Der Zauber der Bücher

Noëlle Revaz’ mediensatirischer Roman „Das unendliche Buch“ wird zu einer Liebeserklärung an die Literatur

Von Laura HarffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Harff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bücher sind dazu da, gelesen zu werden, sich in eine andere Welt zu begeben, den eigenen Träumen nachzuhängen, um der Wirklichkeit für eine kurze Weile zu entfliehen. Anders im neuen Roman Das unendliche Buch der Schweizer Autorin Noëlle Revaz. Hier stehen die Bücher als verstaubte Einrichtungsgegenstände im Regal: hübsch anzusehen, aber ansonsten vollkommen nutzlos. Was zählen sind Einband, Verkaufszahlen und vor allem das in Fernsehsendungen ausgeschlachtete Privatleben der Schriftsteller. Die Autoren sind absolut durchsichtig, Privatsphäre ist eine Illusion, die Bücher Accessoires in den Händen der Menschen. Wer liest und dabei tatsächlich ein Buch aufschlägt, gilt als sogenannter „Faik“ und damit als merkwürdig anmutende, den Menschen unverständliche Daseinsform, die Widerwillen und Ekel hervorruft.

Wirkliches schriftstellerisches Talent wird offenbart, wenn man sich in Talkshows präsentieren kann und nicht, weil die Romane gut geschrieben sind. Bücher sind also vielmehr „Leitersprossen“, die es den Menschen erlauben, im Scheinwerferlicht zu stehen. So gelten die beiden Protagonistinnen Jenna Fortuni und Joanna Fortaggi, die vor allem aufgrund ihrer ähnlich klingenden Namen und parallel verlaufenden Erfolgsgeschichten als „literarische Zwillingsschwestern“ gefeiert werden, dann auch als erfolgreiche Autorinnen. Und das, obwohl Jenna eigentlich nur vierhunderttausend Zeichen aneinanderreiht, ehe sie das ‚fertige‘ Manuskript an ihren Verlag schickt, wo sich ein Algorithmus um den Rest kümmert. Joannas Bücher hingegen werden in so kurzen Abständen veröffentlicht, dass sie gar nicht mehr an den Prozessen beteiligt ist.  

Es handelt sich um eine etwas andere Wirklichkeit, die Revaz da beschreibt. Eine Wirklichkeit, die mit unserer zunächst nicht viel gemein zu haben scheint, doch bei genauerem Hinsehen ein überspitztes Abbild der heutigen Medienlandschaft zeigt. Die Umsetzung dieser sehr aktuellen, aber schwierigen Thematik überzeugt vor allem durch Revaz’ Blick für Details. Demnach dauert es auch nur eine kurze Weile, bis es dem Leser gelingt, in ihre ‚neue‘ Welt einzutauchen. Doch selbst dann bleibt das Gefühl bestehen, man habe nur an der Oberfläche gekratzt.

Wie selbstverständlich schreibt Revaz über Phänomene wie „Literaturmoebelpreise“, „Ausdrucksbanken“ oder die Klebebilder Jack und Pam, die bei den Fortunis – als Ersatz für leibliche Kinder – an das Wohnzimmerfenster geklebt wurden und entwirft damit ein groteskes Zukunftsszenario. Oder ist es eine Parodie der heutigen Medienbranche? Dabei zeugt die zunächst eher sachliche Schreibweise zwar von Distanz gegenüber den Figuren und dem Romangeschehen, wirkt allerdings keineswegs negativ wertend – vielmehr ironisch. So fragt zum Beispiel ein Fernsehmoderator in einer Sendung eine Schauspielerin, welches der drei gerade vorgestellten Bücher sie auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Die Schauspielerin antwortet, es käme auf die Größe ihrer Tasche an, welches Buch am besten hineinpasse, woraufhin der Talkmaster ihr vorschlägt, einen Koffer zu wählen, in den alle drei passen. Ebenso absurd wirkt die neue Mode, plötzlich nicht mehr in ganzen Sätzen zu sprechen, sondern nur einzelne Wörter fallen zu lassen, die in den Talkshows dann Buchstabe für Buchstabe ins Studio projiziert werden und, bis zum Ende, als Zusammenfassung der Veranstaltung im Raum stehen.

Erst später, nachdem Jenna und ihre ehemalige Rivalin Joanna, die in den Augen ihres Publikums schon längst zur Superautorin „Joeanna Fortunaggi“ verschmolzen sind, es gewagt haben, ihre Bücher tatsächlich zu öffnen, verändert sich der Stil des Romans – von ironisch distanzierter zu mitreißender Sprache. Wenn die „Entwicklung der Wolken, die keine Eile kennen“ mit dem Gefühl gleichgesetzt wird, das Jenna und Joanna bei der Betrachtung ihres gemeinsamen Romans empfinden, wirkt das nicht abgedroschen. Und wenn sie sagen, die Schmetterlings-Bilder darin kämen nichts anderem gleich, ärgert man sich auch nicht über die unpräzise Formulierung. In einer Welt, in der das Innere eines Buches als Tabu behandelt wird, versteht man den Zauber, den das Öffnen hervorruft. Interessant hierbei ist die Metaebene, die durch die graphische Gestaltung des Einbands gelingt: sowohl Das unendliche Buch als auch Jennas und Joannas Roman zeigen zwei Frauengesichter, die in der Mitte ineinander übergehen und genau wie die Schmetterlinge, die Symbiose der beiden Autorinnen zu „Joanna Fortunaggi“ symbolisieren soll.

Zwischendurch wundert man sich dann aber doch ein bisschen, als Bücher plötzlich über fast dreißig Seiten keine Rolle mehr spielen und nur noch von der musikalischen Matrize die Rede ist. Was genau diese Matrize ist, wird hierbei nicht gesagt, nur dass die Musik in Form eines dicken, grauen, in der Luft schwebenden Schlauchs, ein eigenes, abgesondertes Dasein führe. Sinnvoll erscheint dieser unendlich lang wirkende Abschnitt nur, weil auch hier eine Rückkehr zur alten Schule gewünscht wird, als man noch Instrumente und Kompositionen brauchte, um Musik zu erzeugen.

Nachdem die Moderatoren in Revaz‘ Roman, jede Neuerscheinung mit vorherigen Büchern in Verbindung gesetzt haben, um sie in die ihnen bekannten Muster einzuzwängen, möchte man Das unendliche Buch lieber für sich stehen lassen. Stellenweise dystopisch anmutend folgt es wohl am ehesten der Tradition von George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Brave New World.

Revaz’ Buch endet mit einem Hoffnungsschimmer, nicht nur, weil Jenna die leblosen Aufkleber endlich vom Fenster löst. Durch das öffentliche Aufschlagen eines Buches in einer Talkshow scheint es ihr und Joanna tatsächlich gelungen zu sein, den Büchermarkt zu reformieren und die Menschen an die eigentliche Natur des Buches zu erinnern. „Seine wahre Natur, die darin bestand, dass es erfüllt, reichhaltig, vertikal und vor allem unergründlich und tief wie ein Brunnen war.“ Das unendliche Buch jedenfalls ist all das.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Noëlle Revaz: Das unendliche Buch. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
284 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835318700

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