Blaupausen?

Marcus Hahn zu den naturwissenschaftlichen Vorlagen Gottfried Benns

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pfarrer und Ärzte haben eine zweifelhafte Neigung zur Dichtung, was sich an der großen Zahl ihrer literarischen Schriften erkennen lässt. Nun wird man über solche Neigungen nicht schimpfen, denn allein die Namen Alfred Döblin und Gottfried Benn zeigen an, dass wir es bei den Dichterärzten nicht nur mit jenen zahlreichen und unbekannten Schreibwütigen zu tun haben, die in der Sondersammlung im Marbacher Keller landen, sondern auch mit Hochkarätern.

Wie eng Gottfried Benns literarische Arbeiten mit seinem Brotberuf, dem dafür notwendigen Studium und den daran anschließenden Lektüren verknüpft sind, ist offensichtlich, wie allein ein Blick auf die frühen Schriften, von „Morgue“ bis zu den „Rönne“-Erzählungen zeigt. Ohne die medizinische Ausbildung, die zahlreichen Lektüren und die Sektionserfahrungen wären sie nicht denkbar.

Dennoch ist eines der Desiderate der Benn-Forschung, so Marcus Hahn, dass eine hinreichend genaue „Untersuchung, wie in seinen Texten das ‚Wissen der Moderne‘ in der Fassung, wie es Benn wahrgenommen hat, jeweils zitiert, ausgebeutet, kritisiert und parodiert wird“, noch aussteht. Hahn, von dem diese Fehlanzeige stammt, hat dies nun in seiner bereits 2011 erschienenen zweibändigen Studie über „Gottfried Benn und das Wissen der Moderne“ nachzuholen versucht. Dass er dabei auf die Idee verfällt, im Wesentlichen die Studienbücher des Autors und seine Bibliothek zu sichten und auszuwerten, ist verblüffend – simpel, aber man muss eben ersteinmal darauf kommen und es dann auch noch tun. Selbstverständlich haben diese Studien Benn beeinflusst, und es ist – angesichts eines Werks, das sich zwischen fachwissenschaftlichen Studien und literarischen Exkursionen aufspannt – auch anzunehmen, dass sein Werk eine kaum verborgene Durchlässigkeit zwischen beiden Systemen aufweist.

Das bezieht sich eben nicht nur auf die Eckelemente, die das Studium Benns bestimmt haben – wie dies bei Literaturwissenschaftlern nicht anders sein wird –, sondern auch auf seine fortgesetzten Bemühungen um intellektuelle Erkenntnis, frei nach der von Marcus Hahn an den Beginn seiner voluminösen Studie gesetzten apodiktischen Bemerkung Gottfried Benns aus den „Problemen der Lyrik“ von 1951, dass der „Lyriker“ „gar nicht genug wissen“ könne.

Das erinnert nicht zuletzt an Paul Celan, dessen freischweifende Lektüren sich terminologisch und assoziativ in sein Werk hineinschreiben. Für Manfred Hahn allerdings erschöpfen sich Benns Lektüren nicht in der Suche nach verwertbaren „Stellen“, sondern er betrachtet sie als Folie, auf der weite Teile des Werks Benns basieren und von der aus sie gelesen werden müssen. Das schließt heute wohl weitgehend unbekannte Repräsentanten naturwissenschaftlicher und medizinischer Diskurse wie Theodor Ziehen oder Ernst Bumm, ja teilweise obskure Autoren wie Semi Meyer ebenso ein wie noch immer bekannte Repräsentanten wie Rudolf Virchow, Sigmund Freud oder C. G. Jung.

Die Liste der Namen, die Hahn aufnimmt, ist lang und erhält ihre Dignität daraus, dass sich Benn in seinen literarischen Arbeiten auf sie bezieht und die Lektüre ihrer Werke nachweisbar ist. Die Engführung von Literatur und Naturwissenschaft, die bei Benn unübersehbar ist, macht es zudem plausibel, in seinen Texten nicht nur erschöpfte Mediziner, die halbwegs dem Wahn verfallen, oder modernemüde Atavisten am Werk zu sehen, was dann in Benns Kniefall vor dem Nationalsozialismus mündete, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit den Konstituenten moderner Existenz. Das mag verfehlt angegangen worden sein oder ironisch gebrochen, literarisch reizvoll ist es allemal – eben Benn. Dass dies eine gewisse Spannung birgt, kann angesichts der Unversöhnlichkeit, mit der sich Literatur und Naturwissenschaft gegenüberstehen, kaum überraschen.

Hahn sieht seine Arbeit, die Benns Werk wischen 1905 und 1932 unter die Lupe nimmt und die naturwissenschaftlichen Lektüren des Autors auffaltet, als „Rekontextualisierung“, die offenlegt, was anderenfalls verborgen bleiben muss, und bislang verborgen geblieben ist. Dafür taucht Hahn tief in die Lektüre der Gewährsleute Benns und deren Diskussionskontexte ein. Das ermöglicht zweifelsohne einen tiefen Blick in Diskurse, die im Normalfall jeweils der literaturwissenschaftlichen Exegese entgehen, für eine intensive Auseinandersetzung mit Benns Werk aber unabdingbar sind – da ist Hahn unbedingt zuzustimmen. Wie sollen auch die komplexen, teilweise hermetisch wirkenden Texte Benns erschlossen werden, wenn nicht die Folie, auf der sie entstehen, mit berücksichtigt wird? Wenn denn nicht eine fröhlich-unbedarfte Apostrophierung Benns als ironischer bis gehässiger Kulturkritiker hingenommen werden soll.

Allerdings hat Hahns gewissenhafte Untersuchung von Benns Quellen auch ihre Grenzen. Dass ihre Präsentation die Textinterpretation so kräftig überwuchert, dass sie sich teilweise mit den Nischen zufriedengeben muss, die ihr von Hahn gelassen werden, ist vielleicht hinnehmbar, zumal Hahns ausufernde Lektüren ungeheuer lehr- und aufschlussreich sind. Seine Rückverweisung der Literatur auf die Naturwissenschaft weist sich teils aber selbst wieder in die Schranken. So richtig und sinnvoll es auch ist, etwa die textlichen Vorgaben von Sektionsprotokollen mit den eigentlichen Totenhaus-Gedichten zu kontrastieren, so legitimiert das nicht den fast schon halbherzigen Versuch Hahns, etwa die textliche und stilistische Struktur der „Morgue“-Gedichte vollständig der Vorlage zu verschreiben. Medizinische Lehrbuchvorgaben und literarischer Text sind beim besten Willen – und das geht gerade aus den Beispielen Hahns hervor – nicht identisch, wenngleich – und das ließe Querverweise auf die Assoziationslehre des psychologischen Ziehvaters Benns, Theodor Ziehen, zu – ohne sie diese Texte so nicht denkbar sind. Auch „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ ist nicht einfach nur ein Reflex der Arztvisite, sondern nimmt Anleihen bei deren Struktur, um sie dann – etwa in Richtung einer inversen Liebeslyrik – weiterzuschreiben. Die kleine Aster lässt sich nicht mit dem Material identifizieren, das beim Abschluss der Prosektion zur Hand sein muss, um den ausgenommenen Leichnam wieder zu füllen. Gleichwohl ist der Verweis auf die Homologien beider Texthaltungen erhellend und aufschlussreich – aufschlussreicher jedenfalls, als die dann doch allzu rasche Schlussfolgerung Hahns, mit der Interpretationspotenziale aufgegeben werden.

Erhellend ist freilich die Interpretation der „Rönne“-Erzählungen im Lichte der Überlegungen von Theodor Ziehens, der die Assoziation nicht als willkürliche Aneinanderreihung von Anschauungs- oder Ideenketten verstand, sondern als regelgeleitete Ableitungsweise, die dem menschlichen Bewusstsein Struktur verleiht. Dennoch bleibt die Frage, ob sich damit Benns Texte als Sonderform des Hermetischen erweisen, da sie nur mit dem Wissen um ihre naturwissenschaftlichen Hintergründe angemessen verstanden werden können. Für den Fall des Gedichts „Osterinsel“ und seiner Interpretation durch Edgar Lohner hält Hahn es jedenfalls für einen Mangel, von einer einmal bekannten Vorlage abzusehen. Bleibt dennoch die Frage, ob nicht-wissenschaftliche Leser nicht genau das tun müssen.

Zudem ist fraglich, weshalb Benn den Schritt von der Naturwissenschaft in die Literatur erzwingt. Dass sich die naturwissenschaftliche Erkenntnis nur zeitweiser Anerkennung erfreut und ‚nur‘ einen Zwischenstand bei der Erschließung vollständigeren Wissens oder Erkenntnis darstellt, während die Literatur zeitlose Anerkennung verlangt und erreicht, mag dabei allerdings eine Rolle gespielt haben. Das aber macht es notwendig zu erklären, warum dann Benn das Pendel wieder zurück in Richtung Naturwissenschaft zu neigen versuchte. Wenn Literatur eben nicht das haltbare Wissen, die vollständige Erkenntnis ermöglicht, sondern lediglich einen Entwicklungsstand kennzeichnet.

Das wird, und darauf zielt Hahns Studie ab, dadurch gewährleistet, dass die Naturwissenschaften ja gerade mit der Moderne identifiziert werden, während die Literatur sich bewusst quer zu ihr stellt. Dass sie das tun kann – im Fall Benns zweifellos –, indem sie sich naturwissenschaftlicher Quellen bedient, ist eben nicht nur als Widerspruch im Fall Benns klassifizierbar, sondern verweist darauf, dass die Moderne auch in ihren Kernfächern und gerade im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von Suchbewegungen bestimmt ist, die eben nichts auslassen, weder das, was später als Antimoderne oder Mystizismus diskreditiert wurde, noch das, was auf gegenwärtige Positionen vorausweist. Gerade das umfängliche Kapitel zum Verhältnis des Modernen zum Primitiven, in dem die Quellen Benns nachgezeichnet werden, weist eine Reihe von Umwegen anthropologischer Studien im frühen 20. Jahrhundert auf, deren Kenntnis entscheidend für das Verständnis Benns ist und die im übrigen Hahn höchst anregend zu vermitteln versteht. Staunen lassen solche Extremformen moderner Denk- und Suchbewegungen allemal. Zumal dann, wenn sie nicht zuletzt dazu dienen, aus der Sicht Benns die Marginalisierung der Lyrik gegenüber dem Roman in der Moderne zu suspendieren.

Für Modernes, wie wir es heute akzeptieren, und Mystisches oder Absurdes, das dennoch zweifellos zur Moderne gehört, finden sich bei Benn wie auch bei den Exempeln, die Hahn ausbreitet, zahlreiche Fundstellen. Um also eine zuvor, wenn auch insgeheim und privat geäußerte Meinung zu revidieren: Hahns fulminante Studie ist äußerst anregend, gewinnbringend, so sehr immerhin, dass ihr der eine oder andere starke Ton oder auch die gelegentliche Haltlosigkeit nachgesehen werden sollte.

Titelbild

Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. 1905–1932.
Zwei Bände.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
840 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307841

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