Lichtblicke ins Schattenreich

Günter Kunerts alterslose Alterslyrik

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 70. Geburtstag des Dichterkollegen Wolf Biermann sagte Günter Kunert im November 2006: „Auch Dichter altern. Manche bekommen Alzheimer oder – ebenfalls unangenehm – die berüchtigte Altersweisheit.“ Fragt sich, warum die Gedichte, die der mittlerweile fast 90-jährige Kunert unentwegt zur Welt bringt, alles andere als unangenehm zu lesen sind, weise, aber mit grimmigem Humor. Kunert ist ein Autor, der die Schatten des Älterwerdens nicht leugnet, aber immer noch – oder jetzt erst recht – Grund am Vergnügen an dichterischen Gegenständen hat.

Von melancholischer Altersweisheit voll sind seine späten Werke, die Gedichte Als das Leben umsonst war (2009) und Fortgesetztes Vermächtnis (2014), die Notate Tröstliche Katastrophen (2013), die Erzählungen Vertrackte Affären (2016) und nun wieder ein Lyrikband: Aus meinem Schattenreich, der mehrheitlich Gedichte aus den Jahren 2016 und 2017 versammelt, in Absprache mit dem Dichter in fünf Zyklen komponiert von Wolfram Benda.  

Was zeigt uns dieser Band? Zunächst, dass Kunert ein ungemein produktiver Dichter ist und seine nach eigenen Worten pessi-mystische Grundhaltung ungebrochen bleibt. Kunert ist auch in diesem Lyrikband ein denkender Dichter, der ein ums andere Mal das eigene Altern an den Beschleunigungserfahrungen seiner und unserer Zeit misst.

Heraus kommen lakonische Gedichte wie dieses: „In einer düsteren Gasse / begegnete mir der Sinn / des Lebens. Er war alt und / schmutzig und schon sehr / abgegriffen. Ein falsches / Lächeln voll ungehemmter / Schamlosigkeit und grußlos / davon.“ Der Sinn des Lebens kreuzt den späten Lebensweg. Schön sieht er nicht aus. Hat er es je getan? Es ist eine mehr als nur rhetorische Figur, die der Sprecher hier mustert. Sie erinnert an den falschen Jüngling im Tod in Venedig, einen Boten aus dem Schattenreich, der nicht mehr unheimlich ist, auch nicht lächerlich, sondern eben nur „alt und / schmutzig“. Und schamlos wie die Alten bei Franz Kafka, die ohne jede Hemmung auf ihre Opfer herabblicken. „Grußlos“ ist der Sinn davon; der letzte Satz des Gedichts erspart sich das Verb, weil es wohl nichts mehr zu sagen und zu bewegen gibt.

Der Sinn ist am Ende, nicht aber die Sinnsuche. Im Gegenteil, diese Suche nach Ursprung und Utopia bleibt „kurzweilig“, selbst „vor dem Verdämmern“, „des Schein baren Lebens“.  Antworten auf Sorgen, Leiden und Verirrungen gibt es nicht. Die Befunde von fremder Welt daheim, von „Abenddämmer“ von „Leerlauf“ sind den Gedichten eingewoben, doch manchmal reißt die leidenschaftliche und unwiderstehliche Natur das Ich dann doch wieder aus seiner Melancholie (so beim Beobachten des Wellengangs der Ostsee auf Hiddensee). Eher entspannt klingt die Trauer, die sich an Dinge der Vergänglichkeit heftet, an Telefon und Auto: „Ihre Lebensdauer ist abgelaufen, / bedrängt von ihren Nachkommen“.

Titelbild

Günter Kunert: Aus meinem Schattenreich. Gedichte.
Herausgegeben von Wolfram Benda.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
117 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446258174

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