Lebenslang ein Missverständnis

Im sechsten Band von J.J. Voskuils Romanreihe „Das Büro“ neigt sich Maarten Konings Berufskarriere dem Ende zu

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

30 Jahre genügen, um endlich an den Abschied vom A.P. Beerta-Institut zu denken. Als sein Direktor Jaap Balk ankündigt, in Frührente zu gehen, will auch Maarten Koning nicht mehr allzu lange auf seinem Posten ausharren. Als Balks Stellvertreter rückt er zuerst allerdings noch zum Direktor ad interim auf, um dessen Nachfolge zu organisieren. Damit ist er nach 30 Jahren Dienst im Institut dort angelangt, wohin er nie gelangen wollte: auf der obersten Sprosse der Karriereleiter. Nichts hat Maarten seit jeher mehr widerstrebt. Deshalb soll die Institutsleitung ein kurzes Intermezzo bleiben. Er verschwendet gar keinen Gedanken daran, sich um die Nachfolge zu bemühen – auch wenn einige Kollegen der Ansicht sind, er könnte dem Institut durchaus ein guter Direktor sein. Dass er dennoch in die Grabenkämpfe um Balks Nachfolge verwickelt wird, lässt Maarten grimmig geschehen. Er zahlt es so seinen Mitarbeitern im Institut heim, dass sie ihn mit ihren egoistischen Manövern bedrohen. Schließlich fällt die Wahl auf einen Außenstehenden.

Alle diese ärgerlichen Umtriebe haben in Maarten Koning nur den lang gehegten Wunsch bestärkt, Mitte 1987 selbst das Institut zu verlassen und mit 61 Jahren in Frührente zu gehen – im guten Gefühl, eine Forschungseinrichtung zu hinterlassen, die durch ihn eine solide fachliche Grundlage erhalten hat und im Kampf um Subventionen und Einsparungen gut positioniert ist.

Ganz ohne feierlichen Abschied geht es jedoch nicht: Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seiner Abteilung ehren ihn mit schönen Worten und allerlei Geschenken, die Maarten überraschenderweise mit Freude annehmen kann. Abschließend lässt er dann nochmals tief in seine Seele blicken. Er charakterisiert sich selbst als Menschen, „der sich extrem schnell bedroht fühlt und immer damit beschäftigt ist, sich dagegen zu wappnen“. Deshalb habe er nur in jenen Moment Vergnügen an der Arbeit gefunden, „in denen ich das Gefühl hatte, nicht allein dazustehen“. Und nur dann sei es ihm möglich gewesen, tiefe Sympathie für seine Umgebung zu empfinden.

J.J. Voskuil erzählt im sechsten Band der Büro-Serie den Zeitraum von Herbst 1982 bis zum Tag des Abschieds am 30. Juni 1987. In diesen Jahren hält der Computer Einzug, was aus der Sicht Maartens allerdings eine vernachlässigbare Entwicklung ist – oder zumindest eine, die ihn ebenso wenig wie den alten Direktor Balk (noch) zu kümmern vermag. Es wird auch weiterhin gespart und reorganisiert, wobei das volkskundliche A.P. Beerta-Institut seine Stellung als außeruniversitäre Forschungsstätte zu behaupten scheint, was nicht zuletzt ein Verdienst von Maarten Koning ist, der ihm eine inhaltlich gefestigte Position zwischen Kulturgeschichte und Anthropologie zu geben vermocht hat.

Innerhalb des Büros bleiben sich die Dinge gleich. Es geht bei der gemeinsamen Arbeit sehr menschlich zu, mit allen Facetten von kritischer Loyalität bis zu bösartigem Mobbing. Maarten bleibt dabei seiner Politik treu, indem er sich als sehr geduldiger und menschlicher, zuweilen pedantischer und fachlich ausgesprochen fordernder Abteilungsleiter erweist, der die Qualität der Arbeit hoch gewichtet. Deshalb wehrt er sich auch umgehend gegen den Wunsch des neuen Direktors, dass die Textproduktionsrate erhöht werden müsse. Er hält das für fatal, weil er keinen Sinn darin sieht, die arbeitsintensive Forschung des Instituts einzutauschen gegen Projekte, „die schnell zu einem Resultat führen“. Vielmehr plädiert er für „eine risikoreiche Forschung, deren Ergebnis unvorhersehbar ist“ – und zielt damit auf ein Kernproblem des universitären Veröffentlichungswahns.

Maarten nimmt seinen Abschied. Dementsprechend gibt sein Autor J.J. Voskuil den privaten Angelegenheiten ein wenig mehr Raum. Mit Aussicht auf das Ende vermag sich sein Held und Alter Ego persönlich etwas lockerer zu geben. In Grenzen allerdings, denn als ihm eine mögliche Ehrung in Aussicht gestellt wird, stellen sich gleich wieder Entsetzen und Scham ein. „Eine königliche Auszeichnung! Gütiger Himmel! Ich wüsste nicht, wohin ich mich verkriechen sollte!“

Diese vehemente Ablehnung erinnert an eine Schlüsselstelle weiter vorn im Roman, in der sich das grausame Dilemma ausdrückt, in dem Maarten Koning und seine Frau Nicolien seit 30 Jahren stecken. Nicolien beklagt sich: „Du hast angefangen, mit diesem Büro ein eigenes Leben zu führen, und ich bin da völlig außen vor. Ich hatte mich auf ein Leben von uns beiden gegen die Gesellschaft eingestellt“. Und was ist daraus geworden? Ein Mann, der „Karriere“ macht, und eine Frau, deren Leben ganz auf ihn ausgerichtet war. Während Maarten scheinbar widerwillig und doch mit klugem Sachverstand seiner Arbeit nachging, hat Nicolien (bloß) das Haus und die Katzen gehütet. Gemeinsam schmollen und grollen sie über dieses selbst auferlegte Schicksal. Die Romanserie Das Büro ist das großartige Dokument dieses existentiellen Missverständnisses, dieses grundlegenden Scheiterns in der traditionellen Arbeitsgesellschaft, der sich nicht entkommen lässt. Kann man auf Dauer „gegen die Gesellschaft“ leben?

Voskuils Leistung besteht darin, dass er dieses Dilemma als schonungslos menschliches aufzeigt. Auch im sechsten Band hält er seinen klaren Stil durch und lässt keine Abkürzungen zu, bis zuletzt nicht, selbst wenn sich etliches in den ewig gleichen Bahnen wiederholt. Es ist gerade diese Klarheit und Einfachheit, die Voskuils Buch so faszinierend macht. Die zähen Dialoge ergeben sich immer wieder neu und gleichsam rituell, doch mit feinen Abweichungen, die sich beispielsweise diskret in adverbialen Hinzufügungen manifestieren. Es kommt sehr darauf an, ob jemand etwas ironisch, böse, lächelnd oder schmunzelnd äußert. Auch diesbezüglich hält sich der Autor an einen knappen Katalog, den er virtuos variiert. In all dem bildet er das ewige Einerlei, die tägliche Büroprozedur adäquat ab, ohne als Erzähler zu langweilen. Bei unserer Lektüre bilden wir über die Bände hinweg ein Sensorium aus, das uns diese kleinen Variationen wahrnehmen lässt, sodass wir hinter die menschlichen Fassaden und tief hinein in die betrieblichen Konstellationen zu blicken vermögen.

Das ist in dieser Schlichtheit meisterhaft gemacht. Seine Rolle als versteckt autobiografischer Erzähler deutet Voskuil in einem Gespräch zwischen Maarten und seinem Freund Franz an, der über Lowrys Under the Volcano meint: „er beschreibt, was er denkt, in der dritten Person. Das geht doch eigentlich nicht?“ Doch doch, es geht, wie Voskuil hier demonstriert.

Mit diesem sechsten Band und den bisher 5.300 Seiten (in der deutschen Fassung) ist das Opus allerdings noch nicht ganz zu Ende gebracht. Wie schon Beerta, der 1986 im Pflegeheim verstirbt, wird sich auch Maarten im Institut einen kleinen Arbeitsplatz erhalten, um hin und wieder, so selten wie möglich, vorbeizuschauen und angefangene Arbeiten fertigzustellen. Im abschließenden Band 7 wird er diese neue Rolle noch zu bestehen haben.

Titelbild

J. J. Voskuil: Abgang. Das Büro 6. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Gerd Busse.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017.
751 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320117

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