Patriotismus und Wirklichkeitsverlust?

Gottfried Benns Geschichtsschreibung über die Okkupation in Belgien (1914-1918)

Von Hubert RolandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hubert Roland

Die Jahre des Ersten Weltkriegs und der Okkupation in Belgien fallen bekanntlich mit einer intensiven Schaffensphase der Kreativität beim Dichter und Schriftsteller Gottfried Benn zusammen. Mehrmals ist Benn später in seinen autobiographischen Schriften und in seinen Briefen an F.W. Oelze auf die Bedeutung der großen inneren Wandlung, die er damals in der besetzten Stadt Brüssel erlebte, zurückgekommen, ein unmissverständlicher Wendepunkt in seinem Leben und Werk.

lm August 1914 zieht der erst vor zwei Jahren aus dem Militärdienst entlassene Benn wieder die deutsche Uniform an. Er wird nach Belgien geordert, und Anfang Oktober nimmt er an der Belagerung von Antwerpen mit den Truppen des Generals von Beselers teil. Bei der Erstürmung ist er in erster Linie dabei, vermutlich nicht ohne Begeisterung, denn er erhält dabei das Eiserne Kreuz 2. Klasse als Sanitätsoffizier. Danach wird Benn nach Brüssel kommandiert, der Stadt, an die er sich noch in seinem Brief an Oelze vom 24. April 1942 (als Oelze selber nach Brüssel abgerufen wurde) erinnert, in dem er anschließend aus seiner Rönne-Novelle Die Reise zitiert: „Sie schreiben: Rue de la loi. Dort wohnte ich das erste Jahr; im Parlamentsgebäude war das ‚Gouvernement Brüssel‘ untergebracht, darunter der Gouvernementsarzt, zu dem ich gehörte. ‚Chambre des Réprasentents‘ [richtig: Représentants]; gegenüber der kleine Park mit den Statuen und dem Theater, die Statuen, die Hermen, ‚vor denen nie verging das südliche Meer‘.“

Benns „Brüsseler Gefühl“ wird in der Regel mit seinen oft zitierten Aussagen aus Epilog und lyrisches Ich (1923) assoziiert, die glasklar und undurchdringlich zugleich wirken: „Ich war Arzt an einem Prostituiertenkrankenhaus, ein ganz isolierter Posten, lebte in einem konfiszierten Haus, elf Zimmer, allein mit meinem Burschen, hatte wenig Dienst, durfte in Zivil gehen, war mit nichts behaftet, hing an keinem, verstand die Sprache kaum; strich durch die Straßen, fremdes Volk; eigentümlicher Frühling, drei Monate ganz ohne Vergleich, was war die Kanonade von der Yser, ohne die kein Tag verging, das Leben schwang in einer Sphäre von Schweigen und Verlorenheit, ich lebte am Rande, wo das Dasein fällt und das Ich beginnt. lch denke oft an diese Wochen zurück; sie waren das Leben, sie werden nicht wiederkommen, alles andere war Bruch.“

Das sogenannte Prostituiertenkrankenhaus befand sich in der Nähe von Benns Wohnung, Rue Saint-Bernard Nr. 1 (in der es früher eine Werkstatt des belgischen Malers Fernand Khnopff gegeben hatte), in der Vorstadt Saint-Gilles der Brüsseler Hauptstadt. In diesem Krankenhaus leitete Benn laut seinen Biographen eine Sonderabteilung für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Die „drei Monate ohne Vergleich“ bezeichnen den Frühling 1916, als Benn die Novellen Die Reise und Der Geburtstag verfasste, in denen der Autor das melancholische Flanieren und die plötzlichen Identitätsbrüche seines literarischen Pendants, des Kriegsarztes Rönne, inszenierte. Von Ende 1914 bis Herbst 1917 erlebte Benn also eine Phase gesteigerter Kreativität vor dem Hintergrund der Okkupation. Nach einigen Stunden Arbeit hatte er den ganzen übrigen Tag für sich, den er dann in den Kinos, Parks und Cafés verbrachte, wo er mit anderen Mitgliedern der deutschen „literarischen Kriegskolonie“ in Belgien (wie Carl und Thea Sternheim, Carl Einstein oder Hermann Kasack) verkehrte. Diese entfesselte schöpferische Hochstimmung geschah „im Auge des Hurrikans“, wie Reinhold Grimm treffend dargestellt hat. lm Wirbelsturm der Geschichte sei Benn im Kriegsfrühling 1916 in eine schöpferische Windstille inmitten des Taifuns zurückgekehrt: „In Krieg und Frieden, in der Front und in der Etappe, als Offizier wie aIs Arzt, zwischen Schiebern und Exzellenzen, vor Gummi- und Gefängniszellen, an Betten und an Särgen, im Triumph und im Verfall verließ mich die Trance nie, dass es diese Wirklichkeit nicht gäbe“, heißt es in Lebensweg eines Intellektualisten (1934). Vorübergehende Augenblicke der Harmonie, in denen er dann der unerträglichen Kriegswirklichkeit nicht mehr ausgesetzt war, wirken in Benns Erinnerung epiphanisch, wie noch im späten autobiographischen Text 1956 kurz vor seinem Tod: „Ich erinnere mich an eine Silvesternacht im Ersten Kriege. Wir waren in einer glänzenden eleganten Stadt, einer Hauptstadt. In der berühmten wunderbaren weißen Kathedrale fand die Mitternachtsmesse statt. Das Land war katholisch, der Dom war überfüllt, die meisten mussten stehen, wir fremden Soldaten standen in Uniform zwischen ihnen, und alles gehörte in dieser Nacht zusammen“.

Glückhafte Erfahrungen waren aber nicht die Regel, wenn es um Fakten und Stimmung der Okkupation ging, die Benn später in seinem 1928 veröffentlichten Bericht über die Hinrichtung von Edith Cavell so schilderte: „Eine schwache, inaktive deutsche Truppe hielt die Hauptstadt, die schöne impulsive, aufgeregte, hasserfüllte Hauptstadt; an ihrer Spitze ein Oberbürgermeister, der offen gegen die Verordnungen des deutschen Kommandanten handelte; die Bevölkerung von absolut unverdeckter Feindschaft; die nationalen Farben und Kokarden handtellergroß an Hut und Knopfloch, an Schirm und Schlips; Überfälle nachts, Gefahr in den Straßen, Verbot für Soldaten, allein auszugehen, Angriffe auf Eisenbahnen, Sprengungen von Tunnels, Attentate auf Truppentransporte, also unsichere Lage, unentschiedener Krieg.“ In diesem Text wird Geschichte rückblickend geschrieben, mit Bezug auf ein traumatisches Ereignis, das internationale Resonanz gefunden hatte, nämlich die Hinrichtung der britischen Krankenschwester Edith Cavell durch die deutschen Besatzungskräfte, der Benn am 12. Oktober 1915 persönlich beigewohnt hatte.

Benns „Bericht eines Augenzeugen“ über die Hinrichtung Cavells, den er – anlässlich des Erscheinens des englischen Kriegsfilms Dawn – mehr als zwölf Jahre nach dem Ereignis, am 22. Februar 1928 im 1. Beiblatt des 8Uhr-Abendblatts der National-Zeitung veröffentlichte, zählt zu den umstrittenen Episoden aus seiner Biographie. Edith Cavell, die Direktorin einer Brüsseler Krankenpflegeschule, welche nach Kriegsanfang in ein Lazarett umgewandelt worden war, hatte sich an einem belgischen Widerstandsnetzwerk beteiligt: Verwundete belgische, englische und französische Soldaten aus der nordfranzösischen Front wurden dort gepflegt, über die holländische Grenze gebracht und schließlich wieder als Soldaten eingesetzt. Nachdem Cavell durch einen Spitzel denunziert worden war, fand ein Prozess vor einem deutschen Kriegsgericht in Brüssel statt. Zusammen mit dem belgischen Ingenieur Philippe Baucq wurde sie, nach einem von den Deutschen abgelehnten Gnadengesuch von zwei neutralen Staaten (u. a. vom amerikanischen Botschafter in Brüssel, Brand Whitlock), am 12. Oktober 1915 hingerichtet. Die Exekution einer Frau löste weltweite Empörung aus, nährte den Diskurs über die German atrocities in Belgien und galt mit der Versenkung des Passagierdampfers Lusitania im Mai 1915 als mitverantwortlich für den späteren Kriegseinsatz der USA. Benn musste beim Prozess und bei der Hinrichtung als abkommandierter Sanitätsarzt fungieren.

Auch mit Blick auf seine gesamte intellektuelle Biographie ist diese verhängnisvolle Episode einige Überlegungen wert. Bemerkenswert ist, dass der ästhetischen Wandlung des Dichters Benn in diesen Jahren eine durchaus politisch-ideologische dogmatische Haltung entsprach. Und 1928 hatte sich seine Position gegenüber der Angelegenheit Cavell in nichts geändert: „Aus der Logik des militärischen Systems“ hätte, so Benn, Miss Cavell nicht begnadigt werden dürfen; und trotz seiner persönlichen Bewunderung ihres Mutes war es seine Überzeugung, dass sie als Handelnde „für ihre Taten büß[en]“ musste.

Diese Einstellung widerspricht allerdings völlig dem Geist eines anderen Textes von Benn aus dem gleichen Jahre 1915, der theatralischen Szene Etappe. Kaum sechs Monate nach dem Kriegsanfang ist hier die aufrührerische Stimme vom Oberarzt Dr. Olf gegen die kaltblütige Organisation der Kriegsgräuel, die von den „Schiebern und Exzellenzen“ organisierte Maschinerie, laut vernehmlich. Den Lazarettsarzt Dunker fragt Olf schon in der ersten Szene: „Haben Sie sie gesehen, die blutgrauen Leichenschädel und die zersplitterten Visagen? Dazu das ganze Getümmel, die Schreie und der Mord? Ich sage Ihnen, Dunker, sie kriegten kein Schwein mehr gegen die Drahtverhaue, wenn die draußen wüßten, wer hier den Tod verschachert…“

Dieser (zweifellos authentische und von der Zensur damals unterdrückte) Revolteschrei, der in der Art von Karl Kraus den Krieg als strategisches Spiel entlarvt, bildet einen nicht zu überbrückenden Widerspruch zu der Stimme des „Zeugen“ der Geschichte im Miss Cavell-Text von 1928. In dieser polemischen Stellungnahme plädiert Benn 10 Jahre nach Kriegsende und mit konfusen geschichtsphilosophischen Argumenten für die Legitimität dieses historischen Vorfalls, ohne den mindesten Zweifel an der Durchführung der Kriegslogik zu äußern: „Das große Phänomen des historischen Prozesses, sowohl als Ganzes tief und widersinnig wie im einzelnen tragisch und absurd, könnte es geschaffen und getragen werden von einer Menschheit, die mit Begnadigung rechnet? Nein, die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks, und die Pfosten des Pantheons sind mit Blut gestrichen derer, die handeln und dann leiden, wie das Gesetz des Lebens es befiehlt“.

Nicht umsonst wurde der Text „Wie Miss Cavell erschossen wurde“ 1929 wieder abgedruckt in der Anthologie Was wir vom Weltkrieg nicht wissen, „einem prächtig ausgestatteten coffeetable-book der ‚vaterländisch empfindenden Versailles-Verächter‘“ (Jörg Döring und Erhard Schütz), das noch später, 1936 und 1938, mit einem Geleitwort von Hermann Göring in einer Volksausgabe neu verlegt wurde.

Problematisch ist die doppelte Haltung Benns in der Intention dieses Artikels. Einerseits tritt er offen als Polemiker auf und bestreitet die patriotische Anschauung des Filmregisseurs Herbert Wilcox, obwohl Dawn in deutschen Kinos noch nicht zu sehen war (erst am 27. Juni 1928, vier Monate nach dem Erscheinen von Benns Artikel also, fand im Kinosaal der Lichtbildbühne eine Sondervorführung vor geladenem Publikum statt). Andererseits versteht sich Benn auch als Historiograph und will über seinen Augenzeugenstatus den eigenen Anspruch der Geschichtsschreibung legitimieren: „Ich weiß nicht, ob noch jemand lebt, der beides, sowohl den Prozess wie die Hinrichtung, mit eigenen Augen gesehen hat; nicht der Gouverneur, der die Exekution befahl, nicht der Diplomat, der sich um die Begnadigung bemühte, haben die Vorgänge persönlich gesehen und gehört“.

Wie sieht es aber tatsächlich mit dem Wirklichkeitsbezug des Artikels aus? Zum Vergleich kann man den nüchternen Bericht des anderen Augenzeugen, des evangelischen Geistlichen Paul Le Seur, der am 7. März 1928 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde, auswerten. Eine andere Perspektive, die dem Ereignis zeitlich näher steht, bietet aber auch das „indirekte Zeugnis“, das in den Tagebüchern von Thea Sternheim belegt wird und ein bezeichnendes Licht auf Benns damalige Haltung wirft. Thea Sternheim war die Gattin von Carl Sternheim und hatte sich mit ihrer Familie 1913 in La Hulpe (in der Nähe von Brüssel) im Haus Clairecolline niedergelassen, das in der Kriegszeit zu einem wichtigen Treffpunkt der in Brüssel tätigen deutschen Literaten (wie Benn, Carl Einstein, Wilhelm Hausenstein, Rudolf-Alexander Schröder usw.) wurde. Daneben pflegte das Ehepaar ein gutes Verhältnis zu der lokalen Bevölkerung, u. a. zum Bürgermeister von La Hulpe, dessen Schwager Georges Hostelet im Rahmen des Cavell-Prozesses zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Mit Erfolg setzten sich die Sternheims für die spätere Befreiung von Hostelet und anderen Personen ein.

Dieser Anlass war Grund genug für heftige Spannungen beim ersten Besuch von Benn in Clairecolline am 3. Februar 1917, also ca. sechzehn Monate nach der Hinrichtung. „Auf meine Erklärung hin, wie wir uns für die Befreiung Hostelets bemühen“, so schreibt Thea Sternheim in ihrem Tagebuch, antwortet Benn: „Ist es nicht ganz richtig, dass man Leute, die einem schaden wollen, einsperrt?“ Zur gleichen Tagebuchnotiz gehört das früheste Zeugnis über die Hinrichtung Cavells und Baucqs, nämlich Benns mündliche, von Thea Sternheim wiedergegebene Beschreibung der Szene: „Die zwei zum Tode Verurteilten wurden auf einen Schießstand geführt. Jeder wurde von einem Geistlichen begleitet. Man verband ihnen die Augen. Die Cavell sprach nicht mehr. Boog [sic] aber rief: ,Devant la mort nous sommes tous des camarades.’ Da schrie ihn der Kriegsgerichtsrat Stoeber an, die Gewehre der ganz nahstehenden Soldaten gingen los: mit zerrissener Brust fielen die Erschossenen zur Erde“. In punktuellen Details unterscheidet sich Thea Sternheims Bericht über die Exekution Baucqs von dem späteren Zeugnis Benns 1928. Hier sagt Baucq den ergreifenden Satz nicht mit verbundenen Augen unmittelbar vor der Erschießung, sondern bereits früher, im Moment seiner Ankunft am Exekutionsplatz, kurz nachdem er aus dem Auto ausgestiegen ist. Er stellt sich den Soldaten mit einer selbstbewussten Geste vor: „Mit einer Lebendigkeit ohnegleichen, mit einer fast gelösten Leichtigkeit schreitet er den Hang hinunter, wo die Soldaten stehen, zieht die Mütze, stellt sich mit einer unnachahmlich chevaleresken Bewegung vor die Gruppe, die ihn erschießen wird, sagt die Worte: ‚bon jour, Messieurs, devant la mort nous sommes tous des camarades‘ – wird vom diensthabenden Kriegsgerichtsrat unterbrochen, der wahrscheinlich eine aufreizende Rede fürchtet. Von nun an bleibt der Delinquent stehen, ruhig, todesgewiss, in der Haltung vollkommen“. Will man davon ausgehen, dass Thea Sternheim 1917 die Szene wiedergibt, wie Benn sie einige Stunden zuvor erzählt hat, dann stimmen die beiden Fassungen des Berichts nicht miteinander überein. Selbstverständlich sind Tagebucheintragungen einer anderen Person in freier (in)direkter Rede nicht absolut zuverlässig, andererseits entstanden sie in signifikant kürzerer zeitlicher Distanz nach dem Geschehen.

Hinzu kommt außerdem noch die politische Dimension der Erinnerungsliteratur. Tatsächlich ist die Wirklichkeit der Hinrichtung selbst kaum mehr exakt zu fassen, da die Propaganda und die belgische Patriotenliteratur der Nachkriegszeit unterschiedliche, oft spektakuläre und ideologisch stark geprägte Fassungen dieser Szene verbreitet haben. Baucq wurde in der Zwischenkriegszeit zum nationalen belgischen Märtyrer. So errichtete man in Brüssel zu seinen Ehren ein spektakuläres Denkmal, welches jedoch von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. (1970 wurde es durch ein zeitgenössisches, erheblich nüchterneres Kunstwerk im Brüsseler Parc Josaphat unweit von dem Ort der Erschießung ersetzt.) Auch gegen diese Interpretationen hatte ein gewisser Felix Baumann 1933 in einer nationalistischen Publikation alle zur Verfügung stehenden Zeugnisse über die Hinrichtung gesammelt. Der Verfasser beabsichtigte mit seiner Dokumentation, ebenso wie Benn, die ‚Nüchternheit‘ und ‚Gerechtigkeit‘ des deutschen Vorgehens hervorzuheben. Und er hat ebenso das aufschlussreiche Zeugnis des Militärgeistlichen Le Seur einbezogen: „Als wir draußen ankamen, stand vorschriftsmäßig eine kriegsstarke Kompagnie dort unter Führung eines Stabsoffiziers. Kriegsgerichtsrat Dr. Stoeber mit seinem Protokollführer, ein Offizier und ein Arzt waren zur Stelle. Wir Geistlichen führten die Verurteilten vor die Front. Die Kompagnie präsentierte das Gewehr und das Urteil sollte deutsch und französisch verlesen werden. Da rief Mr. Baucq mit heller Stimme auf französisch: „Kameraden! Vor dem Tode sind wir alle Kameraden!!“ Weiter durfte er nicht reden. Das Urteil wurde verlesen und danach den Geistlichen das letzte Wort mit den Verurteilten erteilt“.

Eigentlich ist der Bericht des Militärgeistlichen dem Thea Sternheims näher, bietet aber noch eine leicht veränderte Reihenfolge des Ereignisses, da der Ausruf von Baucq nicht unmittelbar im Augenblick vor der Hinrichtung ausgesprochen wird. Bei Thea Sternheim hätte man es logischerweise mit einer elliptischen Zeitraffung zu tun, nicht aber mit der umgekehrten Chronologie von Benn 1928, der Baucqs Verhalten quasi literarisch inszeniert. In seinem Zeugnis wird tatsächlich der Satz „devant la mort nous sommes tous des camarades“ mit Leichtigkeit von einer chevaleresken Bewegung direkt nach dem Aussteigen aus dem Autos begleitet, noch dazu mit der Begrüßungsformel „bon jour, Messieurs“, die es im Zeugnis von Le Seur nicht gibt. Eine solche Anrede in dieser Chronologie der Ereignisse, d. h. nachdem die Kompanie das Gewehr präsentiert hat, ist wenig plausibel. Vielmehr hat die ritterliche Haltung von Baucq und Cavell in Benns Diskurs eine gezielte Funktion. Denn zum „ordentlichen Kriegstreiben“ gehört der Respekt vor dem Gegner. Nicht umsonst betont Benn gleich am Anfang des Textes, dass er sich Edith Cavells, „als einer Handelnden, die für ihre Taten büßte, als der kühnen Tochter eines großen Volkes, das sich mit uns im Krieg befand“ erinnert; im letzten Abschnitt wird sie noch die „tapfere[…] Tochter des englischen Volkes, die nun in London zwischen den Königen ruht“, genannt. Die Veränderungen in der Chronologie der Ereignisse, die Benn vornimmt, lassen sich daher als eine „dezente Manipulation“ der historischen Wirklichkeit im Dienste von Benns innerer Überzeugung interpretieren. Gegen den englischen Propagandafilm will er sich für die von ihm verteidigte ‚Kriegsethik‘ der Deutschen einsetzen. Baucqs Gelassenheit, als er aus dem Auto aussteigt, lässt seine ritterliche Dimension noch stärker hervortreten. Der Mut des Gegners verdient in Benns Augen Aufmerksamkeit und Respekt. Trotzdem rechtfertigt er die richtige Kriegsethik, die die Deutschen, so Benns Aussage, verkörpert haben, gegen die Auffassung der sogenannten liberalen Kreise, in denen es üblich gewesen sei, „die Hinrichtung von Edith Cavell als die grausame Tat rachsüchtiger Militaristen hinzustellen.“

Die (patriotische) Stimme Benns in der Angelegenheit der Geschichtsschreibung ist signifikant für einen allgemeinen charakteristischen Selbstrechtfertigungsmodus in der Tradition der Autobiographie, ein Gestus, der bekanntlich Benns späteres Projekt Doppelleben exemplarisch repräsentiert. Dies ist eben der Grund, weshalb dem vom Autor hervorgehobenen Anspruch auf historische Wirklichkeit im Detail nicht vertraut werden kann. Darüber hinaus kann man die Möglichkeit von authentischen Gedächtnistäuschungen in der Erinnerung an das traumatische Ereignis nicht ausschließen.

Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass die ganze Konstellation von Benns literarischen Produktionen, die sich auf das Schlüsselerlebnis Brüssel im Ersten Weltkrieg beziehen, gepaart ist mit einer heterogenen Stimmenvielfalt, die sich als Rollenspiel von unterschiedlichen Identitäten interpretieren lässt: Das lyrische Ich der Gedichte aus der Kriegszeit und die literarischen Selbstkonstruktionen Rönne und Pameelen, die den Wirklichkeitsverlust bzw. den Wirklichkeitszerfall willkommen heißen, ergänzen den Schrei der Revolte von Dr. Olf in Etappe und den auf den ersten Blick hiermit inkompatiblen Ausdruck der Loyalität zum deutschen Kriegstreiben in Belgien, zu der sich Benn auch in seiner sozialen Umwelt bekannte („Unter Begriffen wie Gottes Zorn, Vaterland, Bereitschaft für den Staat zu sterben aufgewachsen, fragt er nicht: Wie konnte dieser schreckliche Krieg möglich werden, sondern antwortet: da er einmal da ist, muss er ausgekämpft werden“, hieß es zum 3. Februar 1917 in Thea Sternheims Tagebuch). Hinter der Interaktion von fiktionalen und faktualen Selbstinszenierungen steckt letztendlich das Projekt einer Autonomisierung des Schreibakts und der konsequenten Auflösung des verschwindenden Subjekts, die laut Michel Foucault in seinem bekannten Vortrag Qu’est-ce qu’un auteur? (aus dem Jahre 1969) die Verwandtschaft der écriture mit dem Tod als Opfer des Lebens und des Autors bloßlegt.

Literaturhinweise

Jörg Döring / Erhard Schütz: Benn als Reporter: „Wie Miss Cavell erschossen wurde“. Siegen 2007. Und die Rez. von Hubert Roland in: Benn Forum. Beiträge zur literarischen Moderne, Bd. 1, 2008/2009, S. 187-194.

Reinhold Grimm: lm Auge des Hurrikans. Brüssel 1916: Gottfried Benns Urerlebnis. In: Die Neue Rundschau 103, 4, 1992, S. 121-137.

Hubert Roland: Die deutsche literarische ‚Kriegskolonie‘ 1914-1918. Bern [u.a.] 1999.