You give me fever

Die in den USA lehrende Germanistin Sonja E. Klocke zeigt, wie DDR-Literatur ‚Krankengeschichte‘ schreibt

Von Florian AuerochsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Auerochs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Symptomatische Lektüren symptomatischer Körper

Die Lektüre von Sonja E. Klockes germanistischer Studie Inscription and Rebellion. Illness and the Symptomatic Body in East German Literature über die medizinische (Ent-)Diskursivierung des weiblichen Körpers in der (Post-)DDR-Literatur beginnt mit einer eindrücklichen Cover-Abbildung. Es handelt sich um eine figürliche Keramik der deutsch-amerikanischen Künstlerin Gerit Grimm, deren fragile Konstruktion das Thema des besprochenen Titels, eine vielgesichtige incapacitation (dt. Entmündigung), auf beunruhigende Weise zusammenfasst. Da der Kopf der monochromen Frauenstatuette im Begriff ist, von einer übergroßen Hand abgetrennt zu werden, ist sie wortwörtlich entmündigt und ver-rückt: incapacitated, decapitated, ‚zersetzt‘. Und es ist dieser Topos der ‚Zersetzung‘, der im historisch-begrifflichen Glossar am Ende des Buches auftaucht, und den die Autorin literaturwissenschaftlich fixiert: als literarisches Wirken und Fortwirken psychosozialer und psychohistorischer Kontrollmechanismen über 1945 und 1989 hinaus – bezeichnet ‚Zersetzung‘ doch die schleichende, individualisierte Stasi-Gewalt, die hier auf ein weibliches Bewusstsein bezogen wird.

Klocke stellt an ihren Korpus die Frage, wie die signifikante Häufung kranker Frauen und medizinischer Einrichtungen im Zentrum vieler Texte der DDR zu deuten ist und inwiefern es sich bei diesem Motivkomplex um eine spezifisch sozialismuskritische Literaturkonvention handeln könnte. Von ausführlichen Lektüren des Werkes von Christa Wolf und einer jüngeren SchriftstellerInnengeneration ausgehend, zeichnet die Autorin nach, wie Wolfs Repräsentation von Krankheit und Gesundheitssystem die literarische Nachfolge befeuert: Denn etliche Nachwenderomane performieren medizinische Körperdiskurse, um Effekten der DDR nachzuspüren, die im Seelenleben des vereinten Deutschlands nachwirken. Klockes Methode besteht in medizin- und körperhistorisch informierten Close-Readings mit Fokus auf jene intertextuellen Bezüge, die Christa Wolf als Fluchtpunkt einer weiblichen Genealogie literarischer Praxis ausweisen, nämlich der medizinisch-morbiden Einfassung von Staatskritik. Klockes Zugriff auf die Wechselbezüge von Literatur und Wissen ist dabei interdisziplinär und bezieht vor allem die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Gesundheitswesens der DDR mit ein.

In der Einleitung liefert Klocke den notwendigen zeitgeschichtlichen Kontext für die literarische Analyse des medizinisch belangten Körpers in seiner politischen Umwelt und legt eine kleine Sozialgeschichte des DDR-Gesundheitssystems und seiner klinischen Praxis dar. Medizinische Versorgung wird zwar demokratisiert, Wohlergehen aber auch verabsolutiert, da der Einzelkörper metonymisch für die ‚Volksgesundheit‘ des sozialistischen Staates steht, er unterliegt einer „symbolic and physical appropriation“. Diese (Ideo-)Logik ist umso bedeutsamer, als sie den von Klocke untersuchten Motivkreis aufbaut, eine negative Rückkopplung von Staat und Körper nämlich, wenn letzterer erkrankt und widerständig wird: „if those bodies became ill, they temporarily escaped the states’ control in what amounted to a form of rebellion.“ In diesen Fällen ist die körperliche als semiotische Beschädigung in zweifacher Hinsicht evident, als Irritierung staatlicher Ressourcen und Somatisierung politischen Lebens. An dieser Stelle kommt Klockes intensiv genutztes Konzept des ‚symptomatischen Körpers‘ (symptomatic body) zum Einsatz. Ohne dies explizit zu machen, handelt es sich mit diesem um den konvertierenden, sich lesbar machenden Körper der Psychoanalyse, die das Symptom doppelt interpretiert, als An- und Abwesenheit von Bewusstseinsinhalten. Doch um diese hermeneutische Dimension geht es Klocke nicht. Sie entlehnt Sigrid Weigels ‚Körpergedächtnis‘ und deutet es als subversives mnemonisches Medium, in das sich historische und politische Ereignisse – ‚Erinnerungsspuren‘ (Aleida Assmann) – einschreiben: „these bodies gain access to previously hidden memories and to knowledge of the past. When the historical learning process materializes in a visible inscription on the flesh, these bodies become mnemonic sites.“ Die literarischen Körper generieren, so Klocke, ein widerständiges Archiv, das mit den Erinnerungsmodi ‚Diktatur-‘, ‚Arrangement-‘ und ‚Fortschrittsgedächtnis‘ (Martin Sobrow) zwar korrespondiert, diese aber auch supplementiert. Dabei geht es vor allem darum, die historiografische und identitäre Exklusion des jeweils ‚anderen‘ Deutschland zu umgehen.

Krankheit und Erlösung: Christa T.

Das erste Kapitel bildet eine Analyse von Christa Wolfs Klassiker Nachdenken über Christa T. (1968), dessen klinische Stationen von der Depression über die Schwangerschaft bis zum Leukämietod einer gründlichen Relektüre unterzogen werden. Ausgehend von Wolfs Essay Krebs und Gesellschaft (1991) wird die „physical illness“ der Hauptfigur als „manifestation of psychological injury“ innerhalb eines medizinischen Staatsapparats gedeutet, der männlich dominiert ist und psychosomatisches Wissen, Wolfs ‚Geistkörperseele‘, suspendiert. Als Märtyrerin einer ‚Subjektiven Authentizität‘ können Christa T.s Syndrome problematische politische Entwicklungen des sozialistischen Gesundheitswesens indizieren. Über die lädierte Protagonistin reflektiert Wolf über die quasi-humanistischen Ideale der DDR-Gesellschaft, die im real existierenden Sozialismus geopfert werden müssen. Das Narrativ bietet dahingehend eine säkularisierte Erlösung seiner „female Christ-figure“, die Totalitarismus und humanistisch begehrenden Körper versöhnt. Der Text steht exemplarisch für Wolfs feministische Variation der Ankunftsliteratur, die zwischen politischem Ideal, subjektivem Authentifizierungsanspruch und genau beobachteten Missständen übersetzt. Es handelt sich hierbei um den von Klocke extrahierten Primärkonflikt der Dichterin: „the discrepancy between her socialist ideals and the quotidian reality in the GDR“.

Über Patientinnenpflicht: Leibhaftig

Im Folgekapitel nimmt die Autorin mit Leibhaftig (2002) und Stadt der Engel (2010) die Trauma- und Genesungsnarrative der Wolf’schen Nachwendeliteratur in den Blick. Für Leibhaftig konzentriert sich Klocke auf eine überlebensstiftende „narrative memory“, die als verkörpertes Gegengedächtnis fungiert, um jenes ‚Trauma‘ zu versprachlichen, in das die Sprache der Protagonistin nicht reicht: „her flesh – the location of individual and collective cultural memory“. Während Klocke minutiös den dokumentarischen Niederschlag sozialistisch-medizinischer Praktiken im Text nachweist, porträtiert sie den Körper der bisweilen komatösen, bisweilen fieberträumenden Protagonistin als Allegorie der DDR-Körperpolitik und Seismografen des politischen Niedergangs der Wende. Dabei werden dem Text strebsam medizingeschichtliche Versatzstücke nachgewiesen, zum Beispiel, inwiefern die passiv gemachte Patientin in der ‚Abweichungsheterotopie‘ Klinik durch ‚Mitwirkungspflicht‘ – eine absolut verstandene Compliance – oder durch die ‚schonende‘ Lüge – das strategische Streuen kurativer Fehlinformation – unmündig wird: „The demand for compliance in the doctor-patient relationship matches the general requirement to subordinate individual needs to the norms of socialist society“. In den besprochenen Werken erkennt Klocke Christa Wolfs (leider kaum hinterfragte) Phantasmen ,weiblicher‘ Heilmethoden, welche die Leib-Seele-Dichotomie männlich-westlicher Medizin verabschieden, um eine latente Körpersprache zu rehabilitieren, die das ,falsche Bewusstsein‘ als das richtige ausweist. In beiden Romanen bietet Krankheit eine politisierte, körpergestützte Reklusion vor psychosozialer Repression, dabei weitet Wolf nach 1989 ihre Staatskritik auf das kapitalistische System der BRD aus.

Expeditionen in Medizin und Geschlecht: Brussig, Schmidt, Hensel, Strubel

Nach der Auswertung des Wolf’schen Korpus wendet sich Klocke einer jüngeren Generation von AutorInnen zu, deren Werk das diffuse oder konkrete Nachleben des verschwundenen Staates am Leib ihrer (auch trans- oder intersexuellen) Frauenfiguren thematisieren. Kathrin Schmidts episches Die Gunnar-Lennefsen-Expedition (1998), Thomas Brussigs Wie es leuchtet (2004) und Kerstin Hensels Lärchenau (2008) beschreiben in der Tradition der Vorläuferin das Alltagsleben in DDR und BRD durch den institutionell belangten symptomatische Körper; die durchgespielten Subjektpositionen weisen hier größere Varianz auf. Klocke geht hier besonders auf das homo-, intersexuell- oder transgender-positionierte Figurenarsenal ein. Brussigs Rainer/Heidi wird in den Wirren der Wende die geschlechtsangleichende OP verwehrt, als Prostituierte wird für sie der Systemwechsel weder körperlich noch seelisch möglich: „The transsexuals portrayed in ‚Wie es leuchtet‘ were raised in a social, legal, and medical environment that was largely aimed at supporting them. In 1989, that environment fell apart.“ Obwohl sich Klocke dezidiert queer-theoretisch positioniert, entnimmt sie ihre Ausführungen lediglich der Faktenlage deutscher Sexualgeschichte und zitiert wohlbekannte Plattitüden von Judith Butler, um das subversive Potenzial des geschlechtsuneindeutigen Körpers zu benennen: „Because the signifiers emerge as flexible, diverse, and socially constructed, they can be challenged and re-negotiated, and serve to contest sex-based supremacy.“ Jenseits davon erklärt Klocke einleuchtend, inwieweit der delinquente Geschlechtskörper durch klinische Prozeduren auf gewaltförmige Kontinuitäten sozialistischer und kapitalistischer Ideologeme verweist. Die drei Romane kreieren mnemonische Gegenbilder zu populärmedialen Verzerrungen, die nach der Wiedervereinigung zirkulierten und ironisch, parodistisch oder satirisch gebrochen werden. Zentral ist dabei einerseits, dass für viele Protagonistinnen der ideologische Anschluss an den Optimismus der BRD nicht möglich war, die somatisierte Unmöglichkeit aber ein verschlüsseltes Körpergedächtnis öffnen kann, dessen historisch-faschistisches Sediment therapierbar wird: „the fall of the Wall activates the previously dormant monsters of the fascist past, which negate the possibility for healing and wholeness of many protagonists.“

Das vierte Kapitel schließt sich thematisch und argumentativ an. Die erhellende Analyse von Schmidts mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Du stirbst nicht (2009) macht den Vergleich mit Leibhaftig sinnfällig. Semantisch aufgeladene Fieber- und Komazustände fordern die Rekonstruktion privater und politischer Vergangenheit als Mittel der Genesung. Der „Erinnerungsfaden“ der Protagonistin Helene führt zu Aleida Assmanns ‚Gedächtnisspur‘, die den Verlust der Heimat DDR als ätiologische Voraussetzung für den überwältigenden Krankenstand bildet: „Only the coma and the symptomatic body it generated possessed the power to both acknowledge and overcome the trauma that had determined the protagonists’ life since the demise of the GDR and unification“. Antje Rávic Strubels Sturz der Tage in die Nacht (2011) zwingt schließlich zu erkennen, dass die Effekte der Stasigewalt und „continuities of aggression“ nach wie vor von der abgeschnürten Handlungsmacht weiblicher Subjektivität zehren und in die deutsche Politik des 21. Jahrhunderts ragen.

Krankheit als Metapher?

Klocke kommt zu dem Schluss, dass in Wolfs Schreiben der symptomatische Körper proliferiert und in der Narrativierung von Krankheit Zugang zu abgelagertem psychohistorischem Wissen bereitstellt. Über eine christliche Heils- und Leidensmetaphorik („suffering female flesh“) wird der antifaschistische Gründungsmythos der DDR affirmiert und mit Staats- und Medizinkritik versetzt. Jüngere AutorInnen treten damit in Dialog und bezeugen die Komplexität des systemimmanenten Erlebens. Für marginale Subjektpositionen wiederholt sich in diesem die Inskription des historisch Gewaltsamen, während sich die Prekarität einer sozialistischen Herkunft unverhohlen in der somatischen Schrift eines „feverish body“ äußert. Im juristischen und klinischen Sinne bestehen strukturelle Ähnlichkeiten zwischen DDR und BRD und halten den Korpus – wortwörtlich – zusammen. Die negativen Gefühle und Affekte der vorgestellten Charaktere führen den Optimismus der (neoliberalen) Wende – „how terrible the GRD was and how fantastic the present“ – ad absurdum und fordern eine legitime Stimme in der Sichtung gesamtdeutscher Mentalitätsgeschichte.

Die äußerst informative Studie ist insgesamt überaus fundiert und solide und ist besonders für die universitäre Lehre ein Gewinn. Gerade die Endnoten eines jeden Kapitels und das historische Begriffsglossar weisen beeindruckende Kenntnisse der gesamtdeutschen (Sozial-)Geschichte auf. Dies wird gelegentlich zum Problem, da für eine literaturwissenschaftliche Studie historische Exkurse Überhand nehmen. In diesen Momenten wird die ungebrochene Konversion politischer Lebenswelt in den Text suggeriert. Wenn Klocke einmal von den „imaginary, mediated and vicarious experiences“ der DDR-Literatur spricht, bleibt dieses Imaginäre von Poetizität und Literarizität größtenteils ausgespart, literaturtheoretische, ästhetische oder intertextuelle Diskussionen bleiben aus. So gewinnen die Lesenden bisweilen den Eindruck, Literatur diene primär der Illustration von Zeitgeschichte und dem Nachweis historischer Fakten, etwa wenn Klocke anhand des Schwangerschafts-Narrativs der „Gunnar-Lennefsen-Expedition“ Familiengesetzbuch und Mütterberatungsstelle der DDR erläutert.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf Klockes theoretische Konzeption von Körperlichkeit und Materialität, da der weibliche Körper kaum jenseits der „materiality […] of socialist ideas“ gedacht wird, was mitunter zu simplen symbolistischen Kurzschlüssen führt, zum Beispiel, wenn Körper mit hermeneutischer Rigidität immer auch als Staatskörper ausgelegt werden („Christa T.’s flesh, which, like the young state, struggles for survival“). Materie wird bei Klocke konstant symbolisch überschrieben und letaler Zeichenträger, womit es kaum möglich wird, die Wechselbezüglichkeit von Diskurs und Materie sowie die Agenzialität letzterer zu fassen. Kurz gesagt: Während die ‚Neuen Materialismen‘ in der ökofeministischen Neukonzeption des weiblichen Körpers boomen, ist Klocke einem stellenweise unoriginellen Poststrukturalismus verhaftet. Dabei ist es auch bedauerlich, dass in der körpergestützten Wolf-Lektüre lediglich vom „social environment“ und nicht vom environment selbst, der natürlichen Umwelt, die Rede ist. Dass dies möglich ist, zeigt unter anderem Ursula K. Heises in Sense of Place and Sense of Planet (2008) vorgelegte Lektüre von Wolfs Störfall: Nachrichten eines Tages (1987). Hier verknüpft die Autorin die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, Neurochirurgie und Krebs-Diskurs, wobei Heise die „juxtaposition of destructive und creative, pathogenic and therapeutive technologies“, die Materialität von Karzinogenem, Gehirn und (radioaktiver) Umwelt, nicht ausschließlich allegorisch und stoisch DDR-spezifisch definiert. Dass es sich bei dem in „Störfall“ operierten Krebspatienten um einen biologischen Mann handelt, zeigt zudem, dass auch schon Christa Wolf gewusst haben muss, dass Krankheit und Körperlichkeit nicht nur Dimensionen weiblicher Erfahrungswelten sind.

Titelbild

Sonja E. Klocke: Inscription and Rebellion: Illness and the Symptomatic Body in East German Literature.
Camden House, Suffolk 2015.
248 Seiten, 70,00 EUR.
ISBN-13: 9781571139337

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