Geschichte auf den Punkt gebracht: eine deutsche Familiengeschichte
Henning Ahrens erzählt in „Mitgift“ von seinen Vorfahren
Von Helmut Sturm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHenning Ahrens, 1964 geboren, erzählt die Geschichte seiner Familie und Ahnen von seinem Urururururgroßvater Hans Wilhelm Leeb (1705–1777) bis zu seinem Vater Wilhelm Leeb junior. Dessen Tod durch Suizid schockiert die Familie im Roman im Jahr 1962, in der Realität 1989. Ihm ist in dem Roman der Versuch gewidmet, zu verstehen, wie es zu so einer Tat kommen konnte. Henning Ahrens stellt dabei die weit zurückreichende Familiengeschichte und die Erzählung davon, „wie der Sohn am Vater zerschellte“, den Vater-Sohn Konflikt zwischen Wilhelm Leeb senior und Wilhelm Leeb junior in den Mittelpunkt.
Wie in einer Familie Vornamen weitergegeben werden, was es uns Leserinnen und Leser mitunter etwas schwer macht, sich unter den Hans Wilhelm, August Wilhelm, Wilhelm senior, Wilhelm („Willem“) junior zurecht zu finden, wird als eine Art „Mitgift“ eine bestimmte Prägung durch Elternhaus, Erziehung und erbliche Anlagen tradiert. Unter den Bewohnern des im niedersächsischen Klein Ilsede in der Nähe von Peine liegenden Bauerngutes gibt es die künstlerisch Begabten, die zeichnen, malen und schreiben, die Macher, die wirtschaftlichen Erfolg suchen, die Religiösen, die bereit sind, der Kirche alles zu geben, und diejenigen, die meinen, „die Kirche soll zum Teufel gehen“. Schließlich gibt es die andauernden Kommunikationsprobleme in der Familie, die bereits im 19. Jahrhundert von Wilhelm August so beschrieben werden: „Da sprechen wir beide Deutsch, haben aber keine gemeinsame Sprache, und das, obwohl wir aus dem selben Stall kommen.“ Daraus schließt er: „Wir sind verflucht.“ Dieses Nicht-Miteinander-Reden-Können zwischen Vater und Sohn, Vater und Mutter, Großeltern- und Elterngeneration wird von Henning Ahrens überzeugend in durchweg bemerkenswerten Szenen vorgestellt.
Die „Mitgift“ – im lexikalischen Sinn von „Vermögen, Aussteuer in Form von Geld und Gut, das einem Mädchen bei der Heirat von den Eltern mitgegeben wird“, wie sie so etwa im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache definiert wird – spielt freilich auch eine wichtige Rolle im Leben der Protagonisten. Über Generationen wird bei der Familiengründung nicht nach dem Herzen entschieden, sondern zumeist unter dem Druck der Elterngeneration nach dem ökonomischen Kalkül.
So wird es Wilhelm Leeb junior unmöglich gemacht, die Beziehung mit der von ihm geliebten Försterstochter so zu gestalten, dass eine glückliche Zukunft möglich geworden wäre. Doch auch sein Vater, der diese Liaison stets hintertrieben hat, hat auf seine Jugendgeliebte, Gerda Derking, zugunsten einer Heirat mit entsprechender Mitgift verzichtet. Gerda Derking, die mit ihrem Kater Heini in der unmittelbaren Nachbarschaft des Leeb-Hofes lebt, hat im Roman darüber hinaus als Totenfrau des Dorfes, die den Leichnam auf Wunsch von Wilhelm Leeb senior für das Begräbnis vorbereiten soll, die Funktion, dass über sie, ihre Freundinnen und die von ihr gelesenen Bücher eine neue Perspektive auf Familiengeschichte und -drama eingeführt wird. In acht der 22 Episoden des Romans steht Gerda Derking im Mittelpunkt. Auch wenn Henning Ahrens die Mitglieder der Familie Leeb recht neutral von außen beschreibt und Wertungen weitgehend vermeidet, merkt man, dass seine Sympathie ganz der Totenfrau gilt. Sie ist das Gegenbild zum herrischen, stets die Haltung bewahrenden Wilhelm Leeb senior, der selbst seinem Vater manchmal unheimlich wird, da „der Junge […] hundertprozentig von sich überzeugt“ ist.
Tatsächlich ist das Leben dieses Herrenmenschen, der in seinem Hof das SA-Büro des Dorfes als Reitersturmführer eingerichtet und geleitet hat, unbedingt lesenswert. Die Ereignisse rund um den Vorsitzenden des lokalen Reit- und Fahrvereins, des Niedersachsenbundes ‚Holt Fast‘, des Landwirtschaftsführers und Sonderführers im Leutnantsrang werden von Henning Ahrens so klug gestaltet, dass wir Leserinnen und Leser sehr bald verstehen, dass es nicht nur um diesen Bauern aus der niedersächsischen Provinz geht, sondern um deutsche Geschichte und ihre Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Es gibt auch eine Mitgift, von der wir alle (im Guten wie Schlechten) betroffen sind. Er verschwendet an das Schicksal der Juden, das er in der Ukraine hautnah miterlebt, keine Gedanken, treibt die Politik der Landausbeutung der Nationalsozialisten in den eroberten Gebieten voran, sieht sich in der Gefangenschaft in Polen als „Opfer des Weltenlaufs“ und kehrt zurück auf den Hof mit dem Willen „ich werde alles modernisieren“. Was der „Etappenhengst“ Wilhelm Leeb senior erlebt, wird gut recherchiert in überzeugenden Episoden vorgestellt und ist dazu geeignet, jedes Geschichtsbuch nicht bloß zu illustrieren, sondern zu ergänzen.
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