Heute bin ich Danny

Aravind Adiga macht in seinem Roman „Amnestie“ einen illegal in Australien lebenden Tamilen zum Zeugen eines Mordfalls

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was wissen wir über das Leben illegaler Einwanderer, die ihnen drohenden Gefahren, ihren Alltag, ihre Wünsche und Ängste? Die Literatur hat sich mit diesem Thema bisher nur selten beschäftigt. So berichtet etwa Abbas Khider in seinem autofiktionalen Debüt Der falsche Inder (2008) von der Flucht eines vom Hussein-Regime verfolgten Irakers durch mehrere Staaten, die im Asylbewerberheim in Deutschland endet oder beschreibt Julya Rabinowich in Die Erdfresserin (2012) das niederschmetternde Schicksal einer russischen Illegalen im „goldenen Westen“ in Wien, deren Existenzkampf in psychischer Überforderung endet. Demgegenüber nimmt sich die französische Filmkomödie Heute bin ich Samba (2014) der Probleme (illegaler) senegalesischer Immigranten und des Arm-Reich-Gefälles in Frankreich mit den Mitteln des populären Films an. Und nun also Australien, ein Land, dessen Alltag uns in Europa nicht ganz so präsent ist und das das Zielland in Deutschland eher unbekannter Migrantenströme aus Südostasien ist.

Für Adigas Protagonisten, Dhananjaya Rajaratnam, kurz Danny, wird Sydney zu einer Falle. Zwar gelang ihm die Flucht mit einem Boot zu umgehen, indem er mit einem Studentenvisum und per Flugzeug nach Australien einreist, doch sein Plan, dort Asyl zu beantragen, misslingt. Seine Heimat, Sri Lanka, wo er in Batticaloa an der Lagune mit den singenden Fischen aufwuchs, hatte der Tamile verlassen, um im fünften Kontinent eine Zukunft aufzubauen, aber das Studentenvisum, das er sich erkaufte, erweist sich als kontraproduktiv, denn wer so viel Geld hat, dem könne kein Asyl gewährt werden.

Danny lebt schon vier Jahre im illegalen Untergrund von Sydney und arbeitet schwarz als Reinigungskraft. Ein Drittel seines Lohns muss er dem griechischen Supermarktbesitzer, bei dem er sonst auch noch die Regale einräumt, für das Dach überm Kopf im Lagerraum abgeben. An dem einen Tag, den der Roman schildert, geht der stets gutgelaunte „legendäre Putzmann“ in der Wohnung eines Anwalts seiner Arbeit nach, als die Polizei im Haus gegenüber eine Mordermittlung beginnt. Es handelt sich ausgerechnet um die Wohnung im Haus Nummer 5, in die er fast zwei Jahre jeden Dienstagmorgen mit Staubsauger und Putzutensilien gegangen war, wie Danny erkennen kann. Mit dem Mord wird der Roman zum Krimi, denn von nun an dreht sich alles um die frühere Arbeitgeberin des Putzmannes und ihren vermeintlichen Mörder. Aber es kommt nicht zur im Genre üblichen Ermittlungsarbeit, denn ein Illegaler kann sein Wissen und seinen Verdacht ja nicht so einfach mit der Polizei teilen: Was genau passiert war und wie der Fall gelöst wird, gibt nur eine kurze Zeitungsnachricht am Ende des Romans schnörkellos wieder.

Stattdessen muss Danny zuerst mitten an einem anstrengenden Arbeitstag seine Gedanken ordnen und rausfinden, was in Wirklichkeit im Haus Nr. 5 geschehen sein könnte. In einem unbedachten Moment ruft er beim Liebhaber der ermordeten Radha Thomas an und legt sofort auf. Ab dann hat er keine Ruhe: Dr. Prakash, wie Danny vermutet, will ihn unter dem Vorwand, seine Wohnung vor seiner Abreise nach Südafrika säubern zu lassen, zu sich locken. Es entwickelt sich ein nicht nur die Hauptfigur zermürbendes telefonisches Hin und Her zwischen den beiden.  Danny fühlt sich zunächst bedroht und verfolgt, danach fürchtet er um sein Leben.

Was den Roman ausmacht, ist die Perspektive des illegalen Protagonisten. Seine unterhaltsame, sehr individuelle Art, die Dinge zu schildern, lässt einen schmunzeln und die eigentliche Tragik seines Daseins und seiner ausweglosen Situation zeitweilig vergessen. Es ist fast schon ein Feuerwerk an Lebensfreude, wenn er beschwingt von seinem Staubsauger auf dem Rücken, dem astronautenähnlichen Outfit und seiner Kompetenz und Kundenfreundlichkeit schwärmt. Danny liebt seinen Job und versucht alle noch so ungewöhnlichen Marotten zu bedienen. Herablassend unterteilt er die Vororte Sydneys in

dicker Hintern, wo die Arbeiterklasse wohnte, schlecht aß und selber putzte; und dünner Hintern, wo die fitten und jungen Leute Salat aßen und viel joggten, aber ihre Wohnungen praktisch nie selber putzten.

Die Konkurrenz aus China und Nepal sticht er zudem leicht aus. Er ist ständig unterwegs – in Sydney, aber auch in seinen Gedanken. Er ist einerseits beim Meistern des Alltags nicht zu bremsen, findet andererseits aber keinen Halt in einer Gesellschaft, zu der er nicht gehören darf. Seine Beobachtungen über das Land, in dem er sich aufhält, und dessen Menschen sind humorvoll, manchmal flapsig, doch stets treffend.

Die Australier sind für ihn logisch, planvoll, optimistisch und gieren nach allem, was „schräg“ oder anders ist, deshalb lieben sie auch Minderheiten. Sie haben, anders als in Dubai oder Sri Lanka, wie Danny erfahren hat, auch für Minderheiten Rechte. Australien ist aus seiner Sicht nur auf den ersten Blick ein Land ohne Tabus oder Klassenunterschiede und mit Regeln, die überall über allem stehen. Am Überfluss der weißen Australier, der sich für ihn darin zeigt, dass sie ganze Wohnzimmer wegschmeißen, kann er nicht teilhaben. Umso mehr ist er von der „Leck-mich-weißer-Mann-Haltung“ mancher legaler Migranten fasziniert, die sich nehmen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Auch die ermordete Radha hatte alles, was indische Eltern seiner Meinung nach schätzen: einen Makler, einen Bürojob beim Staat und 2300 Facebook-Freunde.

Menschen, die nicht gemeldet sind, keine Adresse haben, kein Bankkonto eröffnen, keinen Handyvertrag abschließen können, sind nicht nur ihren gleichgültigen Arbeitgebern ausgeliefert und müssen auf eine herkömmliche Lebensplanung verzichten. In Sydney findet der Markt der Illegalen vor der Stadtbibliothek statt, wo beschädigte Waren getauscht oder verkauft werden und es Informationen über Arbeit oder das neue Einwanderungsgesetz gibt. Unbeliebte Jobs, die niemand machen möchte, wie etwa drei Meter hohe Kakteen auszugraben, werden hier über ein Netzwerk angeboten. Am schlimmsten ist es aber, auf Dauer am gesellschaftlichen Leben nicht partizipieren zu können. „Überlebe. Misch dich da nicht ein.“ ist die Devise, nach der Danny lebt und auch seine Vermutungen über den Tod seiner Ex-Arbeitgeberin unbedingt für sich behalten sollte. Er kann nicht einmal eine Aussage zu einem Mordfall machen, ohne sich selbst zu gefährden. Dass er seine Entscheidung letztlich moralisch richtig fällt, er sozusagen er selbst bleibt, gehört zur Tragik seines Schicksals.

Aravind Adigas Roman beginnt rasant, lebendig und reißt mit den humorvollen, pointierten Bemerkungen und Beobachtungen des tamilischen Protagonisten wirklich mit. Ihm dann beim Aufräumen (auch in der Gesellschaft) lesend zuzuschauen, setzt Gedankengänge in Bewegung, die helfen, den eigenen unbewussten Alltagsrassismus zu reflektieren. Denn während Danny dem Leser erzählt, was er über Dr. Prakash weiß, gibt er nicht nur einen Einblick in sein eigenes Denk- und Handlungsmuster, sondern hält auch uns den Spiegel vor. Daran ändert auch der überflüssig langatmige Mittelteil des Romans mit den nicht enden wollenden Anrufen des Mörders bei Danny nichts.

Titelbild

Aravind Adiga: Amnestie. Roman.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
286 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783406755514

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