Wolfgang Koeppens „Jugend“: Dichtung und Wahrheit

Zur langen Vorgeschichte und zum Drama der Veröffentlichung eines außergewöhnlichen Fragments

Von Eckhard SchumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eckhard Schumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Koeppens Jugend ist im Herbst 1976 als Band 500 der Bibliothek Suhrkamp erschienen. Es handelt sich um das erste Buch, das Koeppen seit Abschluss des Vertrages mit Siegfried Unseld über zwei Romane und ein Bühnenstück im Jahr 1960 für den Suhrkamp Verlag geschrieben hat. Was sechzehn Jahre später vorlag, war aber nicht der vielfach angekündigte, lang erwartete Roman, sondern ein schmales, etwas mehr als 140 Seiten umfassendes Buch. Ein dichter, bildreicher, sperriger Prosatext, der für Irritationen sorgt, aber überaus positiv aufgenommen wird – von der Literaturkritik, von Kollegen wie von einem überraschend großen Lesepublikum. Da auch in den folgenden zwanzig Jahren kein Roman von Koeppen mehr erscheinen wird, bleibt Jugend letztlich das Buch, mit dem – sieht man von den so wirkmächtigen wie falschen Spekulationen über den „schweigenden“ Autor ab – der späte Koeppen identifiziert wird. Er selbst hat wiederholt zu besonderen Anlässen aus Jugend gelesen und 1987, im Alter von 81 Jahren, eine Lesung des gesamten Buches für einer Studioproduktion auf Band gesprochen, die postum als Hörbuch publiziert wurde.  Nicht zuletzt diese Aufnahme zeigt, dass Jugend auch für den Autor wohl weit mehr als jene „blasse Skizze“ war, als die er das Buch selbst gegenüber seinem Verleger in einem Briefentwurf bezeichnet.

Historisch situiert zwischen dem Ende des Kaiserreichs und den Anfangsjahren der Weimarer Republik, lokalisiert in einem immer auch imaginären Pommern, in dem sich neben Pasewalk, Putbus und Stettin fiktive Orte wie Ephraimshagen oder Wunkenhagen finden, wird als zentraler Schauplatz von Jugend eine Kleinstadt erkennbar, die, obwohl nur einmal namentlich genannt, als Greifswald zu identifizieren ist. Perspektiviert über einen jugendlichen Protagonisten, der als uneheliches Kind zunächst bei der Mutter aufwächst und erfährt, was soziale Deklassierung heißen kann, entwirft das Buch Ansätze einer mehrere Generationen umfassenden Familiengeschichte, die sich in manchen Punkten mit der Koeppens zu treffen scheint. Die Erzählung von einem jugendlichen Außenseiter, dem die Institutionen Schule, Kirche, Universität oder Gericht kaum weniger grauenhaft erscheinen als das preußische Militär-Knaben-Erziehungs-Institut, auf das er im Krieg geschickt wird, entfaltet sich dabei nicht chronologisch linear. Durch verdichtete Bilder, ausgreifende Assoziationsketten und komplexe Satzkaskaden evoziert Koeppen immer nur Bruchstücke des Niedergangs einer Familie, wenn nicht einer Gesellschaft, die durch signifikante Gegenbilder, durch Momentaufnahmen aus Buchhandlung, Theater, Lichtspielhaus oder Revue, noch weiter fragmentiert werden. Grade dadurch wirkt das Erzählte so eindringlich, weil es sich nicht zu einem geschlossenen Ganzen fügt. Es erscheint geradezu konsequent, dass der Text als eine Sequenz von 53 durch Leerzeilen voneinander abgesonderten Passagen komponiert ist, die selbst wiederum als Sequenzen erscheinen. Als Sequenzen von Sätzen, Sprachbildern, Assoziationen, deren Zusammenhang sich nicht allein durch erzähltechnisch motivierte Übergänge, sondern ebenso durch Sprünge und Brüche im Zeit- und Raumgefüge ergibt, durch Unterbrechungen und Lücken, die für die Erzählweise in dem Sinn konstitutiv sind, in dem sie den Prozess der Erinnerung mitbestimmen.

Koeppen selbst hat das Buch, das ohne Gattungsbezeichnung erscheint, wenige Monate vor der Fertigstellung im Frühjahr 1976 als „Fragmentband“ bezeichnet. In seinem Nachlass findet sich ein nicht datierter Titelblatt-Entwurf, bei dem der Titel „Jugend“ mit dem Zusatz „Fragment einer Fiktion“ versehen wird. Mit der nur in diesem Entwurf verwendeten Formulierung führt Koeppen zwei Stichworte zusammen, die die Entstehung wie die Rezeption von Jugend insofern prägen, als die Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Autobiographie ebenso virulent erscheint wie die Frage nach Form und Status des Textes. Denn auch rückblickend ist nicht eindeutig zu klären, inwiefern der Band als Fragment konzipiert war, genauso wie es offenbleiben muss, seit wann der Text in der vorliegenden Form als selbständige Publikation geplant war und wie er sich zu den seit den fünfziger Jahren immer wieder neu aufgelegten, aber nie realisierten Plänen für einen neuen Roman verhält, den Koeppen zumindest zeitweise auch als einen autobiographischen konzipiert hat.

„Ich habe versucht, einen autobiographischen Roman zu schreiben. Aus diesem Versuch ist einiges veröffentlicht worden in der Zeitschrift ,Merkur’. Ich habe aber diesen Plan des autobiographischen Romans verändert, weil mich die romanhafte Form anfing zu stören“, erläutert Koeppen im Januar 1974, zweieinhalb Jahre vor dem Abschluss der Arbeit an Jugend, den Prozess der Formfindung für ein Projekt, das sich offenbar bewusst vom Roman abwenden, aber weiterhin autobiographische Züge tragen soll. Auf der Suche nach einer adäquaten Form stößt er auf die Anti-Memoiren von Malraux, verweist aber insbesondere auf Novalis und Majakowski, mit denen er wichtige Impulse für das eigene Schreiben markiert: „Mich fesseln Lebensläufe in Fragmenten, innere Autobiographien wie all die Notizen von Novalis. Er hat sich in diesen Stücken nicht verzettelt, wie manche meinen. Die Fragmente des Herrn von Hardenberg sind ein einziger großartiger innerer Monolog. Lange vor Joyce. Aus Texten Majakowskis wurde eine Autobiographie ,Ich’ zusammengestellt, ein Zeitbild, eine Gestalt, faszinierend, poetisch durch das Geheimnis des Fragments.“

Als Marcel Reich-Ranicki 1985, neun Jahre nach der Veröffentlichung von Jugend, das Buch als „unzweifelhaft autobiographisch“ bezeichnet, warnt Koeppen: „In ,Jugend’ ist viel fabuliert, steckt viel Phantasie. Man könnte danach keine realen biographischen Aufzeichnungen über mich machen.“ Der Annahme, das Buch sei in einem programmatischen Sinne ein Fragment und „konnte wohl nur ein Fragment sein“, begegnet Koeppen ebenfalls mit der erwartbaren Zurückhaltung. „Aus ,Jugend’ sollte eigentlich ein großer Roman werden“, relativiert er Reich-Ranickis These, und auch die Vermutung, dass es ein autobiographischer Roman werden sollte, bestätigt Koeppen nur zögerlich: „Ein autobiographischer, ja, oder jedenfalls mit starken autobiographischen Motiven. Zu dem großen Roman kam es aber nicht. Es gab viele Ansätze dazu, die dann veröffentlicht worden sind und von mir auch als Buch gebilligt wurden.“

Mit dieser Formulierung hat Koeppen den ohnehin kursierenden Verdacht verstärkt, er habe Jugend nicht selbst „als Buch“ konzipiert, andere hätten ihn dazu gedrängt, es für ihn aus vorliegendem Material zusammengestellt und er habe der Publikation nur zugestimmt, sie „gebilligt“. Mit Blick auf die Korrespondenz mit Siegfried Unseld und Marcel Reich-Ranicki wie auf eine Vielzahl von weiteren Nachlass-Dokumenten, die Jugend zugeordnet werden können, erweist sich diese Annahme als nicht tragfähig. Was schon angesichts des in seiner offenen, fragmentierten Form sorgfältig komponierten Buchtextes nahelag, findet im Nachlass seine Bestätigung: Selbst wenn der Prozess des Schreibens durch andere begleitet und zuletzt entscheidend forciert wurde, ist zunächst festzuhalten, dass Koeppen Jugend in der vorliegenden Form als eigenständigen Text konzipiert und die Satzvorlage eingerichtet hat.

Dass die Entstehungsgeschichte des Buches gleichwohl nicht unkompliziert verlief, lässt sich aus den wechselnden Überlegungen zur Formfindung (Roman versus Fragment) sowie aus den sich immer wieder durchkreuzenden Annäherungs- und Absetzungsbewegungen gegenüber Modellen und Möglichkeiten autobiographischen Schreibens erschließen. Hinzu kommt, und das erschwert die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte: Koeppen hat spätestens seit Anfang der sechziger Jahre, und damit über einen Zeitraum von wenigstens fünfzehn Jahren, an Passagen gearbeitet, die in das Buch aufgenommen wurden. In vielen Fällen waren sie zunächst für andere Vorhaben vorgesehen, nicht zuletzt für den nie realisierten „großen Roman“, als Buch ist aus diesen weit ausgreifenden Arbeiten aber nur Jugend hervorgegangen.

Erste Überlegungen zur Thematik reichen noch sehr viel weiter zurück. Bereits 1937 erwähnt Koeppen in einem Brief, der Gedanke zu einem Buch, „das in G.[reifswald] spielen soll“, sei „nicht neu“: „Früher ausgeführt, wäre es ein Roman der Erregung geworden; es soll aber eine Schrift ruhigster Betrachtung werden. Die schönsten Schöpfungen der Literatur sind immer Dichtungen aus einer Erinnerung gewesen.“ Konkretere Hinweise auf ein Romanprojekt mit autobiographischen Zügen, von dem sich in Jugend Ansätze finden lassen, sind seit den fünfziger Jahren dokumentiert.

Die Nachlassbefunde führen klar vor Augen: Koeppen hat an Jugend, anders als im Fall seiner drei Romane aus den fünfziger Jahren, über einen sehr langen Zeitraum gearbeitet. Und sie ermöglichen weitreichende Einblicke in seine Arbeitsweise, es ist ein diskontinuierliches, eruptives, immer wieder neu ansetzendes Schreiben erkennbar, das langfristig komplexe Zusammenhänge entwickelt, die jedoch selten fokussiert werden, sondern diffundieren, sich vervielfältigen oder in Wiederholungen verlieren. Neben verworfenen Anfängen, Textvarianten und nicht eindeutig zuzuordnenden literarischen Entwürfen finden sich im Nachlass-Konvolut Reflexionen zu Schreibverfahren, Gliederungs- und Titelblattentwürfe, Hinweise auf Arbeitsmaterialien, Briefe, Exzerpte aus Zeitungen und Sachbüchern, Umfangsberechnungen, schematische Übersichten und immer wieder Notizen zu Blockaden und Schreibskrupeln.

Es liegt damit, wie Hans-Ulrich Treichel schreibt, „ein Zeugnis ungezählter Schreibanfänge, immer wieder aufgenommener und wieder abgebrochener Schreibversuche“ vor, die, wie Alfred Estermann im Vergleich zu früheren Schreibphasen Koeppens hervorhebt, von einer „ungleich schwierigeren, mühevolleren und langwierigeren Produktionsphase“ zeugen: „Deren Ergebnisse häuften sich zu einem riesigen Steinbruch voller Entwürfe mit Hunderten von Notizen, Ansätzen, Vorfassungen, Änderungen und Umarbeitungen – mehr als ein Dutzendmal der ,verhängnisvolle’ Satz ,Meine Mutter fürchtete die Schlangen’, von dem er ,nicht loskam’ –, ohne jede Hoffnung auf ein vorstellbares Ende der zersplitterten Niederschriften-Konglomerate und auf deren zusammenfassende Schlußredaktion.“ Estermanns Urteil, das, was „zunächst an Druckbarem zu retten war“, sei „1976 als ,Jugend’ veröffentlicht“ worden, reduziert das Buch auf eine bloße Notlösung. Umso mehr ist sein Hinweis zu unterstreichen, was „darüber hinaus an Materialien erhalten blieb“, sei „so umfangreich“, dass es „als eigener Zusammenhang dokumentiert werden müßte“.

Die Neuedition von Jugend nimmt diesen Vorschlag auf, indem sie dem vorliegenden Band der Werke eine digitale textgenetische Edition zur Seite stellt, die das Jugend zuzuordnende Nachlass-Konvolut online verfügbar macht und im Blick auf die Entstehungsgeschichte des Textes mit dem Buch verknüpft. So werden die Komplikationen der Entstehungsgeschichte von Jugend, die an dieser Stelle nur in Ansätzen skizziert werden können, erstmals auf der Grundlage des Nachlasses direkt am Material nachvollziehbar. „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“ – Allein zum Anfangssatz der ersten Sequenz, mit dem 1968 der Merkur-Text Anamnese einsetzt, finden sich auf über 30 Typoskript-Seiten Entwürfe und Varianten, Versuche mit wechselnder Erzählperspektive oder anderen Satzkonstruktionen, teilweise eingebettet in poetologische Überlegungen oder Reflexionen zu Schreibblockaden, wie sie Koeppen 1972 in Vom Tisch weiter ausführt: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen. [/] Ich finde nicht weiter. Dass nichts entsteht. Immer fällt mir dieser Satz ein. Ich scheitere an ihm. Ich schreibe ihn. Die Seiten häufen sich. Meine Mutter fürchtete die Schlangen. […] Die Seiten häufen sich. Bald ist es ein Buch.“

1974 erklärt Koeppen in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold, er habe den „Plan des autobiographischen Romans verändert“, weil ihn „die romanhafte Form anfing zu stören“. Es ist auch mit Blick auf den Nachlass nicht zu klären, ob Koeppen zu diesem Zeitpunkt schon jene Formidee entwickelt, die zur Publikation von Jugend führen wird. Er verfolgt weiterhin verschiedene Romanprojekte und gibt weiterhin Versprechen, diese in absehbarer Zeit abzuschließen. Gegenüber dem Verleger und immer häufiger auch gegenüber Marcel Reich-Ranicki, der seit seiner Übernahme der Leitung des Literaturteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Dezember 1973 Koeppen regelmäßig mit Aufträgen für Essays und Rezensionen versorgt und seit September 1975 zudem für zusätzliche finanzielle Unterstützung sorgt. Ein Jahr lang erhält Koeppen monatlich 1200 DM, ohne dass Reich-Ranicki ihn über die Geldgeber und die Hintergründe der Finanzierung aufklärt: „Sie haben gewiß Ende September 1200,– DM überwiesen erhalten“, schreibt er Koeppen am 10. Oktober 1975: „Sie sollten wissen, daß Sie in Zukunft immer Ende des Monats diesen Betrag erhalten werden. Für eine Weile, mindestens für ein Jahr, ist das ganz und gar gesichert. Über die Herkunft des Geldes brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.“ Erst nach Koeppens Tod gibt Reich-Ranicki genauere Auskünfte über die Zuwendung und korrigiert damit Koeppens Vermutung, es habe sich um eine Unterstützung durch die FAZ gehandelt: „Ich habe mich an einige Schriftsteller gewandt, von denen ich wusste, dass ihre Bücher große Auflagen erzielt hatten, an Frisch, an Grass, an Lenz, auch an Böll, ob sie bereit wären, etwas Geld für ihn zu stiften. Alle haben es getan, am schönsten wohl Max Frisch, denn der hat gleich einen Brief geschrieben: ,Wenn weiteres Geld nötig ist, ein Wort von Ihnen genügt, jederzeit.’“

Reich-Ranicki weist Koeppen ausdrücklich darauf hin, dass für ihn daraus „keinerlei Verpflichtung“ entstehe, er wird aber gerade in dieser Zeit zunehmend in das Ringen um die Fertigstellung des Romans involviert. Schon Anfang 1975 werden Reich-Ranickis Nachfragen zu versprochenen Texten für die FAZ wie auch zum ausstehenden Roman drängender: „Machen Sie, ich bitte Sie dringend, endlich Schluß mit Ihrem Roman. […] Vielleicht kann das Buch dünner sein, als Sie ursprünglich geplant hatten? Es ist besser, daß Sie es gewissermaßen als Bruchstück publizieren, als wenn Sie es immer weiter vor sich herschieben.“

In welchem Maße Reich-Ranicki an den Versuchen beteiligt ist, Koeppen zur Fertigstellung des ersten Buches für den Suhrkamp Verlag zu drängen, wird ein Jahr später unübersehbar. Im Anschluss an ein Telefongespräch, von dem er noch „etwas erregt“ sei, schreibt Koeppen Reich-Ranicki am 26. Februar 1976 in Vorbereitung eines Gesprächs, das dieser mit Siegfried Unseld führen wird, es gebe „zwei in kürzester Zeit realisierbare Projekte“. Zum einen handele es sich um das – nicht realisierte – Projekt „Der Stadtschreiber“, zum anderen nennt er den „Fragmentband ,Jugend’“, von dem Reich-Ranicki „die drei im ,Merkur’ erschienenen Teile“ kenne. Ausgehend von den Merkur-Publikationen, skizziert Koeppen erstmals detaillierter den Plan, aus dem wenige Monate später das Buch Jugend hervorgehen wird: „Das sind mindestens sechzig Schreibmaschinenseiten zu dreißig Zeilen. Ungedruckt habe ich noch ca. 30 Seiten Manuskript. Wiederum etwa dreißig Seiten möchte ich noch schreiben. Die Zusammenstellung, die Überarbeitung würde bis April dauern. Zum Thema gehört auch der Text ,In meiner Stadt war ich allein’, ist aber stilistisch ein anderer Versuch und im ,Romanischen Cafe’ erschienen.“

Im Nachlass hat sich ein undatiertes Typoskript erhalten, auf dem Koeppen eine stichwortartige Inhaltsübersicht sowie eine Umfangsschätzung anhand der vorliegenden Veröffentlichungen vornimmt, die dieser Reich-Ranicki gegenüber aufgemachten Rechnung recht genau entspricht. Ob die Idee, von den rund 60 Seiten der Publikationen auszugehen und diese um weitere 60 Seiten zu ergänzen, schon in früheren Gesprächen oder zunächst allein von Koeppen entwickelt wurde, lässt sich nicht mehr ermitteln. Horst Bienek beruft sich nicht auf Reich-Ranicki, sondern auf Koeppen, wenn er später schreiben wird, es sei „allein diesem Kritiker zu verdanken“, dass Jugend erschienen ist, von sich aus hätte der skrupulöse Koeppen „das Fragment niemals aus der Hand gegeben“. Aber auch wenn Reich-Ranicki stark in den Prozess der Fertigstellung involviert war, ist seine Selbstdarstellung in dieser Sache – und das von ihm selbstbewusst hervorgehobene „wir“ – nicht die einzig mögliche Sicht der Dinge: „Irgendwann sah ich, es geht nicht voran mit dem Buch. Ich weiß nicht, wer von uns beiden auf die Idee gekommen ist, aber wir beschlossen, es reicht. Wir werden das so veröffentlichen, wie es geschrieben ist, mit dem Untertitel Ein Fragment.

Koeppen verfolgt den skizzierten Plan tatsächlich weiter. Am 2. April 1976 schickt er Unseld einen „Entwurf“ für „Klappentext und Ankündigung“, weist allerdings darauf hin, er sei, „gerade in der Arbeit der Redaktion, des Fertigmachens, befangen“ und daher „am wenigsten geeignet, den Inhalt zu erzählen, zumal es sich wieder um Prosa handelt, die mehr vom Stil her als vom Geschehenen ansprechend wird und zu begreifen wäre“. Mit diesen Hinweisen verbindet Koeppen einmal mehr die Vorsichtsmaßnahmen gegenüber autobiographischen Identifikationsversuchen: „Da wieder mal ein Ich berichtet und Lebensdaten des erzählenden Ichs sich manchmal mit meinen berühren, werden Leser den Text für autobiographisch halten. Das stimmt aber nicht. Es ist mehr Dichtung als Wahrheit. Erinnerungen an eine fremde Jugend, eigentlich Kindheit, Alpträume von einem anderen. Ich habe diese Wohnungen nicht bewohnt, war auch nie in einer Militärerziehungsanstalt, verbrachte meine Schuljahre in Ostpreußen und nicht in Pommern, wuchs nicht in einem Milieu extremer Armut auf, aber ich hatte diese Empfindungen, oder sie kamen mir beim Schreiben.“

Dieser Entwurf wird durch eine Anlage zum Brief ergänzt, in der Koeppen neben eine Reihe von Zitaten aus dem Text einen weiteren Vorschlag für eine Kurzvorstellung setzt, der zusammen mit den Formulierungen aus dem Brief zur Grundlage für den Ankündigungstext wird: „Es sind Schilderungen aus Preußen, Pommern, meiner Heimatstadt Greifswald, aber in Wirklichkeit lebte ich gar nicht dort. Es sind Vorstellungen und Träume meiner Kindheit und Jugend kurz vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. Es sind Lebensdaten aus Beobachtung, Angst und Verwunderung. Es könnte ein Bericht über und für einen Fremden sein, eine Autobiographie geschrieben in das Leben eines andern, eine Ich-Verschleierung, ein Versteck in viele Figuren.“

Unseld meint am 8. April, der Verlag könne „viel anfangen“ mit den „Ausführungen für den Ankündigungstext“, und betont darüber hinaus, das, was Koeppen schreibe, mache ihn „ungeheuer neugierig auf das Geschriebene oder das noch zu Schreibende“. Einmal mehr konkretisiert der Verleger so zugleich seine weiterhin mitschwingenden Sorgen: „Bitte schließe die Arbeit aber auch wie vorgesehen Ende April ab.“ In der Programmvorschau des Suhrkamp Verlages für das zweite Halbjahr 1976 wird die Bibliothek Suhrkamp ab Seite 15 vorgestellt; der Vorschautext folgt Koeppens Vorschlägen für Jugend mit nur geringfügigen Änderungen: „Die Texte dieses Bandes bringen jene Prosa, die so typisch für den bedeutenden Prosa-Schreiber Koeppen ist: Diese Prosa ist mehr vom Stil als vom Geschehen her zu erfahren und zu begreifen. Da wieder einmal ein ,Ich’ berichtet und die Lebensdaten des erzählenden Ichs sich manchmal mit den faktischen Lebensdaten von Wolfgang Koeppen berühren, können Leser den Text für autobiographisch halten. Diese Erinnerungen sind jedoch Erinnerungen an die eigene Jugend wie Vorstellungen einer fremden Jugend. Es sind Schilderungen aus Preußen, Pommern, der Heimatstadt Koeppens Greifswald, aber in Wirklichkeit lebte Koeppen dort gar nicht. Was geschildert ist, sind Träume einer Kindheit und Jugend kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Es sind Lebensdaten aus Beobachtung, Angst und Verwunderung.“

Den Abgabetermin Ende April hält Koeppen jedoch nicht ein, er lässt Unseld nochmals warten, arbeitet weiter am Buch wie auch an weiteren Begleittexten. Ende Mai gibt er Reinhard Wittmann, Redakteur in der Literatur-Abteilung des Bayerischen Rundfunks, Hinweise für die Ankündigung der für Juni geplanten zweiteiligen Rundfunksendung mit Texten aus dem Jugend-Material. Dafür nimmt Koeppen seine Formulierungen aus dem Schreiben an Unseld auf und stellt die „unter dem Titel JUGEND zusammengefassten Texte“ dar als „Schilderungen, Farben, phantasierende Erinnerungen aus Preussen, Pommern, meiner Heimatstadt Greifswald“, als „Vorstellungen, Ahnungen und Träume von einer Kindheit und Jugend vor, während und nach dem ersten Weltkrieg“, als „Bericht über und für einen Fremden [. . .], eine Autobiographie geschrieben in das Leben eines andern, eine Ich-Verschleierung, ein Verstecken in viele Figuren“. Und als wäre dies nicht deutlich genug, fügt er hinzu: „Eine Selbstdarstellung ist es nicht.“

Nach einem Treffen von Autor und Verleger Ende Mai 1976 in Frankfurt, bei dem Koeppen „das Manuskript ,Jugend’ mitgebracht haben“ wollte, notiert Unseld, Koeppen wolle es nunmehr „am 15. Juni abliefern“. Aber auch bei seinem Besuch in München am 23. Juni anlässlich Koeppens 70. Geburtstag kommt es noch nicht zur erhofften Übergabe: „Ich meldete mich telefonisch vom Flughafen aus, und er bat mich dann in seine Wohnung. Ich hatte die leise Hoffnung, daß er dort das Manuskript ,Jugend’ fertiggestellt haben könnte, aber es ging nur um eine Flasche Champagner.“ Koeppen verspricht jedoch, das Manuskript „in 10 Tagen“ fertig zu haben, damit könne der Verlag „definitiv rechnen“.

Vor diesem Hintergrund schreibt Unseld am 1. Juli an Koeppen, er „warte nun jeden Tag auf die ,Jugend’, wie man nur auf Jugend warten kann“. Wie Unseld erhöht auch Reich- Ranicki die Nachdrücklichkeit seiner Bitten, am 19. Juli drängt er Koeppen einmal mehr, den Text fertigzustellen: „Und bitte: Liefern Sie endlich das ,Jugend’-Manuskript ab. Es ist ja ein Fragment und wird ein Fragment bleiben. Es gibt Arbeiten, die dadurch, dass der Autor immer wieder Details ändert, weder besser noch schlechter werden. Ich glaube wirklich, dass Sie es riskieren können, die Arbeit an der ,Jugend’ abzuschliessen, und zwar tatsächlich so, wie Sie es versprochen haben, noch in dieser Woche.“

Zwei Tage später, am 21. Juli, einem Mittwoch, schreibt Koeppen an Unseld, das Manuskript werde „Montag morgen im Verlag sein“ – und tatsächlich trifft es zwei Tage nach dem genannten Datum ein: „Das Manuskript kam erst am Mittwoch, den 28. Juli an“, notiert Unseld und setzt alle Maßnahmen für eine zügige und erst jetzt einsetzende Lektorierung und Drucklegung in Gang.

Am 9. August kündigt Unseld Koeppen die baldige Versendung der Druckfahnen an, die am 12. August per Eilboten zugestellt werden, mit der Bitte, den Umbruch am 16. August wiederum per Eilboten zurückzusenden. Nur so ließe sich, teilt Unseld mit, Koeppens Wunsch realisieren, Jugend in Form einer „Premiere“ im Rahmen der für den 3. September geplanten feierlichen Übergabe des Bergen-Enkheimer Stadtschreiberamtes an Peter Rühmkorf, zu der Koeppen als ehemaliger Stadtschreiber zusammen mit Karl Krolow eingeladen ist, vorzustellen. Der Plan wird realisiert, Anfang September liegen die ersten Exemplare vor. Am 2. September übergibt Unseld Koeppen ein erstes Exemplar in Frankfurt bei einem privaten Abendessen zur Feier der „Premiere Wolfgang Koeppen ,Jugend’“, die am 3. September, wie geplant, öffentlich im Rahmen des Festakts in Bergen-Enkheim fortgesetzt wird: „Auf stille, noble Weise verabschiedeten sich die Vorgänger Rühmkorfs, Karl Krolow und Wolfgang Koeppen. Letzterer mit dem autobiographischen Buch ,Jugend’ […], das er vor zwei Jahren in Bergen-Enkheim zu Ende schreiben konnte“, meldet – in der Datierung der Fertigstellung völlig unzutreffend – die Frankfurter Neue Presse nach der Veranstaltung.

Das Buch erscheint am 13. September, nunmehr, nachdem es zwischenzeitig als Band 507 angekündigt worden ist, als Band 500 der Bibliothek Suhrkamp. Der weiße Umschlag mit schwarzer Schrift in der üblichen Reihengestaltung nach dem Entwurf von Willy Fleckhaus ist mit einer gelben Buchschleife versehen, die auf der vorderen Umschlagseite über die Reihenbezeichnung „Bibliothek Suhrkamp“ und auf der Umschlagrückseite über die Bandnummer und ein Zitat aus dem Text gelegt ist: „Ich glaubte damals, aufzuwachen, aber die Wahrheit ist wohl, daß mein Schlaf sich in einem Traum verlor.“ Der Text der Buchschleife weist das Buch als „Erstausgabe“ zum Preis von 12,80 DM aus, im selben Schriftgrad wie Autor und Titel und ebenfalls in der Schriftart Baskerville, und annonciert es mit einem Zitat von Marcel Reich-Ranicki, das auch auf der hinteren Umschlagklappe abgedruckt ist: „In einer Zeit, in der die meisten deutschen Schriftsteller bei Hemingway in die Schule gingen oder im Banne Kafkas waren, knüpfte Koeppen mit großer Entschiedenheit an jene Tradition der modernen Prosa an, die damals in Deutschland eher fremd war – an Joyce, Dos Passos, Faulkner und Döblin.“

Der Klappentext auf der vorderen Umschlagklappe verdichtet nochmals einige der Hinweise, die Koeppen im Vorfeld formuliert hatte: „Jugend ist ebensosehr Darstellung der eigenen wie die einer fremden Jugend. Jugend ist ebensosehr Beschreibung wie Erzählung: Fakten und Fiktion mischen sich. Da sind die Kleinstadt und ihre Gesellschaft; die erste Wirklichkeit im Lichtspielhaus, und die Wirklichkeit des Kriegs, die der Mutter, des Gefallenen, die der Träume und die des Musters der Tapete. Und die Not natürlich, die vielfältige Not.“ Als gesonderter Absatz folgt noch der Hinweis, den Koeppen in seinem Brief an Unseld vorformuliert hatte: „Wie immer bei Dichtungen ist auch diese Prosa zunächst vom Stil, dann erst vom Geschehen zu begreifen.“

Wenige Tage nach Erscheinen des Buches lässt Koeppen dem Verleger ein Widmungsexemplar zukommen: „Sonderbar genug ergriff mich im Vorübergehen der Trieb, am vierten Bande von Wahrheit und Dichtung zu arbeiten; ein Dritteil davon ward geschrieben, welches freilich einladen sollte das übrige nach zu bringen. [//] Goethe, Tag- und Jahreshefte, 1821 [//] Für Siegfried Unseld der mich nicht verstiess – [//]Wolfgang Koeppen, September 76“

Mit dem Goethe-Zitat kommentiert Koeppen nicht allein die komplizierte Entstehungsgeschichte von Jugend, es unterstreicht auch die Bedeutung Goethes für das eigene Vorhaben. „Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene“, zitiert Koeppen ihn in dem vorangestellten Motto. Geradezu überdeutlich ist der Hinweis auf die langwierige Redaktionsarbeit am vierten Band von Dichtung und Wahrheit, die Goethe bekanntlich erst 1830, neun Jahre nach der von Koeppen zitierten Notiz, wiederaufgenommen hat – und er wird den vierten Band nicht mehr fertigstellen, er bleibt ein Fragment.

In seinem Brief an Unseld vom 13. September, den er mit dem Widmungsexemplar schickt, nimmt Koeppen den Anfang des Goethe-Zitats auf und schließt an die mit Goethe in Aussicht gestellte Fortsetzung des Geschriebenen an: „Lieber Siegfried, sonderbar genug ergriff mich die Widmung. Ich danke dir für das Buch, für hoffentlich kommende vier Teile, für Geduld und Freundschaft. Als ich zu dir in den Verlag kam, versichertest du in der Nachfolge Suhrkamps, das letzte Wort habe der Autor. Du hast zu dem Spruch in einer damals nicht zu ahnenden Weise über Jahre gestanden.“ Der Dank und die durchaus als Entschuldigung zu lesende Auflistung eigener Versäumnisse verbindet Koeppen mit erneuten Aussichten auf zukünftige Projekte, die, wie wir heute wissen, in den folgenden 20 Jahren nicht mehr realisiert werden.

© Suhrkamp Verlag

Hinweis der Redaktion:

Der Beitrag übernimmt (u.a. um die Fußnoten gekürzte) Teile des „Kommentars“, den Eckhard Schumacher als Herausgeber des 7. Bandes von Wolfgang Koeppen: Werke in 16 Bänden, hg. von Hans-Ulrich Treichel, verfasst hat. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Genehmigung dazu. Der Band erscheint voraussichtlich am 13.6.2016 und wird ergänzt durch eine digitale Textgenetische Edition, herausgegeben von Katharina Krüger, Elisabetta Mengaldo und Eckhard Schumacher. Sie ist ab dem 23. Juni (Koeppens Geburtstag) unter der Adresse http://www.suhrkamp.de/jugend zugänglich. Eckhard Schumacher erklärt dazu in dem gedruckten Band: „Durch die Verknüpfung der umfangreichen Materialien mit dem Buchtext wird es mit der Textgenetischen Edition erstmals möglich, die Entstehungsgeschichte – und damit nicht zuletzt die vielen Ab- und Umwege – von Jugend direkt am Material nachzuvollziehen. Der Einstieg in die Textgenetische Edition ist über drei Zugänge möglich: Der Zugang Lesetext geht vom veröffentlichten Buchtext aus, ermöglicht einen Vergleich der verschiedenen Ausgaben von Jugend und bietet zu jeder Sequenz weitere Verknüpfungen, darunter umfangreiche Registereinträge. Über den Zugang Texte können die Textträger des Jugend-Konvoluts sowie die weiteren Materialien als Faksimiles aufgerufen und auf der Basis von Transkriptionen durchsucht werden. Der Zugang Textgenese zeigt genetische Pfade, die die Entstehungsgeschichte der Sequenzen von Jugend und mithin die Entstehung des Buches von seinen Bestandteilen aus rekonstruieren. Die digitale Textgenetische Edition lädt damit zu einem Forschungsabenteuer ein und ermöglicht zusätzliches Lesevergnügen.“

Titelbild

Wolfgang Koeppen: Werke in 16 Bänden. Band 7: Jugend.
Herausgegeben von Eckhard Schumacher.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
191 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783518418079

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