Zwischen Traum und Trauma

Michael Gnädingers Studie zum Frühwerk Ernst Jüngers

Von Helmut KaffenbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Kaffenberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Gnädinger arbeitet in seiner Studie zu Ernst Jüngers Frühwerk nach der biographischen Methode. Die Hauptfragen, mit denen er sich befassen will sind: "1.) Wie nimmt der Autor die Wirklichkeit, die erlebte Welt wahr und wie setzt er sie - vor allem in Zeiten des gesellschaftlich organisierten Alptraumes Krieg - zu einem sinnvollen Ganzen zusammen? 2.) Wie überlebt bzw. übersteht Jünger psychisch den Ersten Weltkrieg mit seinen Materialschlachten und die Nachkriegszeit mit ihren politischen und sozialen Verwerfungen?" Diesen Fragen traut er zu, die Basis unter "die grundsätzliche Frage an das Frühwerk" zu setzen, "inwieweit Jüngers kriegsbezogene Texte ungebrochene Übereinstimmung mit dem Erlebten, literarische Selbststilisierungen, ästhetisches Spiel oder Ausdruck psychischer Überlebensstrategien sind." (Hervorh. im Original)

Dieser Ansatz ist nicht unproblematisch: Wer will wissen und wie will man entscheiden, wie Jünger die Wirklichkeit wahrnahm - und wie soll das überprüfbar sein? Wir wissen nur, was er geschrieben hat. Daran sollte man sich halten, damit arbeiten. Zu fragen ist darüber hinaus: Sind die psychischen Auswirkungen das Krieges auf Jünger nicht noch unsicherer, noch vermittelter zu fassen? Begibt man sich hier nicht zwangsläufig in den Bereich der Spekulation?

Vor allem aber: welche Relevanz haben diese Fragen überhaupt? Werden hier nicht Fragen gestellt, die gar nicht sinnvoll zu beantworten sind? Gnädingers Schlüsselwort ist "Authentizität". - Hätte man sich ein fataleres aussuchen können? Was ist 'authentisch' genau? Wer entscheidet darüber? Und hat Jünger denn den Anspruch erhoben, von dem Gnädinger ausgeht, "Authentisches" zu schreiben? Gnädinger will über die Authentizität von Jüngers Texten entscheiden und meint, dass Metapherngebrauch sie inadäquat in bezug auf die Kriegswirklichkeit mache. Er schreibt: "Sind nicht die Metonymie und die Synekdoche, das nüchterne Protokoll oder aber sogar die fiktionale Collage, d. h. die Gegenüberstellung von persönlich erlebbarer Kriegsrealität und der Kriegsberichterstattung der militärischen Stäbe bzw. der Diskurse der Heimatfront, eine Form der Authentizität mit höherem Wahrheitsgehalt als die autobiographisch verbürgte Erzählung persönlicher Verwundung und höchster Ordensverleihung im narrativen Rahmen eines Bildungsromans, als der Jüngers Kriegsdebüt 'In Stahlgewittern' gelesen werden kann?" An Jüngers Orden reibt er sich wiederholt und erhebt sie zum Argument.

Was ist die Authentizität eines literarischen Textes? Vielleicht hätte sich Gnädinger entscheiden müssen, ob er über Literatur oder über historische Wirklichkeit - was immer das dann wäre - handeln will. Oder über Literatur und Moral. Er vermischt beides und das Konglomerat ist schwer genießbar. Man müsste hier den gesamten zweiten Absatz von Seite 35 zitieren, in dem allein drei mal das Wort 'Authentizität' vorkommt und in dem nahegelegt wird, dass bei "den Jüngerschen Kriegsbüchern" nicht "von einer Authentizität als strukturelle[r] Abbildung der Wirklichkeit ausgegangen werden" kann, sondern dass es sich womöglich "um eine andere Form der Authentizität" handle, "der andere, bislang nicht erkannte Strukturen und Inhalte zugrunde liegen und die nachträglich den Prozess des Erlebens von schrecklichen und traumatischen Erlebnissen zu fassen und zu verarbeiten versuchte". Der vieldeutige Begriff der Authentizität, mit dem sich Gnädinger nicht auf Taylor und Trilling bezieht, hätte geklärt, zumindest näher umrissen werden müssen. So aber wirkt der Gebrauch dieses Begriffes unreflektiert. Was wird verhandelt, wenn man nicht naiv von Authentizität spricht: die dokumentarische Echtheit von Ereignissen, die Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit eines Handelnden oder die Moralität einer Handlung? Diese Differenzierung bietet Oliver Häussler von der Universität Hildesheim, der auch an anderer Stelle bereits über das Thema "Authentizität" geschrieben hat, in einer kurzen Abhandlung an, die sich mit Alpinismus beschäftigt. Dort wird der Authentizitätsdiskurs als Mangeldiskurs beschrieben. Man bringe seinem Gegenstand kein Vertrauen entgegen, sondern setze ihn dem Verdacht der Fälschung oder Unlauterkeit aus. Zudem sei er ein Schmelztiegel für divergierende Diskurse, die unter dem Banner der Authentizität geführt und oft durcheinander gebracht würden.

Zurück zu Michael Gnädinger: "Die Arbeitshypothese dieser Untersuchung beinhaltet, dass in Ernst Jüngers literarischen Texten über den Krieg ein außergewöhnliches solitäres Erlebnis nach literarisch-kulturell bekannten Narrationsmustern und Metaphern erzählt wurde, das aufgrund dieser rezeptionsästhetischen Erleichterungen zusammen mit den besonderen gesellschaftlichen Diskursen während der Weimarer Republik das gesellschaftliche Erinnern an den Ersten Weltkrieg aus heroischer Perspektive prägte und bis heute prägt, obwohl in ihnen neben den offenkundigen Inhalten auch andere, subversive Inhalte transportiert wurden. Ich gehe davon aus, dass in den Jüngerschen Texten und unter der Textoberfläche subversive Inhalte bzw. Strukturen ausgemacht werden können, die die Genese des heroischen Elitesoldaten in dem Sinn unterlaufen, dass eine andere Lesart, eine andere Erzählung und damit eine andere Geschichte zum Vorschein kommt, die eine Revidierung oder zumindest eine Relativierung des bisherigen Jünger-Bildes verlangt." ... und was dergleichen mehr ist. Man könnte schon gegen diese zwei Sätze ein Dutzend Einwände vorbringen.

Gnädinger tritt nun an, die bis dato in der Jünger-Forschung, die so schmal und unbedarft nicht ist, außerdem nicht homogen, "unzureichend erkannten Zusammenhänge und latente[n] Strukturen ans Tageslicht zu bringen". "Es ist die Suche nach einem sensiblen - zugespitzt ausgedrückt: nach einem empfindsamen - Ernst Jünger, gerade weil diese Möglichkeit wissenschaftlich bislang nicht in Betracht gezogen wurde und weil sich dies angesichts der Orden und der Aura des Autors bereits auf der Ebene der Phantasie verbot." Man sollte weniger unterkomplex vorgehen, wenn man die gesamte Jüngerforschung für defizitär hält.

Dieses Buch überzeugt auf keiner Ebene. Schweigen wir von den vielen Fehlern von der Danksagung auf der ersten Seite bis selbst in das Abkürzungsverzeichnis und der Erwähnung des Autors Ernst Block (Bloch), die in einer Dissertation ohnehin nichts zu suchen haben sollten, aber in der Druckfassung? Doch wie steht es mit dem Stil, ja selbst der Fragestellung dieses Buches? Das Vokabular wirkt zu oft, als sei es den Gedanken aufgeklebt, um gebildeter zu erscheinen oder komplexer zu wirken. Weder das Niveau noch die Wissenschaftlichkeit steigen dadurch, dass man einen Text durch Schachtelsätze und Fremdwortgebrauch aufbläht. Auch die Durchführung kann nicht überzeugen. Gnädinger bezieht sich auf Jüngers Frühwerk, hier insbesondere auf die "Stahlgewitter", die den Ersten Weltkrieg zum Thema haben. Trotzdem zieht er immer wieder Texte und Argumente hinzu, die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehen, obwohl er an anderer Stelle die Notwendigkeit der Differenzierung durchaus sieht und fordert. So wirkt die Argumentation wenig zwingend, undurchdacht, brüchig.

Teils wirkt das Buch irrelevant, teils selbst hanebüchen. Da wo sich zufällig interessante Aspekte ergeben, werden sie nicht gesehen und nicht verfolgt. So etwa, wenn von der Naturmetaphorik gesprochen wird oder von Jüngers spezifischem Blick. Überhaupt wirkt es sehr dünn und nicht überzeugend, wenn er der Jünger'schen Metaphorik pauschal eine "beruhigende Wirkung" unterstellt. Gerade die Naturmetaphorik in Kriegszusammenhängen könnte auch, indem sie auf Übermächtiges verweist, auf etwas, gegen das der Mensch machtlos ist, durchaus beunruhigend wirken.

Noch einmal Gnädinger: "Ernst Jünger, der sich nicht zu dieser zerstörten Generation gerechnet hat, transportiert in seinem literarischen Frühwerk ein äußerst ungewöhnliches und wahrscheinlich höchst seltenes psychisches Überlebensmodell, das bislang nicht erkannt worden ist. Aus meiner Sicht stellt es sich als eine insbesondere auf literarisch inspirierte Tagtraumphantasien beruhende psychische Überlebenstechnik dar, die in einer zum Alptraum gewordenen Realität unter den Signaturen von Traum und Trauma einen lebbaren Rest an autonomer Identität und Subjektivität ermöglicht."

Hier wird klar, was dem Autor seine völlig neuen Erkenntnisse ermöglicht: er unterstellt, was nicht da ist, darum hat es auch außer ihm niemand bemerkt. Was er sucht und finden will ist nichts Geringeres als ein neuer, ein anderer Ernst Jünger. Dieser hätte doch bitte so schreiben sollen wie es sich der Autor Gnädinger vorstellt. Das hat er leider nicht. Also muss man 'unter der Textoberfläche' suchen. Mehr steckt nicht dahinter: der Krieg war schlimm, er musste Folgen haben. Das wusste man auch vorher schon.

Der Autor konstatiert bei Jünger "Tagtraumphantasien als psychisches Überlebensmodell", er schreibt: "Die Hauptinhalte seiner Tagtraumphantasien wurden durch Inhalte der Abenteuerliteratur geprägt, da Jünger als Jugendlicher vor allem diese Bücher gelesen hatte." Eine kurz greifende Logik: wie viele Jugendliche lasen Jugendbücher? - Folgt daraus automatisch, dass diese zum dominanten Vorbild für ihre Phantasien werden? Wenn es nur so einfach wäre. Gnädinger nennt Jünger einen durch Angst geprägten Außenseiter und Einzelgänger und führt seine schulische Karriere als Beispiel und Beleg an. Das Tagträumen sei dem ängstlichen Eigenbrötler eine Fluchtmöglichkeit gewesen, ja es sei als Notwehr-Reaktion zur psychischen Notwendigkeit geworden. Das hätte ihm in der Kriegszeit zum Vorteil gereicht, weil "der phantastisch-fiktional Denkende und Fühlende dem Normalbürger in seiner psychischen Flexibilität und Belastbarkeit überlegen" sei. Erst mit 16 Jahren sei sein Wirklichkeitsverständnis normal geworden. Gnädinger führt dann die Flucht nach Afrika in die Fremdenlegion als gescheiterte Verwirklichung der Tagtraumphantasie an und behauptet eine Durchdringung von Realität und Tagtraumphantasie in den "Stahlgewittern". Wenn aber Jüngers Wirklichkeitsverständnis mit 16 Jahren 'normal' geworden ist, dann erscheint es ungereimt, wenn man für den Erwachsenen Jünger dieses noch reklamiert.

Im Schlusskapitel wird das Fazit gezogen: "Kern der Hypothese ist die Annahme, dass es Jünger mit Hilfe seiner tagträumerischen Disposition und seinen daraus resultierenden psychischen Abwehrstrategien für eine lange Zeit gelungen ist, kriegstraumatische Verletzungen der Psyche zu verhindern oder zumindest deren psycho-physische Auswirkungen bis zum Kriegsende zu verdrängen bzw. aufzuschieben, so dass diese sich erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit manifestierten und nicht mehr kausal mit den traumatischen Kriegserlebnissen verbunden wurden."

Die Fußnote zu diesem Satz fügt an:

"Psychologisch gesprochen war Jünger durch eine hohe Angstbereitschaft und durch diverse Selbstberuhigungs- und Ablenkungstechniken vor traumatischen Situationen geschützt. Da er aber jahrelang den Belastungen ausgesetzt war, kann aufgrund der tiefen psycho-physischen Erschöpfung zumindest von einem kumulativen Trauma ausgegangen werden, das seinen Höhepunkt in einem Nervenzusammenbruch kurz vor seiner letzten schweren Verwundung fand, als sein Reizschutz angesichts eines schweren Granattreffers mit vielen Toten und Verwundeten der eigenen Kompanie wenn auch nur für kurze Zeit durchschlagen wurde."

Die zahlreichen Bearbeitungen der "Stahlgewitter" seien nicht stilistisch, ästhetisch, politisch oder beschönigend motiviert, sondern lägen im "Zwang zum immer wieder Erzählen, um den ins Bewusstsein drängenden traumatischen Erlebnissen bzw. Erlebnisdimensionen einen neuen Rang bzw. einen neuen Raum in der autobiographischen Erzählung, im literarischen Schreiben und damit vor allem in einem sich ändernden Selbstverständnis jeweils aktuell zuweisen".

Kein Bild

Michael Gnädinger: Zwischen Traum und Trauma. Ernst Jüngers Frühwerk.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
360 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3631504209

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