Nationaldichter und Nobelpreisträger

Zum 100. Todestag von Henryk Sienkiewicz

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Die polnische Literatur war immer eng mit der Geschichte des Landes, mit dem nationalen Schicksal verbunden. Der polnische Dichter fungierte gewissermaßen als Träger der Kultur, der das Volk in schweren Zeiten mit geistiger Nahrung versorgte, die Erinnerungen an die Vergangenheit und die Hoffnung auf Selbstbestimmung stets wachhielt. Bisher erhielten vier polnische Schriftsteller den Literaturnobelpreis, zweimal zu Beginn (1905 Henryk Sienkiewicz und 1924 Władysław Stanisław Reymont) und zweimal gegen Ende des 20. Jahrhunderts (1980 Czesław Miłosz und 1996 Wisława Szymborska). Der erste polnische Literatur-Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz war mit seinen Werken solch ein nationaler Repräsentant der Literatur und Kultur und ist bis heute einer der populärsten Schriftsteller in Polen.

Henryk Sienkiewicz wurde am 5. Mai 1846 in Wola Okrzejska im russischen Teil Polens als ältester Sohn eines niederen Landadligen (genauer eines Landgutpächters) geboren. Kindheit und Jugend waren geprägt vom Landleben und seinen Traditionen, aber auch vom Patriotismus des Vaters, dessen Vorfahren litauische Tartaren waren. 1861 siedelte die Familie nach Warschau um, wo der junge Henryk bereits seit drei Jahren das Realgymnasium besuchte. Er soll kein besonders fleißiger Schüler gewesen sein; so legte er seine Maturaprüfung ein Jahr verspätet ab. 1866 nahm er schließlich ein Studium an der juristischen Fakultät auf, wechselte aber – Ausdruck seiner jugendlichen Unentschlossenheit –  noch zweimal die Fachrichtung (Medizin und Philosophie). Da er vom Elternhaus keinerlei Unterstützung bekam, musste er nebenbei als Hauslehrer arbeiten.

Der Student Sienkiewicz fühlte sich auch zur Literatur hingezogen, und er konnte erste satirische Texte und Feuilletons in der gemäßigten Warschauer Tageszeitung Gazeta Polska veröffentlichen. Sienkiewicz träumte von einer journalistischen Karriere, und so war es kein Wunder, dass er zur Abschlussprüfung seines Studiums nicht antrat. Als Journalist reiste Sienkiewicz viel; häufig war er nur kurzzeitig in seiner Warschauer Wohnung. Seine zahlreichen Artikel und Reisebeschreibungen wurden in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht, zunächst in der fortschrittlich-liberalen, später auch in der konservativen Presse.

Im Auftrag der Gazeta Polska reiste Sienkiewicz 1876 nach Amerika, um dort über eine Ausstellung in Philadelphia zum 100jährigen Bestehen der Vereinigten Staaten zu berichten. Die Reise hatte aber noch eine weitere Mission. Er hatte zuvor Kontakt zu polnischen Künstler-Emigranten und sollte nun in Kalifornien eine geeignete Farm für die Gruppe erwerben. Zwei Jahre lang bereiste Sienkiewicz die USA und schrieb als Korrespondent zahlreiche Artikel über das gesellschaftliche Leben sowie Naturschilderungen und Briefe, die in der Heimat ein überaus interessiertes Leserpublikum fanden. Die Reise war für ihn nicht nur das große Abenteuer gewesen, sondern schärfte auch sein schriftstellerisches Talent. Unmittelbar nach der Amerikareise schloss sich noch ein längerer Aufenthalt in Westeuropa an, sodass Sienkiewicz erst nach fast vier Jahren nach Warschau zurückkehrte.

Bereits während seines Studiums hatte sich Sienkiewicz als Romancier versucht und u.a. einen Roman geschrieben, dessen Text allerdings verloren ging. Sein literarisches Debüt konnte er dann in den 1870er-Jahren mit Skizzen, Humoresken und einigen Novellen feiern. Diese frühen Werke waren vom polnischen Positivismus geprägt, von dem er sich in seiner historischen „Trilogie“ (Mit Feuer und Schwert, Die Sintflut und Herr Wołodyjowski, 1884-1888) verabschiedete. Darin thematisiert Sienkiewicz verschiedene Ereignisse der polnischen Geschichte des 17. Jahrhunderts. Dieses dreiteilige Historienepos begründete seinen Ruhm innerhalb der polnischen Literatur und auch der Weltliteratur. Mit dem zeitgenössischen Roman Ohne Dogma (1889) versuchte er sich in der Gattung des psychologischen Romans, der zwar hinter den großen französischen und russischen Vorbildern (Stendhal, Dostojewski) zurückblieb, aber von der Leserschaft doch mit Interesse aufgenommen wurde. 1890 unternahm Sienkiewicz im Auftrag der Zeitung Slowo eine Reise nach Afrika, die er jedoch wegen einer Fiebererkrankung abbrechen musste. Während einer Venedig-Reise lernte der umtriebige und inzwischen 34-jährige Journalist und Autor die junge Maria Szetkiewicz kennen und heiratete sie 1881. Die beiden hatten zwei Kinder, doch Maria verstarb bereits nach vier Jahren Ehe. Später heiratete der Witwer noch zweimal (1893 und 1903).

Nachdem Sienkiewicz mit dem Roman Familie Polanieckich (1894) noch einmal ein zeitgenössisches Thema vorgelegt hatte, widmete er sich mit seinem nächsten Romanprojekt Quo vadis? (1896) wieder der Historie. Der Roman beschreibt die Anfänge des Christentums im alten Rom zur Zeit des Kaisers Nero. Sienkiewicz hatte dafür umfangreiche Recherchen betrieben einschließlich einer Reise in die Ewige Stadt. Detailliert und bildhaft beschreibt er die dekadente römische Oberschicht und bettet die christliche Botschaft in eine dramatische Liebesgeschichte zwischen einem jungen Römer und einer überzeugten Christin ein. Der Roman ist bis heute ein Welterfolg und wurde mehrfach verfilmt. Am bekanntesten ist die Hollywood-Verfilmung aus dem Jahr 1951 mit Peter Ustinov in der Rolle Neros. Quo vadis? machte Sienkiewicz finanziell unabhängig und begründete endgültig seinen Weltruhm. Ende des 19. Jahrhunderts war der Roman immerhin das verbreitetste Buch.

Sienkiewicz‘ nächstes Buch Die Kreuzritter (1900) war erneut ein historischer Roman, aber gleichzeitig ein nationales Heldenepos, dem ebenfalls ein genaues Quellenstudium voranging. Historischer Hintergrund ist der andauernde Konflikt zwischen dem Königreich Polen und den Kreuzrittern im ausgehenden 14. Jahrhundert, der seinen Höhepunkt in der Schlacht bei Tannenberg im Jahre 1410 fand, wo der Deutsche Ritterorden gegen ein vereintes Heer aus Polen, Litauern, Weißrussen und Tataren eine schwere Niederlage erlitt. Obwohl Die Kreuzritter sicher nicht zu den besten Romanen von Sienkiewicz gehört, wurde er, vor allem wegen der spannungsreichen Beschreibung von Schlachtszenen, nahezu enthusiastisch aufgenommen. Noch heute ist das Heldenepos (auch dank der Verfilmung aus dem Jahr 1960) eines der meistgelesenen Bücher in Polen.

Sienkiewicz erhielt in diesen Jahren zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen – vom Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg bis zur Ehrendoktorwürde der Jagiellonen Universität in Krakau. 1900 wurde ihm wegen seiner Verdienste für das polnische Volk ein Landgut in Oblęgorek zum 25. Jahrestag seiner literarischen Arbeit geschenkt. Für dessen Erwerb hatte man sogar eine allgemeine Sammelaktion durchgeführt, doch das ‚Geschenk der Nation ‘ erwies sich wegen Unwirtschaftlichkeit eher als Belastung für den Schriftsteller. Heute beherbergt das Schlösschen das Sienkiewicz-Museum. Den Höhepunkt der Ehrungen stellte jedoch 1905 die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis dar. Es war überhaupt erst das vierte Nobeljahr, und Sienkiewicz hatte bereits in den Vorjahren auf den Vorschlagslisten gestanden. 1905 hatte er prominente Mitbewerber, u.a. Lew Tolstoi, Rudyard Kipling, Selma Lagerlöf und Giosuè Carducci, die dann später selbst Preisträger wurden. Die Schwedische Akademie begründete ihre Wahl: „Bei Henryk Sienkiewicz […] findet man […] eine zugleich kraftvolle und warmherzige Weltanschauung. […] Seine historischen Romane gaben Generationen von Polen in Zeiten nationalen Unglücks seelischen Halt.“ Sein Roman Quo vadis? war sicher ein wesentlicher Grund für die Auszeichnung, doch der Nobelpreis wurde ihm ausdrücklich „auf Grund seiner großartigen Verdienste als epischer Schriftsteller“ verliehen.

In Polen löste die Entscheidung der Schwedischen Akademie Freude und Stolz aus, während es andernorts auch kritische Stimmen gab, die beanstandeten, dass man einen Bestseller-Autor und keinen , Schöpfer hoher Literatur‘ ausgezeichnet hatte. Solche riesigen Bucherfolge, wie sie Sienkiewicz mit seinen Romanen erzielte, waren damals noch Neuland, und das Bild vom hehren Dichter in der Dachkammer hält sich ja bis heute. Diese unberechtigte Kritik zog sich aber durch das ganze 20. Jahrhundert; so spottete Arno Schmidt noch in den 1950er-Jahren über den Nobelpreis für Sienkiewicz: „dann hätte man ihn genau so gut Karl May geben können!“

Nach seinen beiden Riesenerfolgen Quo vadis? und Die Kreuzritter schrieb Sienkiewicz noch einige Romane, die jedoch nicht mehr an den Erfolg dieser großartigen Werke heranreichten: Am Felde der Ehre (1906) oder Wirbel (1910). Eine positive Ausnahme bildete der Abenteuerroman In der Wüste und im Urwald (1911), den er für Kinder und Jugendliche geschrieben hat und worin er Erlebnisse und Beobachtungen seiner Afrikareise einfließen lässt.

Nicht nur in seinen literarischen Werken war Sienkiewicz ein Verfechter der polnischen Sache; so kritisierte er in einem offenen Brief an den deutschen Kaiser Wilhelm II. die antipolnische Außenpolitik Preußens. Die letzten Jahre verbrachte der Schriftsteller im Schweizerischen Vevey, wo er auch das humanitäre „Schweizerische Generalkomitee der Kriegsopfer in Polen“ gründete. Zu seinem 70. Geburtstag erreichten ihn noch unzählige Glückwünsche aus der polnischen Heimat. Ein halbes Jahr später starb Henryk Sienkiewicz am 15. November 1916. Acht Jahre später, als nach dem Ersten Weltkrieg Polen seine Souveränität zurückerlangt hatte, wurden seine sterblichen Überreste in die Krypta der Warschauer Johanneskathedrale umgebettet. Während seines Lebens war sein Land dagegen von drei europäischen Großmächten (Preußen, Russland und Habsburg) geteilt.

Außerhalb Polens werden die Bücher von Sienkiewicz heute eher selten verlegt, wohingegen sie in seiner Heimat immer noch eine identitätsstiftende Bedeutung besitzen. Entsprechend wurde in unserem Nachbarland 2016 zum „Henryk-Sienkiewicz-Jahr“ erklärt: „Er habe mit seinem Werk und publizistischen Schaffen sowie mit seiner gesellschaftlichen Tätigkeit das polnische Nationalbewusstsein geweckt und den Stolz auf das Polentum, die Vaterlandsliebe und die Opferbereitschaft befördert.“ So wurde im Verlauf des Jahres mit zahlreichen Veranstaltungen und Lesungen an das vielfältige Werk des Dichters erinnert. Mitunter waren diese Würdigungen jedoch nationalistisch angehaucht, wenn es z.B. heißt: „sein Erbe bildet die Grundlage für die patriotische Erziehung junger Generationen von Polen.“ Jeder Leser sollte sich selbst ein Bild machen, die Lektüre seiner Werke lohnt nach wie vor.