Autobiographie als Universitätsfiktion

Marius Reiser, Peter Wapnewski, Gerhard Kaiser

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Autobiographie ist seit jeher eine ausgezeichnete Quelle für universitätsgeschichtliche Studien. Das mag an der Nähe von Funktion der Autobiographie und Funktion des Professorenamtes liegen: Beide eint der Wunsch nach Wahrheit. Autobiographen begehren die Wahrheit im Medium der Literatur, der Professor im Medium der Wissenschaft. Der Professor, so hat es Jacques Derrida in seiner bedeutsamen Schrift Die unbedingte Universität deutlich gemacht, bekennt öffentlich die Wahrheit des wissenschaftlichen Diskurses. Zu dieser Wahrheit gehören mit Sicherheit die institutionellen Bedingungen, unter denen dieser Diskurs möglich ist.

Langweilig kann die Universitätserfahrung sein, wie Edmund Hoefer bereits 1846 in seiner Schrift Auf der Universität bekennt: „Für den größten Theil der jungen Leute, welche sich drei oder vier Jahre auf der Universität mit ihren Studien beschäftigen, geht diese Zeit gemeiniglich so schnell, und, was das Leben der Gefühle und Empfindungen betrifft, auch so flach und inhaltslos vorüber, daß sich nur wenige von ihnen späterhin besonders ernsthaft an dieselbe erinnern mögen“.

Anderen Professoren ist der Gang in die Universität eine Idyllenerfahrung. So heißt es in der Autobiographie des großen Universitätsreformers Henrich Steffens aus dem Jahre 1842: „Die Frühlingstage waren äußerst heiter und anmutig, die Bäume unter den Linden entfalteten ihr erstes Grün, hier versammelten sich in der Mittagsstunde die bedeutendsten Männer. Ich begrüßte unter den lustwandelnden Männer, die ich kaum vorübergehend in Gesellschaften gesehen hatte, und sie traten mir, als wären wir alte Freunde, vertraulich entgegen.“

In solchen Idyllen wandelt der Professor in Zeiten des Bologna-Prozesses nicht mehr. Nein, er verlässt die Haine, in denen er einst wandelte. Die Autobiographie wird zur Universitätselegie. In der Bekenntnisschrift Warum ich meinen Lehrstuhl räume ist das, was „Bologna“ heißt, Grund genug für den ehemaligen Ordinarius Reiser, seinen Lehrstuhl zu räumen. Die Sedisvakanz, müsste man im Jargon des katholischen Theologen fortführen, ist gewollt. Für den Theologen Reiser ist der Gegenpapst zu Humboldt in Gestalt des Bologna-Prozesse erschienen, der es ihm unmöglich macht, auf seinem Stuhl zu verweilen. Rom gegen Avignon, so könnte man den Kulturkampf beschreiben, den Reiser in Szene setzt. Muster dieses (mittelalterlichen) Konflikts ist die Auseinandersetzung um konfligierende Universitätsmodelle; hier der zwischen der Universität Paris und der Universität Bologna, die nach den Worten von Arno Borst eine „Lernfabrik“ gewesen sein muss. Im Gegensatz dazu herrscht in Paris die Herrschaft der Scholaren und Magister.

Im Anschluss an seine Bekenntnisschrift, die ihn der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist, veröffentlicht Reiser ein weiteres universitätspolitisches Bekenntnis unter dem Titel Bologna: Anfang und Ende der Universität. Erschienen ist die Bekenntnisschrift in der Reihe Forum des Deutschen Hochschulverbandes, der Standesvertretung der Lehrstuhlinhaberinnen und Lehrstuhlinhaber. Aus Sicht der universitätspolitischen Rechtfertigungslehre enthält das Buch einige interessante Passagen und ist auch für die Inszenierung des Bekenntnisses aufschlussreich. Reiser nutzt die Formensprache der theologisch relevanten Textsorten. So beginnt seine Schrift im Ton der Weihnachtsgeschichte: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von den europäischen Bildungsministerien ausging, dass alle Universitäten geschätzt würden. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, das Wolf-Michael Catenhusen Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung war.“ Die Volkszählung in einer Provinz des römischen Reiches als Beginn des christlichen Mythos wird zum Mythos des Bologna-Prozesses. Die Analogie zwischen Catenhusen und Pilatus funktioniert nur bedingt. Denn weder hat Catenhusen den Bologna-Prozess verurteilt und, soweit man weiß, seine Hände auch nicht in bildungspolitischer Unschuld gewaschen. Und er hat dem universitären Volk nicht die Wahl gelassen, sich zwischen dem universitären Messias in Gestalt althergebrachter Universitätsmodelle von Humboldt bis Newman und dem Verbrecher in Gestalt des Bologna-Prozesses zu entscheiden. Der Bologna-Prozess war nicht gewollt, sondern eine Entscheidung der Politiker, gegen die das universitäre Volk nicht aufbegehrte. Und dies ist das Drama nach Reiser. Hätten wir gelesen, so Reiser, so wäre uns das nicht passiert: Wir hätten niemals in den Fakultätsräten zugestimmt, wir hätten die Mauern des Magisterstudiums gegen die Module des BA gesetzt; was hätten wir nicht alles getan, wenn wir gewusst hätten: „Warum“, klagt der Hiob der Hochschulpolitik mit den Worten des Propheten Jesaja, „sind die Professoren und Professorinnen nach dem Wort des Propheten Jesaja über die verantwortungslosen Wächter seines Volkes mit wenigen Ausnahmen ‚stumme Hunde, die nicht bellen können’“? Er gibt einige Gründe an: mangelnde Solidarität der professoralen „Autokrat[en], Individualismus, mangelnder Mut, Unfähigkeit zur politischen Operation für überindividuelle Interessen usw.“

Das Buch ist 2010 erschienen. Der Bologna-Prozess befand sich zum damaligen Zeitpunkt kurz vor dem Abschluss. Dieser besteht in der vollständigen Umstellung der Studiengänge auf das konsekutive Modell von Bachelor und Master. Reiser verweist nicht auf die Phasen der Umsetzung oder der Schwierigkeiten der internationalen Diplomatie.

Reisers Buch ist gekennzeichnet von einem starken Affekt gegen die grundsätzliche Idee des Bologna-Prozesses. Diese besteht – verkürzt gesprochen – darin, die Universität zum einen für die Belange von Gesellschaft und Wirtschaft zu öffnen (Berufsbefähigung) und zum anderen die Struktur der Ausbildungswege von der disziplinären Tradition der großen Fächer an der Universität zu trennen. Die Curricula haben sich bisher an der Geschichte und Tradition der Disziplin und ihrer Wissenskultur orientiert – das gilt für die Germanistik wie für die Physik. Heutzutage beginnt die Spezialisierung mit dem Blick auf das Ausbildungsziel früh; manche sagen, zu früh. Reisers Argumentation ist sehr grundsätzlich und theologisch grundiert: Module sind Bestandteile einer „Kultordnung“, seine Kritik an der Ausbildungsorientierung grundiert er in einem (zumindest für Literaturhistoriker) nicht ganz funktionierenden Vergleich mit dem Harsdörfferschen „Nürnberger Trichter“, er tritt als philiströser Leser auf, der immer schon gewusst hat, dass George Orwells 1984 das geheime Skript darstellt. Was seiner Suada gänzlich abgeht, ist ein Verständnis für die komplexen und langwierigen Prozesse der Diplomatie. Diese sind notwendig, um eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Prozesse bestehen aus einem Interessensausgleich und aus der Suche nach Kompromissen. All diese Feinheiten der diplomatischen Textsorten wie Kommuniqués entgehen Reiser. Das ist schade. Historikerinnen und Historikern zukünftiger Zeiten wird Reisers Buch womöglich nicht nur deshalb als Quelle für die Geschichte des sogenannten universitären ‚Wutbürgers’ gelten, der sich, durchaus standesbewusst, den Zeitläuften verweigert.

Ganz anders informiert Gerhard Kaisers Autobiographie Rede, dass ich Dich sehe. Der Germanist als Zeitzeuge über das professorale Schicksal. Für Kaiser ist die Studentenrevolte um 1968 herum eine einzige Krisenerfahrung: Krise der eigenen Person, Krise der Selbstreflexion, Krise der Universität. Der autobiographische Band steht werkgeschichtlich in einer Reihe von ähnlichen Schriften – zum einen der 1973er Band Antithesen. Zwischenbilanz eines Germanisten 1970-1972 und dem Band Neue Antithesen eines Germanisten 1974-1975. Kaisers Buch ist die Darstellung einer Universitätskarriere in den Zeitläuften. Er schildert die „Epoche meiner Wissenschaftsgeschichte“. Gegenstand der Geisteswissenschaften sei, so Kaiser, „der Mensch in seiner Geschichtlichkeit“. Das Erkenntnisorgan dieser Geisteswissenschaft „kann sich nur aus seinem Ich und an seinem Ich, wie es denn biographisch geworden ist, herausbilden.“ Es geht also um die Geschichte des autobiographischen Ich in den Zeitläuften der Germanistik und, so muss man hinzufügen, der Universität als Institution.

Kaisers Konfession besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil widmet sich Kaisers Zeit in der DDR, aus der er Ende der fünfziger Jahre floh. Der zweite Teil widmet sich unter der Überschrift Studentische Kulturrevolution der durch die Studentenbewegung ausgelösten Krise der Universität, unter der sie Kaiser zufolge immer noch leidet.

Der zweite Abschnitt beginnt mit einer Erinnerung, die für seine Universitätsfiktion prägend ist. „Schon von weit her“, heißt es, „sahen wir auf der Zufahrtsstraße durch die Wiesen in der Dunkelheit den langen leuchtenden Zug der wandernden Fackeln heranziehen.“ Die Bedeutsamkeit des Ereignisses – den Fackelzug – stellt Kaiser durch zwei Stilmittel her: zum einen durch die Alliteration, zum anderen durch die Assonanz.

Der Autobiograph sitzt auf der Höhe und sieht den Fackelzug, den die Studierenden aus Dankbarkeit ihm gegenüber ausgerichtet haben. Der Professor betrachtet seine Schülerinnen und Schüler, nimmt mit Wohlwollen die Ehrerbietung zu Kenntnis. Der Lektüre offenbart sich ein Bild der Feudalität: Professoren oben auf dem Berg, die Studierenden auf dem Weg zum Sitz der Autorität. Der Professor überschaut alles, die Studierenden sind auf dem Weg zu genau dieser Autorität. Dieses ‚Denkbild’, um mit Walter Benjamin zu sprechen, prägt im Folgenden die Schilderungen.

Für Kaiser sind es die Rituale und Insignien, die die alte Universität ausmachen. Der Fackelzug, den er erzählt, ist „vielleicht der letzte“, der Talar ist für ihn kein Zeichen der „Rückwärtswendung“, sondern ein „Zeichen der Selbstzurücknahme in einen Zusammenhang und der Konzentration in einem Auftrag.“ Der Talar, so geht es weiter, „steht mir (Gerhard Kaiser) dafür, daß der Professor – mit einer durch diesen Titel bezeichneten Aufgabe betraut, die seine Kraft als einzelner übersteigt – getragen wird von seinem Amt. Es gibt seiner Person Halt, weil es ihn überdauert, wie die Gelehrtenrepublik, der er angehört.“

Man könnte hier, Kantorowicz fortführend, von einer politischen Theologie des Professorenamtes sprechen, die Kaiser hier aufstellt und die er in seinem autobiographischen Bekenntnis verfolgt. Die Universität ist eine würdige Institution, die Dignität der Professoren stirbt niemals, die Professorenporträts auf den Fluren sind effigies der Wissenschaft, Fackelzüge Vorfeiern zur Re-Investitur des Professors. All diese Bastionen feudaler Professorenherrlichkeit sind, wenn man Kaiser folgen will, mit den Studierendenunruhen verschwunden bzw. ständigen Attacken und Angriffen ausgesetzt, dass es keinen Sinn mehr mache, an diesen festzuhalten. Kaiser zeichnet die Universität nach 1968 als ruinierte Institution.

Ganz besonders deutlich wird dies an seiner Kritik der Zerstörung oder Demontage des Meister/Schüler-Verhältnisses. Für Kaiser ist dieses Prinzip nicht nur der „Leistungskern der Universität“, nein, es zeichnet Zivilisation aus und unterscheidet diese von der Barbarei. Zivilisationen seien darauf angewiesen, „daß die Angehörigen der älteren Generation auf verschiedenen Ebenen, zum Teil professionell, die kulturellen Kenntnisse, Techniken, Wertvorstellungen und Normen an die jüngere Generation in wechselseitigem Vertrauen weitergeben.“

Für Kaiser entscheidet sich an der Form des Lehrer-Schülers Verhältnisses das Schicksal der Universität. Diese habe, „Freiräume zur Entfaltung“ dieses Verhältnisses bereitzustellen, das die „Universität humboldtscher Prägung“ immer schon vorangebracht habe. Nüchterner – und durch die Augen der Wissenschaftssoziologie gesehen – geht Kaiser hier von der Fiktion einer Gemeinschaft zwischen Lehrenden und Lernenden aus. Diese Gemeinschaft ist durch Interessengleichheit ausgezeichnet, so dass auch kein Ausgleich der Interessen notwendig ist. Die Lehrer/Schüler Beziehung ist, soweit geht Kaiser, die Verwirklichung von Gleichheit: „Leidenschaft des Denkens stellt alle gleich.“ Gleichheit unter Seinesgleichen herzustellen, ist aber kein Betrag zur gesellschaftlichen Gleichheit, sondern Reproduktion einer Elite. Für Kaiser ist dementsprechend die Universität ein „Ort der Elitebildung“ und bildet „eine elitäre Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden“.

Die Studierenden, die dieses System attackieren, haben den Sinn der Universität nicht verstanden und die Institution nachhaltig beschädigt. Sie sind, um im kirchenpolitischen Jargon zu bleiben, die marodierenden Horden der Reformation.

Für Kaiser ist der Dialog der Generationen, in dem wechselseitig voneinander gelernt wird, mit der Studentenrevolte abgebrochen. Die Möglichkeit der Erfahrung dessen „was Jugend, was Erwachsensein, was Alter ist“ in der Universität durch die Studentenrevolte unmöglich geworden. Diese Verunmöglichung von Erfahrung ist, so Kaiser in höchstpersönlicher Diktion das „größte psychische Narbenfeld“ seines Lebens.

Auch noch seine grundsätzliche Kritik an der aktuellen Bolognareform erläutert er durch einen Hinweis auf das zerstörte Meister- und Schüler Verhältnis und zieht erstaunliche Parallelen: Da das Meister/Schüler-Verhältnis auf interpersonalem Kontakt beruht, der schwer zu messen und zu quantifizieren ist, begegnen sich so Studentenrevolte, die im Meister-Schüler Verhältnis eine autoritäre Veranstaltung sah, mit der Technokratie des Bologna-Prozesses, dessen „Effizienzfetischismus“ das Personale ökonomisiert. In der Tat, so kann man das sehen und den Untergang der alten Universität betrauern. Die Universitätsfiktion, der Kaiser folgt, ist das der akademischen Gemeinschaft von Professoren und Studenten. Das Buch enthält wichtige und lehrreiche Passagen zu Form, Organisation und Funktion der germanistischen Lehre, zur Diskussionen in der Nachkriegsgermanistik über die gesellschaftliche Funktion der Germanistik und nicht zuletzt auch zur „Wissenschaftstheorie“ literaturwissenschaftlicher Forschung.

Was durch alle Kritik an der Universität bei Kaiser durchscheint, ist eine große Liebe zum Gegenstand seiner Forschungen und zur Institution, der dieser Forschung eine Heimstatt gab: der Universität Freiburg. Dies allein macht das Buch zu einer interessanten Lektüre über die Generationen hinweg. Der Dialog wird, so denn nicht interpersonal, jedoch möglich durch das Zwiegespräch zwischen Leserinnen und Lesern aus verschiedenen Generationen und Gerhard Kaiser, dem Repräsentanten einer Generation der Germanistik.

Peter Wapneswkis Erinnerungen Mit dem anderen Auge sind im Vergleich – zu den hier bereits Besprochenen – von einer Dezenz der Selbsterforschung gekennzeichnet, die sie wohltuend vom Bekenntnisdrang katholischer Theologen und kulturprotestantischer Germanisten unterscheiden. Wapnewski ist der Souverän seines Selbst und legt der Leserin/dem Leser als „Registrator der Gegenwart“ einen Band vor, der die „Konturen seiner Person“ verblassen lassen möchte. Die „freundliche Gleichgültigkeit“ gegenüber dem eigenen Ich zeichnet seiner Erinnerungen aus. Dies ist ferner von egomorpher Germanistenautobiographie wie es ferner nicht sein kann.

Alle Rede von Zeitgenossenschaft, Zeugenschaft und Märtyrertum finden sich an keiner Stelle bei Wapnewski. Die Freundlichkeit der Distanz zum eigenen Ich bedeutet für die Lektüre die Möglichkeit von Freiheit. Die Aufmerksamkeit geht nicht auf die Person, sondern auf die Zeitläufte, in denen die Person überhaupt erst lesbar und unter Umständen erst interessant wird. Die Erinnerungen Wapnewskis sind im Grunde die Dokumentation der höfischen Universitätsgesellschaft. Aus diesem Grunde werden immer wieder Schulen genannt, bedeutende Genealogien von Berufungen aufgemacht. Man begegnet den Größen der Mediävistik, man wandelt als Leser in den Erzählungen angenommener und abgelehnter Rufe, man begegnet einer Universität, die sich durch Bünde, Netzwerke und wechselseitiges Wohlwollen auszeichnet. Unbenommen davon sind die Schilderungen der Konflikte an den Fakultäten und den Instituten, die um die Sache der Literaturwissenschaft respektive der Mediävistik gingen. Einem solchen Streit, ausgeführt mit heiligem Ernst, begegnet man heute nicht mehr. In einer nivellierenden Kultur des Einvernehmens, die die heutige Situation charakterisieren mag, ist der Streit um die Sache einer Auseinandersetzung um die Ressourcen und ihrer Allokation gewidmet. Existentielle Fragen des Faches und seine Vermittlung werden nicht mehr gestellt. Das macht die Schilderungen Wapnewskis zu einer Erfahrung von Alterität.

Ganz im Gegensatz zu Kaiser bilanziert Wapnewski die Studentenrevolte als „Abbau der Form“. Die Langzeitwirkungen der Universitätsrevolte um 1968 sind die Wandlungen von einer Institution zu „einem technisierten System, zu einem Betrieb“, in der die Fiktion der Gleichheit herrscht, die, unter Verzicht auf „jegliche Differenzierung in Form und Gestus“ zu einem „grauen Einerlei“ wird. Die „neue Universität“ ist eine, die von „außen verwaltet“ wird.

Wapnewski gibt unumwunden zu, dass die „alte Universität“ die seine gewesen ist. Die alte Universität existiert nicht mehr – in der Universität. Und doch gibt es noch das Universitäre – außerhalb der Universität. In diesem Lichte kann man die Schilderung der Gründung des Wissenschaftskollegs zu Berlin sehen.

Das Wissenschaftskolleg war (und ist) der Versuch, das, was die alte Universität an Stil, Form und Dialog ausmacht, zu retten und es außerhalb der Universität wiederaufzubauen. Im Wissenschaftskolleg wird eine „Disziplin der Form“ gepflegt, die aber kein Selbstzweck ist, sondern der „Disziplin der Inhalte“ zu folgen hat. Es ist traurig, aber es scheint so zu sein, dass die Verwirklichung dessen, was Universität sein kann, innerhalb der Universität nicht mehr möglich zu sein scheint. Konsequenz ist ein Exodus der Besten in Exzellencluster und Center for Advanced Studies, die mittlerweile an fast jeder Universität das verwirklichen, was im Alltagsbetrieb nicht mehr möglich zu sein scheint: die Einheit von Forschung und Dialog über Forschung und die Verbindung von Einsamkeit der Reflexion mit der Freiheit von Betriebsamkeit. Es ist ein überaus traurig stimmender Befund, dass die universitäre Idee in der Universität nicht mehr zu verwirklichen ist. Wenn aber die Idee der Universität ins Exil gehen muss, um das sein zu können, was sie aus Sicht mancher ist, dann verheißt dieser Befund für die Zukunft der Universität nichts Gutes.

Die Funktion der Universitätsfiktion lässt sich an allen drei hier besprochenen Büchern studieren: Sie ist eine notwendige Fiktion, um die Idee der Universität aufrechtzuerhalten. Vielleicht auch nur in der Art und Weise, dass eine Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit der Universität festgestellt wird, ohne sentimentalisch der Humboldt-Universität zu fordern, die es gar nicht mehr geben kann. Die Autobiographie, so hatte es einst Herder formuliert, wird so einerseits zum Archiv der universitären Ideen und andererseits zur Dokumentation eines Verlustes. Die Geschichte der Universitätselegie bleibt noch zu schreiben.

Bibliografische Angaben:

Marius Reiser: Bologna: Anfang und Ende der Universität.
Forum; H.80, Deutscher Hochschulverband Bonn 2010.
160 Seiten, 14,90 €
978-3-924066-92-5

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Gerhard Kaiser: Rede, dass ich dich sehe. Ein Germanist als Zeitzeuge.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2000.
287 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421054142
ISBN-13: 9783421054142

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Peter Wapnewski: Mit dem anderen Auge. Erinnerungen 1922-1959.
Berlin Verlag, Berlin 2005.
256 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3827003806

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