Die schlechteste aller Welten

In seinem vielstimmigen Roman „Die Summe aller Möglichkeiten“ zeichnet Olivier Adam ein düsteres Frankreich-Porträt

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lebensumstände und Perspektiven der meisten Figuren in Olivier Adams Roman Die Summe aller Möglichkeiten sind bedrückend, die Erfahrungen, die sie machen, nicht selten verstörend: Der Amateurfußballer Antoine, dem auf dem Platz recht viel, im Leben dagegen nichts gelingt, wird von Unbekannten mit einem Baseballschläger fast totgeschlagen und landet im Krankenhaus, seine Noch- Ehefrau Marion muss, wie ihre Kollegin Coralie, als Zweitjob den Frühstücksdienst in einem Hotel übernehmen, um über die Runden zu kommen. Ein älteres, wohlsituiertes Ehepaar, Paul und Hélène, suchen angesichts verheerender gesundheitlicher Aussichten lieber den gemeinsamen – zunächst nur zur Hälfte glückenden – Freitod statt langes Siechtum, die am Strand aufgetauchte junge Frau Léa spricht kein Wort, wird aber später als Tochter wohlhabender Eltern identifiziert, die sich das Verschwinden ihres Kindes und ihr Abrutschen in Depression und Rauschgiftsucht nicht recht erklären können. Der mehrere Restaurants und Hotels kontrollierende, eiskalte Geschäftsmann Perez fasst schon mal gerne das weibliche Hotelpersonal unsittlich an und beauftragt seine Gorillas Ryan und Javier mit besonderen Diensten.- Beide verschwinden auf rätselhafte Weise. Sowohl damit als auch mit dem Anschlag auf Antoine ist der Polizist Grindel beschäftigt, der mehr durch seine Melancholie und seine Hilflosigkeit – nachdem ihn seine Frau verlassen hat – in Erinnerung bleibt als durch seinen Spürsinn oder sein kriminalistisches Talent. Auch das Leben der Ärztin Laure, die sowohl die stumm bleibende Léa als auch den Überlebenden des doppelten Selbstmordversuchs medizinisch betreut, wird kunstvoll mit den übrigen Figuren verwoben.

Neben Antoine sowie dem älteren Ehepaar Paul und Hélène und der Fußballmannschaft Antoines wird kapitelweise getrennt aus der Perspektive von 19 weiteren Figuren erzählt. Sie alle verbindet, dass sie entweder an einem nicht namentlich genannten mondänen Ort an der südfranzösischen Küste leben – der aber wohl in der Nähe von Nizza gelegen sein muss – oder, wie das wohlhabende Ehepaar oder die Tochter des älteren Paares, dorthin kommen müssen. Alle Akteure und Geschichten sind in irgendeiner Weise mit Antoine verbunden, dessen Vorgeschichte und Krankenhausaufenthalt als erste und letzte Episode des Romans den Text rahmen. Es scheint, als habe Olivier Adam mit diesem Küstenort in der Nebensaison einen symbolträchtigen Mikrokosmos mit allen am sozialen Leben beteiligten Gesellschafts- und Berufsgruppen als Abbild der französischen Gesellschaft schaffen wollen, was ihm mit seiner multiperspektivischen Erzählweise durchaus überzeugend gelungen ist.

Mehr aber noch als der Handlungsort und das omnipräsente Fußballspiel von Antoines Amateurmannschaft gegen einen etablierten Verein verbindet die Protagonisten, ob reich oder arm, dass ihr Leben einen mal offensichtlichen, mal fast unsichtbaren oder kaum wahrnehmbaren Bruch erfahren hat. Adams Erzähler seziert diese Brüche mit psychologisch einfühlsamer und fast schon lapidarer Klarheit, die immer der Herkunft, Lebensweise und dem Bildungsstand der Protagnisten Rechnung trägt. Dabei bedient sich der Autor einer poetisch einfühlsamen aber dennoch immer präzisen und sozial distinkten Sprache, mit der der Erzähler jeweils aus der Perspektive der mehr als 20 Figuren überzeugend deren Geschichten, Ereignisse und Biografien miteinander zu verknüpfen vermag.

In seinem zuletzt in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „An den Rändern der Welt“  (2015) zeichnete Olivier Adam noch stark autobiografisch gefärbt die Auseinandersetzung eines in seiner Ehe gescheiterten, von Neurosen und inneren Abgründen erschütterten Intellektuellen mit seiner prekären Pariser Vorortherkunft nach. Doch es wäre es verfehlt, den vorliegenden Roman angesichts seines Figurenensembles auf die Darstellung problematischer sozialer Milieus zu reduzieren. Die den gesamten Text dominierende, ebenso bedrückende wie bedrückte Atmosphäre entspricht der über dem Küstenort der fiktionalen Welt liegenden Nachsaison- und Nebel-Stimmung, die aber eben nichts mit der Banlieu-Tristesse aus Adams früheren Romanen zu tun hat. Natürlich literarisiert er gerne gescheiterte, von allerlei Obsessionen heimgesuchte Männer, derbe Kerle, trostlose Leben und – wie in seinem neuesten Roman – schöne Landschaften. Unter seiner Feder wird sogar der für viele immer noch als Inbegriff des mondänen Lebens schlechthin geltende, fast schon zur Zauber- und Sehnsuchtsformel verkommene Landstrich der Côte d’Azur zur tristen Alltagswelt und zumindest symbolisch betrachtet zu einem Problemvorort der Pariser Politik.  Die Stärke und Qualität des Romans liegt gerade darin, dass er vermeintlich sichere Vorstellungen von Schönheit, Sicherheit und sozialer Ruhe entlarvt, indem er seine strauchelnden, nach Halt suchenden oder von unerwarteten Ereignissen überrumpelten Protagonisten an einem Ort zeigt, mit dem man die geschilderten Ereignisse ungern in einen Zusammenhang bringen möchte.

Vielleicht ist Adam aufgrund seiner Radikalität, die von seinen Kritikern gerne als Monotonie oder auch intellektuelle Überheblichkeit und Scheinheiligkeit gebrandmarkt wird, hierzulande bei weitem nicht so bekannt wie sein gut eine Generation älterer Kollege Michel Houellebecq. Dabei ist er ein mindestens genauso begnadeter Erzähler und messerscharfer Sozialkritiker des gegenwärtigen Frankreich wie Houellebecq und mit diesem Roman zum literarischen sozialen Gewissen einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft und Nation avanciert, was indessen seine ästhetische Qualität in keiner Weise schmälert.

Tatsächlich ist es aber wichtig, sich das Erscheinungsjahr des französischen Originals (2014) vor Augen zu halten, das noch vor dem von Houellebecqs vieldiskutiertem Roman Unterwerfung (2015) liegt, der ein moralisch korrumpiertes und politisch aus der Bahn geratenes Frankreich im Jahr 2022 zeigt. Adams Text ist im Original mit der Redewendung „Peine perdue“ betitelt, das sich im Deutschen am besten mit „Vergebliche Mühe“ übersetzen lässt. Der Titel der deutschen Übersetzung bedient sich eines Gedankenzitats, das Antoine in der ersten Episode zugeschrieben wird: „Das ist das Problem mit dem Leben, dachte Antoine. Dasjenige, das man hat, ist immer zu eng, und das, das man gern hätte, ist zu groß, um es sich auch nur vorstellen zu können. Die Summe aller Möglichkeiten ist das Unendliche, das gegen null tendiert.“ Mit dem französischen Originaltitel sind indessen alle Figuren des Romans erfasst, gleich welchem sozialen Milieu sie entstammen. Der Text ist als sozialkritischer und hellsichtiger Zeitroman in seinen angedeuteten Diagnosen und seiner symbolischen Verweisstruktur so bestechend, weil wir uns als Leser eben nicht kopfschüttelnd über einen Autor wundern müssen, der angesichts der Emmanuel-Macron-Euphorie und Aufbruchstimmung ein vermeintlich doch arg verzerrtes Frankreich-Bild konturiert, sondern dem heutigen deutschen Leser mit Verspätung noch einmal das Jahr 2014 vor Augen führt. In jenem Jahr hat Frankreich nicht nur das Viertelfinale gegen den späteren Fußballweltmeister Deutschland in Brasilien verloren, sondern das Land lag tief gespalten wirtschaftlich und moralisch am Boden, was sich die politischen Vereinfacher des Front National in den französischen Kommunalwahlen zunutze machten, nach denen die Partei von Marine Le Pen mehr als zehn Bürgermeister stellte. Auch aus den Europawahlen 2014 ist der Front National mit knapp 25% zum ersten Mal als stärkste Partei hervorgegangen.

Obwohl sich die düstersten Zukunftsszenarien der damaligen politischen Diskussionen, wie sie sich auch in Adams Roman finden, glücklicherweise nicht erfüllt haben, so haben sich die politischen Verwerfungen, sozialen Probleme und prekären Lebensverhältnisse vieler Franzosen trotz des Macron-Hypes noch lange nicht erledigt. So zeigt der Text gerade im Blick auf das Innenleben seiner jüngeren Protagonisten, die heute in ihren Dreißigern sind, wovon eine Generation träumt und dass diese Träume beileibe nicht Unmögliches oder Überzogenes verlangen, sondern sich auf das Wesentliche beschränken, wie im Fall von Coralie, die sich einfach einen unbefristeten Vollzeitvertrag, eine ordentliche Arbeit wünscht, von der man leben kann.

Gleichzeitig werden mit Figuren wie Antoines Vater Serge, der für die ältere Generation steht, auch die als Missverständnisse und in Vorwürfen sich äußernde, eben bis ins Familiäre hineinreichenden Folgen verfehlter Sozialpolitik deutlich, die sich trotz der Einsicht des Vaters in die Problematik nicht ganz aus der Welt räumen lassen: „Der Graben, der sich zwischen zwei Generationen auftut. Das ist etwas, das man nicht so leicht akzeptieren kann. Dass die Dinge sich in so kurzer Zeit so sehr ändern können. Dass man nach 25 Jahren nicht mehr im gleichen Alter das gleiche Alter hat. Und dass das Leben selbst nicht mehr das gleiche Leben ist.“

Adams Wahl eines symbolträchtigen Handlungsortes ist vor allem in der multiperspektivischen erzählerischen Darbietung dieser unterschiedlichen Biografien die Grundlage dafür, glaubwürdig und bei aller Düsterkeit doch mitfühlend der Frage nach einem gelingenden Leben und den dafür nötigen sozialpolitischen Rahmenbedingungen literarisch nachzugehen. Im Bild der südfranzösischen Neben-Saison, in der sich bei den Zurückgebliebenen und immer schon Dagewesenen der Zauber der Küste und die Unbeschwertheit der Sommertage melancholisch noch einmal in Erinnerung bringt, verdichtet sich zudem in anrührender Weise das Streben nach Glück und Erfüllung von Menschen, deren Leben in Wirklichkeit nicht einmal mehr als Neben-Schauplätze von der großen Politik ernst genommen werden.

Titelbild

Olivier Adam: Die Summe aller Möglichkeiten. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael von Kilisch-Horn.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017.
446 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608980332

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