liegt dem wohl kaum zugrunde, sondern ein pures Versehen. Doch in allen bisherigen Nachdrucken des Aufsatzes blieb „Nathaniel“ stehen. Warten wir ab, ob die Gesamtausgabe den Fehler korrigieren wird.

Von Fehleranfälligkeit bei der Namensschreibung ist sie übrigens selbst nicht ganz frei. Dafür ebenfalls ein Beispiel: Durchsucht man als kulturwissenschaftlich interessierter Leser die hilfreichen Personenregister am Ende eines jeden Bandes zu der Frage, ab wann in Freuds frühen Schriften die später so ausgeprägten Interessen an Literatur, Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften nachweisbar sind, so stößt man in Band 5 mit Freuds Veröffentlichungen aus den Jahren 1895 und 1896 auf Namen wie Goethe, Shakespeare, Uhland oder vor allem Kant. In den früheren Schriften sind sie alle noch nicht genannt, in den Registern der Bände 2 bis 4 wird man hingegen auf sieben Nennungen des englischen Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill verwiesen. Will man auf den angegebenen Seiten nachlesen, was Freud über ihn geschrieben oder in welchem Zusammenhang er ihn erwähnt hat, so muss man allerdings feststellen, dass es sich in drei Fällen dort nicht um John Stuart Mill, sondern um den amerikanische Neurologe Charles Karsner Mills handelt, der in Freuds Literaturhinweisen mit C. K. oder Ch. K. Mills angeführt wird und der wie Freud mit der Aphasie-Forschung befasst war. In zwei anderen Fällen steht in den Texten nicht J. S. Mill, sondern J. M. Mill. Dort wird Freud als Übersetzer des 12. Bandes von „J. M. Mills gesammelten Werken, her. v. Th. Gomperz, Leipz. 1880“ angegeben. Freud hat hier in der Tat Mills Aufsätze  Ueber Frauenemancipation, PlatoDie  Arbeiterfrage, Der Socialismus übersetzt. (Einen Nachdruck seiner Übersetzungen hat die Gesamtausgabe, nebenbei bemerkt, nicht vorgesehen.) Aber sie sind eben von J. S. und nicht J. M. Mill. Der Fehler ist vom Herausgeber nicht angemerkt worden.

Hingewiesen sei schließlich auf seine Ankündigung, dass den Abdrucken der Erstauflagen von Freuds Buchveröffentlichungen weitere Auflagen, „sofern sie verändert sind, digital zur Verfügung gestellt“ werden. Wie dies geschieht, bleibt bisher im Dunkeln. Das Verhältnis von gedruckten und digitalen Editionen, das hier beiläufig angesprochen wird, verdient aber auch im Hinblick auf die vom Herausgeber besonders hervorgehobene Leistung dieser Gesamtausgabe eine genauere Reflexion, im Blick auf die Leistung nämlich, vollständig „Freuds voranalytische Schriften, das heißt die Publikationen, die zwischen 1877 und 1993/94 erschienen sind“ und von denen nur wenige in früheren gedruckten Ausgaben vorliegen, zu veröffentlichen. In einer Fußnote informiert der Herausgeber allerdings darüber, dass „viele voranalytische Schriften“ in „elektronischer Form“ bereits publiziert und verfügbar sind. Er nennt dabei als Beispiel die digitale Freud-Ausgabe, die unter dem Titel Freud im Kontext erschienen ist. Hier sind die frühen Schriften zwar nicht „im Internet zu finden“, wie es in der Fußnote heißt, aber seit 2010 im Rahmen „Gesammelter Schriften auf CD-Rom“, und zwar in einer Edition, die für sich beansprucht, die „erste Werkausgabe mit dem gesamten zu Lebzeiten Sigmund Freuds publizierten Werk“ zu sein. 

Gedruckte kontra digitale Edition? Beobachtungen (nicht nur) zum Frühwerk Freuds

Vergleicht man die Erfassung des Frühwerks in beiden Ausgaben, ohne die grundsätzlichen Unterschiede zwischen gedruckten und digitalen Texten mit ihren jeweiligen Vorzügen zu berücksichtigen, nur im Hinblick auf ihren Anspruch auf Vollständigkeit, so schneidet das gedruckte Gesamtwerk zumindest im Hinblick auf eine wissenschaftliche Textsorte deutlich besser ab. Beide enthalten zahlreiche Rezensionen des jungen Freud aus diversen medizinischen Zeitschriften. Doch viele, die in der gedruckten Gesamtausgabe stehen, sind den Herausgebern der digitalen Ausgabe entgangen. Ohne Begründung oder auch nur Erwähnung enthält die gedruckte Edition im Gegensatz zur digitalen allerdings nicht die allererste Publikation von Freud – aus dem Jahr 1871: fünf Sentenzen, die unter dem für die Psychoanalyse der freien Assoziation zukunftsweisenden Titel Zerstreute Gedanken in einer Schülerzeitschrift erschienen und 1974 von Kurt R. Eissler im Jahrbuch der Psychoanalyse wieder zugänglich gemacht wurden.

Dass das Frühwerk Freuds mit seinen „voranalytischen Schriften“ in vier Bänden fast komplett und zuverlässig erfasst in gedruckter Form vorliegt, darf aber wohl als ein Ereignis eingeschätzt werden, auf das zumindest professionelle Freud-Leserinnen und Leser und ein wissenschaftsgeschichtlich interessiertes Publikum lange gewartet haben. Vor etwa drei Jahrzehnten schloss Ilse Grubrich Simitis ihre hier bereits mehrfach zitierte Einleitung zum Nachtragsband der Gesammelten Werke mit dem Satz ab: „Daneben wird bereits seit längerem an einer vierbändigen Edition der thematisch weit verzweigten und heute zumeist nur in entlegenen Fachzeitschriften zugänglichen voranalytischen Schriften Freuds gearbeitet, also der Erschließung eines Werkbereichs, dem sich das wissenschaftsgeschichtliche Interesse in letzter Zeit verstärkt zugewendet hat.“

Eine für das Jahr 2001 angekündigte, maßgeblich von dem Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms betreute Gesamtausgabe aller neurowissenschaftlichen Schriften Freuds (ebenfalls in vier Bänden) ist immer noch nicht erschienen. Die Kalkulation des Zeitaufwandes für die vorgesehene Kommentierung ist eben ungleich schwerer als die für bloße Textwiedergaben. Dass Freud selbst sich später über seine frühen zoologischen, histologischen und neurologischen Schriften ziemlich skeptisch geäußert hat, war vorher schon ihrer Wiederveröffentlichung nicht förderlich. Aber das wissenschaftsgeschichtliche Interesse an ihnen ist inzwischen noch gestiegen sein, seitdem Psychoanalyse und Neurologie sich einander angenährt haben oder Phänomene, die von der Psychoanalyse mit Begriffen wie Übertragung und Gegenübertragung reflektiert werden, zum Abgleich mit kognitionspsychologischen Konzepten anregen. Vor allem Freuds erste Buchveröffentlichung Zur Auffassung der Aphasien von 1891 (jetzt in Bd. 3 nachzulesen) mit ihren Versuchen, mehrere Typen von Sprachstörungen zu unterscheiden, dürfte besonders für die Neurolinguistik von nicht nur historischem Interesse sein. Und dass die Sprache und das Sprechen, das später für die psychoanalytische Talking Cure eine herausragende Bedeutung hat, hier im Zentrum der neurologischen Untersuchungen steht und dabei „Assoziation“ einer der häufigsten Begriffe ist, zeigt, dass der Bruch zwischen Freuds Psychoanalyse und seinen „voranalytischen Schriften“ nicht so groß ist, wie es lange Zeit behauptet wurde.

Freuds auch für Laien leicht lesbare Schriften über Kokain, die von ihm zwischen 1884 und 1887 veröffentlicht und 1996 erstmals gesammelt nachgedruckt wurden und jetzt verstreut in den Bänden 1 und 2 der Gesamtausgabe nachzulesen sind, haben ebenfalls etliche Eigenschaften, von denen die späteren psychoanalytischen Schriften geprägt sind. In seinen hoch ambitionierten Versuchen, seine (bald widerlegte) These zu fundieren, dass die schmerzstillende und bei Morphiumabhängigkeit auch therapeutische Wirksamkeit des Kokains frei von schädlichen Nebenwirkungen sei, berief er sich auf Selbsterfahrungen beim Kokainkonsum und verwendete in Ansätzen Erzählformen von Fallgeschichten, wie sie in den Studien über Hysterie bald noch ausgeprägter zur Geltung kamen. Vor allem aber werden hier bereits seine kulturgeschichtlichen Interessen sichtbar, mit denen er später die Psychoanalyse gleichsam archäologisch bereicherte. Zwei Kapitel seiner Studie Ueber Coca, 1884 im Centralblatt für die gesammte Therapie veröffentlicht, skizzieren die Geschichte früherer Verwendung von Cocablättern. Sie beginnen mit den Sätzen:

Als die spanischen Eroberer nach Peru drangen, fanden sie die Cocapflanze im Lande kultiviert und im hohen Ansehen, ja selbst in innige Beziehungen zu den religiösen Gebräuchen des Volkes gebracht. Die Sage erzählte, daß Manco Capac, der göttliche Sohn der Sonne, in der Urzeit von den Felsen des Titicacasees herabgestiegen sei, und das Licht seines Vaters den armseligen Einwohnern gebracht habe, daß er sie die Kenntnis der Götter, die Ausübung der nützlichen Künste lehrte und ihnen die Coca schenkte, diese göttliche Pflanze, welche den Hungrigen sättigt, den Schwachen stärkt, und sie ihr Mißgeschick vergessen macht. Cocablätter wurden den Göttern zum Opfer gebracht, Cocablätter während der gottesdienstlichen Handlungen gekaut, selbst den Toten Coca in den Mund gesteckt, um sie einer günstigen Aufnahme im Jenseits zu versichern.

Freuds Rückgriffe auf Sagen und Mythen prägten später mit Namen wie Ödipus oder Narziss zentrale Begriffe der Psychoanalyse. Freuds „voranalytisches“ Frühwerk, das wird mittlerweile immer deutlicher, ist von der Geschichte der Psychoanalyse nicht zu separieren, sondern trägt zu ihrem besseren Verständnis bei. Insofern ist es nur zu begrüßen, dass es inzwischen so umfassend und gut erschlossen ist. Aber ist schon damit das Konzept dieser neuen Ausgabe gerechtfertigt?

Was in den bisherigen digitalen Ausgaben mit vergleichbar umfassendem Anspruch wie Freud im Kontext oder Sigmund Freud: Das gesamte Werk in der Reihe Past Masters des US-amerikanischen Verlages InteLex bislang fehlt, wird sicher bald hinzugefügt werden. Es gehört zu den vielen Vorzügen digitaler Editionen, dass sie laufend korrigiert und komplettiert werden können. Lücken und Fehler der gedruckten Gesamtausgabe lassen sich hingegen kaum noch beseitigen. Und der finanzielle Aufwand beim Satz und Druck für den Verlag und damit auch für potentielle Leser bzw. Käufer ist in Relation zu den Kosten der Herstellung und beim Kauf digitaler Ausgaben enorm. Gewiss, Freuds Schriften (und nicht nur seine) in gedruckten Büchern zu lesen, behält einen nicht nur an alten Gewohnheiten fixierten Reiz. Aber wer wird die ersten fünf Bände für 500 Euro kaufen oder die komplette Ausgabe zum ermäßigten Preis von 1.638,80 Euro vorbestellen? Außer etlichen wissenschaftlichen Bibliotheken wohl nur ganz wenige Privatkäufer, Spezialisten mit bibliophilen Neigungen.

Auch die für heutige Leser gewöhnungsbedürftige Typographie der Bände, die etwas von der Aura wissenschaftlicher Druckwerke um und nach 1900 zu erhalten versucht, vermittelt den Eindruck, dass die neue Gesamtausgabe eine Art  Prestigeobjekt ist, das sich mit heroischem Trotz und Mut zum finanziellen Risiko den unaufhaltsamen Tendenzen zur Digitalisierung im Bereich wissenschaftlicher Editionen widersetzt. Der Herausgeber zeigt sich einleitend denn auch in angemessener und angenehmer Weise bescheiden, nennt sein Editionsprojekt jedenfalls selbst „bescheiden“, aber, wie er hinzufügt, „auch nicht unwichtig“. Die Ausgabe soll „ein weitgehend authentisches Bild“ vermitteln, „wie Freud seine Arbeit der Öffentlichkeit zum jeweiligen Zeitpunkt präsentieren wollte“. Alles was diese Ausgabe nicht leistet, so gesteht Tögel offen ein und wiederholt damit den Befund von Grubrich-Simitis vor dreißig Jahren, „bleibt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe vorbehalten, die seit Jahrzehnten überfällig ist.“

Eine Fußnote dazu erwähnt mit Angabe der Internet-Adresse das Projekt Sigmund Freud. Digitale Edition (www.freud-edition.net), auf dessen abschließende Realisierung man voraussichtlich noch viele weitere Jahrzehnte warten muss. Aber was da seit 2009 in Gang gesetzt wurde, berechtigt zu einigen Hoffnungen. Das Projekt ist institutionell verankert in der Wiener Psychoanalytische Vereinigung und Wiener Psychoanalytische Akademie, seit 2014 in Kooperation mit der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Die Impressumsseite ermöglicht einen Blick auf die bisherige Entwicklung und weitere Planung, erwähnt „sehr kritische Diskussionen“, die darüber geführt wurden (ein Protokoll dazu wäre aufschlussreich), informiert über das Team von MitarbeiterInnen und die Finanzierung durch private und öffentliche Einrichtungen. Ein Work in progress liegt hier vor, das für alle kostenlos zugänglich ist und Interessenten zur kritischen Beteiligung einlädt. Mit Präsentationen von Briefen Freuds und seines handschriftlichen Manuskripts zu dem Aufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod  sind hier erste exemplarische Ergebnisse veröffentlicht.

Das Projekt könnte zu einem Vorbild für künftige historisch-kritische Editionen werden, nicht nur die von Freuds Werk. Eine gedruckte Fassung ist bislang nicht vorgesehen, kann aber durchaus daraus hervorgehen. Es scheint jedenfalls so, dass Freud nicht mehr schlechter ediert bleibt als Heidegger oder Hitler und dann „der Autor Freud gleichsam […] aus dem Exil zurückgekehrt“ ist – nach Wien.

Titelbild

Sigmund Freud: Gesamtausgabe. Band 1-4. 1877-1894 (Die voranalytischen Schriften).
Herausgegeben von Christfried Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfaß.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2015.
1729 Seiten, 299,00 EUR.
ISBN-13: 9783837925050

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Sigmund Freud: Gesamtausgabe. Band 5. 1895-1896.
Herausgegeben von Christfried Tögel unter Mitarbeit von Urban Zerfaß.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2015.
530 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783837924053

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch