Freundschaft in Briefen
Eine unerlässliche Lebens- und Liebeserfahrung für das Philosophin-Sein
Von Maria Behre
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHelene Wolff zitiert in einem Brief an Hannah Arendt vom 27. Januar 1962 folgende Anekdote: „Kurt, der Neugierige, fragt eben: ‚Wem schreibst Du denn schon wieder?‘ Helene: ‚Hannah.‘ Kurt: ‚Aus Jaspers oder aus Liebe?‘ Helene: ‚Aus beidem.‘“
So wird deutlich, um was für einen erweiterten Begriff der Liebe es sich in den vorliegenden Briefwechseln mit den sehr unterschiedlichen Frauen handelt. Die Gleichzeitigkeit von Sachinteresse und persönlicher Verbundenheit veranschaulicht Arendts Begriff „amor mundi“, Liebe zur Welt, als weiten offenen philosophischen Impetus. Der Begriff „Liebe“ wird in den gerade erschienenen Briefwechseln durchdekliniert, er ist ein Leitmotiv der Sammlung. Wolff schildert im Brief an Uwe Johnson vom 11. Dezember 1975 und im programmatischen Nachruf-Essay Was Liebe ist (1993) ihre letzte Begegnung mit der Philosophin. Arendt habe gesagt: „Wenn du und ich einmal tot sind, weiß dann überhaupt noch jemand, was Liebe ist?“ Analoges bezeugt Anne Weil im Brief vom 6. November 1975: „Ich frage mich, ob Du recht hast zu denken, dass viele Leute überhaupt gar nicht wissen, was Passion ist –.“ In einem Interview von 1982 differenziert Helene Wolff weiter: „The concept of love preoccupied her always. […] I believe she meant the capacity for devotion – not only to a person but to what you do with your life.”
Die Herausgeberinnen der Briefausgabe sehen in der Liebe neben der Kunst der Freundschaft die liebende Hingabe an Texte und Autoren als „eine selbst gestellte künstlerische Aufgabe“, die in Arendts Kontakt zum Verlegerpaar Helene und Kurt Wolff besonders zum Ausdruck kommt. Kurt Wolff traf im Brief vom 3. Dezember 1960 an Arendt mit seinem Lektüre-Fund in Vita activa den Kern des Arendt’schen Liebesbegriffs: „Macht der Selbstenthüllung und ein so unvergleichlicher Blick für das Wer der Person in dieser Enthüllung“, „nicht nur eine entscheidende Lebenserfahrung, sondern die schlechterdings unerlässliche für [das] Dichtersein“ – hier wäre zu ergänzen, auch für das Philosophin-Sein im Sinne Arendts. Durch den Titel der Briefsammlung wird eine Äußerung gegenüber Hilde Fränkel explizit in den Vordergrund gerückt: „Wie ich einmal ohne dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen“.
Die Briefsammlung führt sehr unterschiedliche, aber immer sehr intensive Kontakte Arendts zu Frauen zusammen. Das zeigt die Zusammenstellung der Daten, zunächst die Reihenfolge der Geburtsjahre: Hilde Fränkel, geborene Dreyfuss, geschiedene Flesch, 1897; Anne Weil, geborene Mendelsohn, 1903; Helene Wolff, geborene Mosel, 1906; Charlotte Beradt, geborene Aron, geschiedene Pollack, 1907; Rose Feitelson 1915; mit den Geburtsorten Frankfurt, Stolp bei Königberg, Skopje/ Mazedonien, Forst (Lausitz) in Brandenburg, New York. Ähnlich divergent sind die Todesjahre: Hilde Fränkel 1950, Anne Weil 1984, Charlotte Beradt 1986, Helene Wolff 1994, Rose Feitelson 2001. Es handelt sich um jüdische Frauen, bis auf Helene Wolff, die aber auch im Lager Gurs interniert war. In den Korrespondenzen bleiben die Kontakte Arendts zu den Männern, mit denen diese Frauen sich verbunden fühlten, immer präsent: Fränkels verheirateter Geliebter Paul Tillich, Wolffs zu edierende Autoren Karl Jaspers, Walter Benjamin und Uwe Johnson, Arendts Ehemann als Geliebter Beradts, Feitelsons Kontakt zu Kurt Blumenfeld, Kurt Wolff als Verleger-Gatte Helenes.
Man könnte denken, dies gelte für Anne Weil nicht, der Jugendfreundin und selbstständigen Europapolitikerin beziehungsweise Mitarbeiterin am Projekt Europa von den Anfängen an. Doch auch diese ist über ihren Mann, den Philosophen Eric Weil, hinaus mit bekannten Philosophen in Kontakt: Ernst Grumach und Joachim Ritter. Alle Frauen sind bei bestimmten Arendt-Büchern engagiert, allen voran: Weil als Inspiratorin und Förderin von Arendts Habilitationsvorhaben und Buch über Rahel Varnhagen (1958), ihr gewidmet „To Anne since 1921“, ein Werk, das Arendt in Deutschland 1933 unterbrechen musste – das Manuskript rettete Annes Mutter und schickt es am 15. November 1933 an Karl Jaspers –, um es im Sommer 1938 zu beenden. Rose Feitelson war Übersetzerin und Endredakteurin der Schrift Origins of Totalitarism (1951) und sprachliche Überarbeiterin von The Human Condition (1958). Charlotte Beradt bot sich als Übersetzerin von The Human Condition und von Essays in Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart (1957) sowie Aufsätzen wie Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus (1958) ins Deutsche an. Große Unterschiede liegen auch in dem Umfang der Briefwechsel; die Enttäuschung, wenn nur wenige Briefe Arendts vorliegen, lässt sich mit Heinrich Heines Diktum zurückdrängen, weil „sich in Briefen nicht bloß der Charakter des Schreibers, sondern auch des Empfängers abspiegelt“: Briefwechsel Arendt (ein Brief als Durchschlag überliefert) – Beradt (46 von 50 Briefen), Briefwechsel Arendt (zwei Briefe) – Feitelson (zehn von elf Briefen), Briefwechsel Arendt (14 Briefe, von denen allerdings schon sechs in Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde [München: Piper 2013] erschienen sind) – Fränkel (20 von 20 Briefen), Briefwechsel Arendt (zwei von zwei Briefen) – Weil (67 von ca. 165 Briefen), Briefwechsel Arendt (44 von 61 Briefen) – Wolff (44 von 75 Briefen). Der Seitenumfang der Briefwechsel variiert: Feitelson 37 Seiten, Fränkel 61 Seiten, Beradt 95 Seiten, Wolff 127 Seiten, Weil 168 Seiten, ebenso der Beginn der ausgewählten Briefe und die lebenslange Dauer der Briefwechsel: Weil 1941-1975, Fränkel 1949-1950 (das frühe Ende ist bedingt durch deren Tod), Feitelson 1952-1963, die aber weiterhin zum New Yorker „tribe“ gehörte und Arendt regelmäßig zu Sederfeiern einlud, Wolff 1954-1975, Beradt 1955-1976.
Arendt fungierte Kurt und Helene Wolff gegenüber als Editorin amerikanischer Ausgaben von Werken Jaspers’ (1962) und Benjamins (1968), wurde auch als Lektorin für Martin Heideggers Nietzsche-Buch angeschrieben (1961). Wie sehr sich diese Briefwechsel aber von denen zu einer wirklichen Freundin unterscheiden, zeigt die Darstellung des schweren Unfalls Arendts im Central Park. Gegenüber Kurt Wolff belegte Arendt die Tatsache, dass sie keine Hirnschäden davongetragen habe, mit dem kognitiven Beweis: „Habe sofort noch im Emergency room meine sämtlichen Verabredungen aus dem Gedächtnis abgesagt usw.“, gegenüber Mary McCarthy sprach sie im Brief vom selben Tag von einem anderen „Selbst-Test“: „Dann probierte ich mein Gedächtnis aus – sehr sorgfältig, ein Jahrzehnt nach dem anderen, Poesie, Griechisch und Deutsch und Englisch, dann Telefonnummern. Alles in Ordnung“.
Die Briefpartnerinnen versorgten Arendt mit konkreten politischen Erfahrungen, zum Beispiel Feitelson in ihrem zwölfseitigen Bericht über den Congress for Cultural Freedom in New York am 29. März 1952 unter dem Titel Wer bedroht in Amerika die Freiheit der Kultur? als Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, ein Kongress, den Feitelson selbst mitorganisiert hatte. Im September 1955 nahm Arendt an der Internationalen Konferenz The Future of Freedom in Mailand teil. Auch in einem zweiten Brief, der im englischen Original schon in HannahArendt.net (2003) erschien, zeigt sich Feitelson als politische Berichterstatterin höchster Kategorie, zum Women´s International Zionist Organisation-Kongress in Jerusalem im April 1957, an dem Feitelson als Delegierte teilnahm.
Hervorzuheben ist wiederum Anne Weil. Von ihr erhalten wir das anschauliche Lebensporträt einer beeindruckenden Frau im Kontext ihrer Zeit: Sie war aktives Mitglied der Résistance, schrieb dazu ein „Journal“ und auch weiterhin „rapports“, eine Form der Zusammenstellung, die sie in ihrer Dissertation bei Ernst Cassirer unter dessen Anleitung als „symbolische Form“ in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie wiederfand. Weil arbeitete, seit 1938 französische Staatsbürgerin, 1945 im französischen Wirtschaftsministerium, auch im Rahmen des Marshallplans. Sie berichtete unmittelbar von Churchills Züricher Rede über die „tragedy of Europe“ mit dem Appell „let Europe arise“ vom 19. September 1946, um eine europäische Ethik zu entwerfen: „Demokratie scheint da ein wunderbar utopisches Wort, wo es keinen Mitmenschen gibt, keine équipe, eine minimale gegenseitige Abhängigkeit“. Anne Weil wurde Mitglied der französischen GATT-Delegation in Genf, dann bei der Montanunion (1955-58) und bei der EWG/CEE in Brüssel (von September 1958 bis zum Herbst 1968), traf 1971 zum Beispiel den damaligen Außenminister Willy Brandt.
Weil vollzog in ihrem Berufsweg Cassirers Wendung zur Ethik und politischen Philosophie lebensgeschichtlich, nicht ohne die Aufzehrung politischer Ideen im Verwaltungsalltag kritisch zu thematisieren. Sie besaß mit Wohnorten und eigenen Wohnungen in Paris, Genf, Luxemburg und Brüssel genaue Kenntnisse in der Wirtschafts-Verwaltung, sowohl national als auch international, was im Kommentar zu Recht hervorgehoben wird: „Mit Engagement und über Jahre erworbener Kompetenz gehört Anne Weil zu den vielen in den Geschichtsbüchern namenlos Gebliebenen, die nach den nationalstaatlichen Erschütterungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Fundamente für den Aufbau des Hauses Europa legten.“ Ihre Leistung war, wie die aller anderen Briefpartnerinnen, Arendt „über den aktuellen Stand der politischen Diskussionen“ auf dem Laufenden zu halten. Sehr interessant ist – im Gedenkjahr an 1968 – Weils luzide Einschätzung der Streiks, die sie aus „Wut und Verzweiflung“ erklärt, „mehr um Anerkennung, als um Participation“. Leider fehlen in dieser wertvollen, ertragreichen Quellensammlung und Quellenerschließung Photografien der Briefpartnerinnen, wie sie im Privaten Adressbuch (Leipzig 2007) zum Teil vorliegen. Der Band ist ein weiterer Beleg dafür, dass Arendts Briefe genuiner Teil ihres philosophischen Werkes sind.
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