Bevor es zu spät ist

Marylinne Robinson lässt in „Gilead“ Reverend John Ames seine Familiengeschichte erzählen

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 76-jährige John Ames ist herzkrank, er wird bald sterben, so haben es ihm die Ärzte gesagt, und er richtet sich darauf ein. Seine Frau Lila ist informiert; sein Sohn, er ist erst sieben, kann noch nicht genau verstehen, was das bedeutet. Der Junge ist für John Ames das späte Glück in seinem Leben. Ein Geschenk, das ihn mit tiefer Dankbarkeit erfüllt. Damit der Bub später einmal weiß, wer seine Vorfahren waren, und er die Geschichte seiner Herkunft, die der Vater ihm nicht mehr wird erzählen können, kennenlernt, schreibt John Ames ihm alles auf in einem langen Brief.

Wir schreiben das Jahr 1956: John Ames lebt in Gilead, einer fiktiven kleinen Stadt im Bundesstaat Iowa, bereits sein Vater und sein Großvater lebten dort und waren wie er Pastoren der dortigen Gemeinde. Ames ist ein tiefgläubiger frommer Mensch, doch ist er kein engstirniger Mann, der sich nur für seinen Glauben interessiert. Das waren auch seine Vorfahren nicht. Sein Großvater war ein Bewunderer John Browns, der die Sklaverei beseitigen wollte und dabei auch nicht vor dem Griff nach Waffen zurückschreckte, dessen Sohn, also John Amesʼ Vater, wurde zum überzeugten Pazifisten. In dieser Tradition mit ihren Widersprüchen sieht er auch sich selbst und seine Familie, von dieser Geschichte muss der Sohn erfahren, um sie weiterleben zu können.

Trost findet der gläubige John Ames in der Bibel, für ihn das Buch schlechthin. Seine Auseinandersetzung mit der heiligen Schrift geht tief und dauert ein Leben lang, in unzähligen Predigten erzählt er, wie er diese Worte zu verstehen meint und dass sich die Diskussion immer wieder und immer neu lohnt, ja, zu einer Lebensnotwendigkeit wird. Dabei sucht er das Gespräch nicht nur mit Gleichgesinnten. Die Begegnungen mit seinem Bruder etwa, der einen ganz anderen Weg eingeschlagen hat, bedeuten ihm viel. Durch ihn lernt er andere Überzeugungen kennen, die er zwar nicht unbedingt teilt, die ihn jedoch in seinem Denken und Handeln trotzdem weiterbringen.

Über all dem steht die Liebe: zu seiner jetzigen Frau Lila und dem Sohn ebenso wie zu seiner ersten früh verstorbenen Frau und ihrem gemeinsamen, ebenfalls früh verstorbenen Kind. Da schwingt denn auch immer eine große Trauer mit über den Verlust, den nichts ungeschehen machen kann, den zu verarbeiten unmöglich ist, was allerdings keinen Widerspruch zu seinem jetzigen tiefen Glück in der Kleinfamilie bedeutet. Es sind unter anderem diese Widersprüche, die John Ames seinen Sohn auszuhalten lehren möchte – denn sie sind Teil des Lebens.

Gilead ist der erste Teil von Marylinne Robinsons großer Gilead-Trilogie, in den USA längst ein Klassiker, nicht zuletzt, nachdem Barack Obama bekannt hat: „Ich liebe ihre Bücher.“ Auf Deutsch erschienen ist 2015 bereits Lila, eigentlich der letzte Band, in dem die Geschichte des gleichnamigen Waisenkindes erzählt wird, der späteren Frau von John Ames. Lila wächst in der Zeit der großen Depression der späten 1920er-Jahre unter Wanderarbeitern auf. Sie kommt nach Gilead und trifft als junge Frau auf den alten Reverend, der sie liebevoll aufnimmt. Es wird eine große Liebe. Robinson schreibt eigentlich keine heutigen Romane, sie erzählt eher konventionell, auch wenn sie auf das chronologische Erzählen verzichtet. Die Geschichten sind auch nicht zwingend welche, die heutige junge und auch manche ältere Menschen brennend interessieren würden. Religiosität und Glauben spielen eine entscheidende Rolle im Leben der Figuren und prägen das Schreiben – die Autorin gehört (wie Barack Obama) der United Church of Christ an. Eine tiefe Gläubigkeit durchdringt den Roman, sie gibt den Menschen Halt in unsicheren Zeiten. (Und ist es nicht das, was uns gerade heute fehlt?) Den Boden dieser Haltung, die zu einer Stärke wird, bilden eine alles umfassende Menschlichkeit und die Sorge für die Nächsten, für das Gemeinwesen, ja, für unsere Erde. Sie tragen diesen Roman und lassen die Lektüre zu einem Gewinn werden.

Titelbild

Marilynne Robinson: Gilead. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Uda Strätling.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
320 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783100024596

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch