Neue Zugänge zu Werken Adalbert Stifters und ihrer Gestaltung von Bildungsprozessen

Hendrik Achenbachs gelungene Versuche zur Weiterentwicklung eines literaturwissenschaftlichen „Toposmodells“

Von Walter SeifertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Seifert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Arbeit von Hendrik Achenbach, als Dissertation entstanden, stellt den gelungenen Versuch dar, ein Toposmodell, das von Ernst Robert Curtius in die Literaturwissenschaft eingeführt wurde, als neues literaturwissenschaftliches Forschungsverfahren weiterzuentwickeln, wissenschaftstheoretisch zu begründen und an ausgewählten Werken Adalbert Stifters hinsichtlich der Gestaltung von Bildungsgängen zu exemplifizieren. Für interessierte Leser bringen die intensiven Textanalysen zu Stifters Werken vielfältige Anregungen und Einsichten. Als Topoi werden im individuellen und gesellschaftlichen Gedächtnis vorhandene abstrakte Denk- und Vorstellungsmuster definiert, welche außerhalb von Texten zur Verfügung stehen und bei der Textproduktion im Einzeltext oder in einem Komplex aus mehreren Texten konkrete Ausprägungen erfahren. Dabei werden Grundstrukturen und Zusammenhänge in den Werken und Werkkomplexen sichtbar gemacht. Entsprechend können sie auch die Rezeption steuern und intensivieren. Auf Grund ihrer Abstraktheit lassen sich diese im Zusammenhang stehenden Topoi in Schaubildern auf einer Meta-Ebene grafisch darstellen.

Die vier Erzählungen Die Narrenburg, Turmalin, Kazensilber und Der Waldbrunnen bilden den ersten Werkkomplex, wobei der Bildungsgang von ‚wilden Mädchen‘ im Vordergrund steht. [Achenbachs Zitate aus Stifters Werken stehen hier und im Folgenden in einfachen Anführungszeichen.] In drei Erzählungen gelingen die Erziehungs- und Bildungsprozesse. In der Erzählung Kazensilber misslingt die volle Integration in die Familie und Gesellschaft und damit auch der bereits fortgeschrittene Bildungsprozess. Als das ‚braune Mädchen‘, das mit der Wildnis vertraut ist und gegen Hagelschlag und Feuersbrunst Rettung bringen kann, durch ‚weibliche Kleider‘ eine ‚schöne Jungfrau‘ werden soll, verändert sich sein Äußeres, ‚als wenn es krank wäre‘, und das Mädchen verschwindet aus der Gesellschaft. Die Wildnis ist in die „kultivierte Natur“ nicht voll integrierbar. Hier ist wie in den drei anderen Erzählungen und Werkkomplexen ein „dreiteiliges topisches Modell“ gleichsam als Basismodell wirksam, welches in Anlehnung an Rousseaus 1754 erschienene Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen entstanden ist, worin es um die Sehnsucht nach einem positiven Naturzustand geht. Zwischen einer bedrohlichen Wildnis und einer negativ aufgefassten Hochkultur der Großstadt hat Stifter eine kultivierte Natur erstrebt und positioniert. Durch Kultivierung, aber auch durch Destruktion von Landschaft und Gesellschaft entsteht ein Bedingungsgefüge, innerhalb dessen Erziehungs- und Bildungsprozesse gelingen oder scheitern können. Umgekehrt können sich diese individuellen Entwicklungs- und Bildungsprozesse einzelner Figuren positiv auf die Kultivierung der Natur und gesellschaftlichen Umwelt auswirken.

Dieses dreiteilige topische Modell findet in den Erzählungen jeweils andere spezifische geographische und topografische Ausprägungen. Mit diesem dreiteiligen topischen Modell ist in der Erzählung Narrenburg der Topos von der „Macht der Schrift“, d.h. des autobiografischen Schreibens, verknüpft, insofern der ursprüngliche Inhaber der Burg Rothenstein, Hanns von Scharnast, testamentarisch festgelegt hat, dass jedes Mitglied des Geschlechts als Voraussetzung für die Übernahme des Erbes durch einen Doppelschwur dazu verpflichtet wird, seine Lebensgeschichte wahrheitsgemäß aufzuschreiben und die eigene Lebensbeschreibung nach einiger Zeit sowie die Lebensbeschreibungen der Vorfahren zu lesen. Das hat katastrophale Folgen. Verbunden mit dem Topos von der Macht der Erziehung, wobei die Erziehung gelingen, aber auch scheitern kann, scheitert in der Binnengeschichte der Ich-Erzähler Jodok mit seiner Erziehung der aus Indien mitgebrachten Frau Chelion, insofern dieses Naturkind ihm untreu wird. Stifter orientierte sich dabei an dem Reiseschriftsteller Hermann von Pückler-Muskau, der „eine junge Abessinierin namens Machbubah von einer Indienreise mit nach Hause brachte“, die ebenso wie Chelion Ehebruch beging. Im Unterschied zu Jodok gelingt es dem Nachkommen Heinrich, „der fatalen Wirkung der Scharnastschen Erbfolgeregelung zu entgehen und die Kette von gescheiterten Biografien zu unterbrechen“. Er hat als Erzieher des verwilderten Kindes wie auch seiner Ehefrau Erfolg, so dass die Frau ‚fast ein halbes Wunderwerk‘ ist. Parallel dazu gelingt es ihm, das zur Wildnis gewordene Schloss zu rekultivieren.

Der Gegensatz von misslingender und gelingender Erziehung strukturiert auch die Erzählung Turmalin, wobei gemäß dem dreiteiligen topischen Modell „die topografischen Informationen im Text“ auch hier „eine erzähltechnische Funktion“ erhalten. Der Rentherr lebt zu Beginn an einem Ort der Hochkultur, in dem alles problematisch auf die Kunst ausgerichtet ist. So sind die Wände in seinem Zimmer voll von Bildnissen berühmter Männer bedeckt. Nach dem Ehebruch seiner Frau mit dem Schauspieler Dall und nach deren Tod zieht er in eine Kellerwohnung im Perronschen Haus, das „Spuren der Verwilderung und Rückeroberung durch die Natur“ zeigt. Dort blockiert er mit absurden Schreibverpflichtungen, mit einem falschen biografischen Schreiben, die Entwicklung seiner Tochter, so dass das Mädchen mit dem deformierten Kopf zwar gut sprechen und schreiben kann, aber ohne verständlichen Sinn.  Als Vorbild für diese Figur eines ‚wilden Mädchens‘ kann „das Schicksal des Nürnberger Findlings Kaspar Hauser gelten“. Nach dem Tod des Rentherrn vermag die Ich-Erzählerin als ideale Erzieherin in einem langwierigen Entwöhnungsprozess das Mädchen aus der prägenden Wildnis der Kellerwohnung zu befreien und gemäß dem Topos von der Macht der Kunst mit positiv eingesetzter Dichtung aus der Blockierung herauszuholen sowie mit Arbeitsaufgaben in die bürgerliche Welt der Nützlichkeit zu überführen. „In dem Maße, in dem das Erziehungsprojekt der Erzählerin gelingt, lässt sich auch der Lebensmittelpunkt des Mädchens in die Wohnung der Erzählerin verlagern, also in die Richtung des Mittelpunktes der kultivierten Natur“.

Auch in der Erzählung Waldbrunnen wird ein misslingender mit einem gelingenden Erziehungsprozess konfrontiert, insofern der Schullehrer kein Mittel findet, das ‚wilde Mädchen‘ in den Unterricht zu integrieren, während der erfahrene Herr von Heilkun erkennt, dass das Mädchen vollständig an seine Großmutter gebunden ist, die es, gemäß dem Topos von der Macht der Kunst, mit schönen Bändern schmückt und zu einer „Kunstfigur“ macht. Ihm gelingt es, das Mädchen mit dem pädagogischen Trick, ihm schöne Bänder zukommen zu lassen, wenn es am Unterricht teilnimmt, aus seiner Verstocktheit zu befreien. Heilkun wird nicht direkt zu einem Erzieher dieses wilden Mädchens, sondern er erkennt dessen Qualitäten, als er in ihrem Schreibheft ‚seltsame Worte‘ mit ‚poetischer Qualität‘ wahrnimmt und als er sie auf einem Felsen beim Waldbrunnen Texte von Goethe (Mignons Lied) und Schiller deklamieren und dazu tanzen sieht, und fördert die in diesem Mädchen angelegten humanitären und künstlerischen Potentiale. Dabei nimmt er bei ihrem Tanz ihre „körperliche Schönheit“ wahr, die so ist ‚wie an einem Standbilde alter Künstlerzeit‘; auch hier wirkt der Topos von der Macht der Kunst. Dabei geht von ihr die stärkere Wirkung aus, so dass Heilkun, der in seinem Leben ‚Mangel an Liebe‘ litt, durch ihre Liebe verwandelt wird. Juliana erscheint im Sinne Schillers als „schöne Seele“, indem sich ihre äußere Schönheit mit ihrem Bezug zur Kunst und ihrem sittlichen Verhalten zur Großmutter verbindet. „Sie muß nur noch für den gesellschaftlichen Umgang gebildet werden“. Erst als die Großmutter gestorben ist, ist Juliana bereit, in die Stadt zu gehen und Franz, den Enkel Heilkuns, zu heiraten. Ziel ist also die Integration in eine Familie. Die in den anderen Erzählungen vorhandene „topografische Konstellation“ ist auch hier vorhanden, insofern als Eckpunkte die Stadt, woher Heilkun kommt, und der ‚ungeheure Wald‘, in welchem er mit seinen Enkeln bis in das ‚wilde Gehölz‘ wandert, vorhanden sind. Dazwischen liegt die „kultivierte Natur“, zu welcher der Waldbrunnen gehört.

In dem zweiten Werkkomplex, der aus der zweiten und vierten Fassung der Mappe meines Urgroßvaters besteht, ist wie in der Narrenburg das dreiteilige topische Modell mit dem autobiografischen und therapeutischen Schreiben verbunden, das hier einen Bildungswillen zur Selbstbildung voraussetzt. Beide Hauptfiguren, Augustinus und der Obrist, haben gleiche Lebensschicksale. Beide haben im Zweikampf beinahe den Gegner getötet, der Obrist, weil er beleidigt wurde, Augustinus, weil sein Freund Eustachius betrogen wurde. Beide wollen die Leidenschaftlichkeit und Wut ihrer Jugend überwinden und streben ein verantwortungsvolles Leben an, und zwar Augustinus, indem er sein Studium beendet und Arzt wird. Der Obrist wird verändert, als der niedergestochene Herzog ‚sagte: Ich sterbe von unwürdigen Händen. Mir schauderte‘. Dieses Schaudern ist der „Beginn einer Veränderung“: Er verteilt sein Vermögen an Arme, rettet gegnerische Soldaten und vollbringt andere gute Taten. Doch beide kommen in eine persönliche Verzweiflungssituation, der Obrist, als ein Freund ihm die Braut wegnimmt, Augustinus, nachdem er durch seinen Eifersuchtsanfall die geliebte Margarita verloren hat, und beide wollen Selbstmord begehen. Der Obrist wurde durch eine zufällig hinzutretende Person gerettet, wobei er gemäß dem Topos von der Macht der Schrift zum autobiografischen Schreiben animiert wurde. Er erreicht dadurch eine solche psychische Stabilität, dass er selbst dann nicht verzweifelt, als seine Frau auf einem Waldweg in den Tod stürzt, sondern er will jetzt ‚so gut‘ sein, ‚wie sie es war‘. Der Obrist als der Erfahrenere rettet Augustinus vom Selbstmord, indem er ihm sein Schicksal erzählt und ihn auch zum autobiografischen Schreiben bewegt. Dadurch wird er, der an Lebenserfahrung reicher ist, zu seinem Vorbild, Erzieher und Helfer, doch es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Die Bedeutung des autobiografischen Schreibens wird durch die Namensgleichheit zwischen dem Augustinus der Mappe und dem Kirchenvater Augustinus, dessen Confessiones der Selbstfindung dienten, unterstrichen. Beide, Augustinus und der Obrist, erwerben, indem sie ihre Leidenschaften und Verzweiflungen überwinden und ein aktives und wirklichkeitsveränderndes Handeln annehmen, im Sinne des dreiteiligen topischen Modells mit steigernder Intensität und sich erweiterndem Handlungsradius eine Selbstvervollkommnung. Parallel dazu sorgen sie für eine Kultivierung der Natur, hier der Waldgegend, sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse, z.B. durch Anlegen von Straßen und Bau einer Brücke. Hier wirkt der „Topos von der Erziehung zur Nützlichkeit“ auf die Gestaltung der Figuren ein, wobei Augustinus als Arzt zum „hilfsbereiten Wohltäter seiner Mitmenschen“ werden will. Während die 2. Fassung mit einer „unerwarteten Wiedergewinnung Margaritas“ endet, bleibt die 4. Fassung diesbezüglich Fragment. Analog zur Kultivierung der Figuren durch Bildung entsteht in der 4. Fassung als „idealisierter Mittelpunkt der kultivierten Natur“ eine Schilderung des Landschaftsgartens des Fürsten von Braunenberg, wobei sich Stifter von dem Landschaftsgarten des Fürsten von Pückler-Muskau beeinflussen ließ. Hier verbindet sich der Topos vom Mittelpunkt der kultivierten Natur mit dem von der Macht der Kunst, insofern bei der Gestaltung dieses Gartens die Verbindung von Nützlichem und Schönem eine wesentliche Rolle spielt. Die Wirkung des Gartens ist ‚wie von einem Kunstwerke‘, und tatsächlich hat ein Künstler, vermutlich Eustachius, der verschwundene Freund von Augustinus, mit idealisierenden Landschaftszeichnungen Modelle für die Ausformung des Gartens beigetragen, ohne sie selbst zu realisieren.

In den Erzählungen wie in der Mappe spielt der Topos von der Macht der Familie ein prägende Rolle, und zwar negativ, insofern in der Narrenburg nach dem Ehebruch der Frau eine Katastrophe für den Mann ausbricht, und in Turmalin, wo Jodok nach dem Scheitern seiner Ehe am Fuße der Burg Rothenstein ein Leben in Einsamkeit und Armut sucht, vor allem aber positiv wie in Der Waldbrunnen, in der Mappe und im Nachsommer.

Während in der Journal- und Buchfassung der Mappe eine „unerwartete Wiedergewinnung Margaritas“ stattfindet, nachdem Augustinus durch seine Transformation und Aktivität ein ‚herrlicher Mann‘ geworden ist, fehlt dieser Schluss in der als Fragment hinterlassenen vierten Fassung. Doch auch dort wirkt sich der Topos von der Macht der Familie aus. Nach dem Verlust seiner gesamten leiblichen Familie, von Bruder, Schwester und Vater durch schwere Krankheit findet „ein Wechsel des Familienparadigmas“ statt, insofern sich Augustinus so intensiv auf die Betreuung und Heilung von Kranken konzentriert, dass er von den Leuten als ‚Vater der Kranken‘ aufgefasst wird. Auch mit dem Obristen entsteht eine familiäre Beziehung, als er durch die psychische Behandlung von dessen schwermütiger Tochter Isabella, die er durch eine autobiografische Erzählung seiner eigenen Probleme heilt, in „einen neuen Familienkreis“ eintritt.

Im dritten untersuchten Werkkomplex, im Nachsommer, kommt nach Achenbachs Verständnis dem Topos von der Macht der Familie in Verbindung mit anderen Topoi eine wesentliche Rolle zu. Das Schicksal Risachs wird von diesem in einer Umkehrung der Darstellungschronologie wie in Turmalin und in der Mappe gemäß dem Topos von der Macht der Schrift in einer Binnenerzählung nachgeholt, um Heinrich die Ursachen für das Scheitern einer Liebesbeziehung zu demonstrieren. Es beginnt mit dem Einbruch der Wildnis, und zwar damit, dass ein Hagelschlag die Felder verwüstet und ein Teil des Gebäudes durch ein Feuer vernichtet wird, bis Risach einen Verlust seiner Herkunftsfamilie erleidet. Sein Liebesverhältnis zu Mathilde Makloden scheiterte wegen seiner Leidenschaft und weil sein verunglücktes Verhalten zwischen der Geliebten und deren Familie dazu führte, dass die geliebte Mathilde wegen seines „Treuebruchs“ eine künftige Familie mit ihm aufkündigte. Er wird zum Staatsdiener, obwohl er diesen Beruf ablehnt, und zwar in einer Stadt, die er als ‚ungeheure Wildniß‘ empfindet. Beide finden lediglich in einem „Nachsommer“ zusammen.

Heinrich Drendorf stammt im Unterschied zu Risach aus einer intakten Familie, welche ihm die Möglichkeit zur Selbstentfaltung und Selbstbildung einräumt, so dass er mit aktivem Lern- und Bildungswillen im Sinne des Topos von der Macht der Schrift seine Entwicklung in einem autobiografischen Text, im Roman, darstellt und intensiv reflektiert. Aus dieser Familienbindung kommt er im Rosenhaus in eine neue Bindung mit dem erfahreneren und zu seinem Förderer und Lehrer werdenden Freiherrn von Risach, der Heinrichs Bildungsqualität erkennt und die Vollendung seines Bildungsganges unterstützt, ohne ihn zu bevormunden. Dabei spielt der Topos von der Macht der Kunst eine entscheidende Rolle. Heinrich, der sich von Anfang an der Erforschung der Wildnis, des Hochgebirges, verschrieben hat, findet erst langsam und schrittweise zur Kunst. Bei seinem Vater hat er antike Gemmen kennen gelernt, am Aspernhof entwickelt sich sein Kunstverständnis durch Zeichnen und Malen. Von äußerlichen Kunstbegegnungen gelangt er erst nach dem Erlebnis der Shakespeare-Aufführung der Familientragödie des König Lear zu einer inneren Erschütterung, welche auch einen ersten noch unbewussten Kontakt mit Natalie bringt. Das Verhältnis zu Natalie steigert sich nach der späten Erfahrung der Schönheit der antiken Statue und nach dem Bildungserlebnis der Lektüre des antiken Epos der Odyssee. Natalie erhält dadurch „die Züge einer bereits ästhetisch sublimierten Figur“. Heinrich gelangt dadurch zu einem höheren Reife- und Bildungsgrad, so dass eine Familienbindung möglich wird. Am Schluss entsteht eine Großfamilie, und zwar dort, wo im Sinne des dreifachen Topos eine kultivierte Natur und eine praktizierte Kultur die zentralen Figuren zusammenführt. Das Rosenhaus bildet das Zentrum, in welchem die Natur vorbildlich kultiviert, der Garten ökologisch eingerichtet, das Haus mit Rosen geschmückt wird, traditionelle Kunstgüter gepflegt und erhalten werden sowie Kunst überhaupt hochgeschätzt wird. Als auch Heinrichs Vater, der bereits aus dem negativ eingeschätzten Zentrum der Großstadt an deren Peripherie gezogen war, nach der Aufgabe seines Geschäftes den Gusterhof erwirbt, der zwischen dem Aspernhof und Sternenhof liegt, sind es nun „acht Personen, die auf drei nahe beieinander liegenden Höfen als ideale Großfamilie leben“. „Die Macht der Familie begleitet Heinrich von Anfang an auf seinem exemplarisch gelingenden Bildungsgang.“ Angesichts der Auffassung in der Forschung, dass es sich um keinen Entwicklungsroman handelt, verweist Achenbach darauf, dass hier wie in den anderen Werken Stifters auf jeden Fall den Bildungsgängen eine wesentliche Rolle zukommt. Doch „von seinem Ende her gelesen erscheint der Nachsommer […] als Familienroman der besonderen Art. Unter allen topischen Mächten […] steht die Macht der Familie hier nicht nur im Zentrum, sondern bildet Anfang und Ende.“

In zusammenfassenden „Positionsbestimmungen“ werden von Achenbach abstrakte Schaubilder für den jeweiligen „topischen Bauplan“ der behandelten Werke dargestellt. Diese Schaubilder werden sukzessive immer komplexer, indem sie die früheren Einzelergebnisse aufnehmen, bis am Schluss ein übergreifender „topischer Bauplan“ für den Gesamtkomplex aller behandelten Einzelwerke und Werkgruppen entsteht. Dieses Toposmodell und das theoretisch und textanalytisch komplexe und ausgewogene Forschungsergebnis vermitteln der Literaturwissenschaft einen neuen Zugang zur Literatur und zu den Werken Adalbert Stifters.

Titelbild

Hendrik Achenbach: Topisches Erzählen bei Adalbert Stifter. Untersuchungen zur Gestaltung von Bildungsgängen in ausgewählten Werkkomplexen.
(Studien zur deutschen Literatur. Hg. von G. Braungart u.a., Band 226).
De Gruyter, Berlin 2021.
476 Seiten, 109,95 EUR.
ISBN-13: 9783110750751

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