Luther als Mystiker?

Volker Leppin hebt in „Die fremde Reformation“ die spätmittelalterlichen Wurzeln des Reformators hervor

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wendet man sich Martin Luther und der Reformation zu, dann wird man nicht als erstes an Mystik oder mystische Traditionen denken, sondern eher an die Papst- und Kirchenkritik des Reformators, die gesellschaftspolitischen Umbrüche dieser Zeit oder an die vielfältigen Veränderungen in theologischer Hinsicht. Historische oder biografische Betrachtungen lenken den Blick dann auch viel mehr auf die Neuerungen, die mit und durch Luther wirksam geworden sind. Weniger wendet man sich den Prägungen und Voraussetzungen seines Denkens zu, und wenn, dann meist nicht unter der Prämisse mystischen Denkens. Ganz anders Volker Leppin, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Seit Jahren betont er in seinen Studien zu Luther dessen Prägungen durch spätmittelalterliche Diskurse und nimmt dabei vor allem die mystischen Strömungen, die den Reformator beeinflusst haben, in den Blick, so auch in seinem neuesten Buch mit dem Titel Die fremde Reformation.

Nach Luthers Eintritt in den Augustinerorden war es vor allem sein Beichtvater Johann von Staupitz, der ihn mit der spätmittelalterlichen Mystik bekanntmachte und ihn in seiner weiteren Entwicklung entscheidend prägte. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Luther: „Staupicius hat die doctrinam angefangen.“ Leppin betont, dass vieles von dem, was als genuin reformatorische Theologie betrachtet wird, bei Staupitz bereits angelegt gewesen sei, beispielsweise die Hervorhebung der biblischen Schriften oder die Konzentration auf (den leidenden) Christus. Er war es auch, der Luther die Predigten Johannes Taulers, der stark vom Gedankengut Meister Eckharts geprägt war, sowie einen mystischen Traktat aus dem 14. Jahrhundert nahebrachte, der seinen Namen, unter dem er heute bekannt ist, von Luther erhalten hat: gemeint ist die Theologia deutsch. Luther setzte sich engagiert für die Verbreitung beider Schriften ein. Zu Taulers Predigten schrieb er 1516 in einem Brief an Georg Spalatin, einem der engsten Vertrauten Friedrichs des Weisen, dass er bisher „weder in der lateinischen noch in unserer Sprache eine heilvollere und mehr mit dem Evangelium übereinstimmende Theologie gefunden“ habe.

Die Aufnahme und Verarbeitung des mystischen Gedankengutes durch Luther zeichnet Leppin in seinem Buch mustergültig nach, es würde jedoch zu weit gehen, Luther deshalb als Mystiker zu bezeichnen, auch wenn entsprechende Anklänge in seinem Werk zweifelsohne vorhanden sind. Der Autor ist sich dessen bewusst und äußert sich dazu eher zaghaft, indem er von Luther als einem „mystisch geprägte[n] Theologen“ spricht. Was genau Leppin jedoch unter „Mystik“ versteht, bleibt unklar, nirgends im Buch geht er näher darauf ein. Eine ‚verinnerlichte‘ Frömmigkeit muss noch keine Mystik sein, genauso wenig wie „Spiritualität“ mit „Mystik“ gleichzusetzen ist. Vollkommen fragwürdig wird die Begriffsverwendung, wenn der Tübinger Theologe konstatiert: „Für Luther aber wurde die Schrift schon früh zu einer mystischen Größe.“

Weiterhin ist zu fragen, ob man wie Leppin tatsächlich davon ausgehen kann, dass die von Luther maßgeblich entwickelte reformatorische Theologie eine „Transformation der Mystik“ darstellt oder ob nicht andere Strömungen und Einflüsse ebenso stark oder nicht sogar stärker zur Herausbildung der Reformation beigetragen haben. Leppin geht in seinem Text zwar auch am Rande auf den Humanismus und die Rolle der Politik ein, sieht aber hinter nahezu allen Entwicklungen in Luthers Theologie die Nachwirkungen der Mystik am Werk, sei es bei der „Zwei-Reiche-Lehre“, beim Umbau der Sakramentenlehre oder bei der Freiheitstheologie Luthers. Der Eindruck bleibt nicht aus, dass der Autor seine umstrittene These unbedingt retten wollte. Ist sie hinsichtlich der Anfänge von Luthers reformatorischem Wirken noch relativ plausibel, verliert sie mit fortschreitender Entwicklung des reformatorischen Programms zunehmend an Evidenz.

Leppin geht es in Die fremde Reformation jedoch auch darum, Luthers Verhaftetsein in spätmittelalterlichen Traditionen und Diskursen aufzuzeigen. Er wendet sich dezidiert gegen jene, die in der Reformation, speziell im „Thesenanschlag“ Luthers, der wohl so nie stattgefunden hat, den ‚Anbruch der Neuzeit‘ sehen. So war etwa Adolf von Harnack (1851–1930), einer der bedeutendsten Theologen des frühen 20. Jahrhunderts, davon überzeugt: „Die Neuzeit hat mit der Reformation Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet.“ Doch auch wenn von Harnacks Postulat lange in der Forschung nachhallte, so geht doch heute kaum noch einer ernsthaft davon aus, dass mit dem „Thesenanschlag“ der ‚Anbruch der Neuzeit‘ zu datieren ist. Und genau deshalb bleibt unverständlich, warum Leppin so strikt auf seinen Positionen beharrt und sie immer neu zu beweisen versucht. Ohne die spätmittelalterlichen Vorläufer und Traditionen ist Luther und die Reformation in der Tat nicht zu denken. Reformbestrebungen jedenfalls gab es schon lange vor Luther, man denke nur an die Papst- und Kleruskritik von John Wyclif, Jan Hus oder die Kirchenkritik eines Erasmus von Rotterdam. Insofern war der Wittenberger Theologe nur einer von vielen. Luther war Produkt dieses kirchlichen und religiösen Wandels und stand gleichzeitig mitten in diesem, „und er hat ihn wie kein zweiter vorangetrieben und gestaltet“ (Heinz Schilling). Bei aller Betonung der spätmittelalterlichen Wurzeln der Reformation und des Anteils, den Luther daran hatte, dürfen die Neuerungen der reformatorischen Theologie jedoch nicht vergessen werden, was bei Leppin definitiv zu kurz kommt. Er wertet Mystik und spätmittelalterliche Strömungen auf zugunsten der reformatorischen Innovationen Luthers.

Trotz aller Kritik soll nicht verschwiegen werden, dass Leppins Buch interessante Einsichten über Luther und sein reformatorisches Umfeld bieten, etwa wenn der Tübinger Theologe auf die Rolle des Ritters Franz von Sickingen eingeht, dessen Ebernburg zum Zufluchtsort für verfolgte Luther-Sympathisanten wurde, wenn er die Bedeutung der Stadt Nürnberg in den reformatorischen Wirren aufzeigt oder wenn er auf die vor allem in den Städten gebildeten Bruderschaften eingeht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
247 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783406690815

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