Von Silberlöwen und fahlen Feuern

Endlich erschienen: Der Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehr als 30 Jahre ist es her, seit die Arno Schmidt Stiftung begann, die Werke des Autors herauszugeben – in der sogenannten Bargfelder Ausgabe. Sie heißt so nach dem kleinen Heidedorf, in dem Schmidt seine letzten 21 Lebensjahre verbracht hat und in dem seine Witwe und Jan Philipp Reemtsma wenige Jahre später die Stiftung ins Leben riefen. Ab 1985 erschienen dort sorgfältige und ästhetisch ansprechende  Editionen seiner Werke, gestaltet vom preisgekrönten Typografen Friedrich Forssmann. Dazu kommt eine ganze Korona von Einzelausgaben, Briefwechseln, Supplementen, Hörbüchern, Fotobänden und vielen weiteren Publikationen, zu deren letzten Höhepunkten die ausführliche Bildbiografie von Fanny Esterházy zählt. Bis Mitte der 1990er Jahre erschienen die Bände in rascher Folge, die verbleibenden Lücken wurden aber nur langsam gefüllt. Inzwischen war sogar der Zürcher Haffmans Verlag pleite gegangen, der die Ausgabe über lange Jahre betreut hatte, und Suhrkamp war in die Bresche gesprungen.

Manche Bände brauchten viele Jahre, bis sie erscheinen konnten. Während Schmidts Rundfunkdialoge und die essayistischen Arbeiten schon lange geschlossen vorlagen, wurden die literarischen Werke im engeren Sinn erst 2010 durch eine gesetzte Ausgabe von Schmidts Opus Magnum Zettel’s Traum komplettiert. Dafür gab es gute Gründe, nämlich vor allem den komplizierten Satz des in drei Spalten geschriebenen Werks, das nach Schmidts eigener Berechnung etwa 5.000 normale Buchseiten umfasste. Vor dieser Aufgabe kapitulierend, hatte der Autor das Buch bei der Erstveröffentlichung 1970 lieber gleich als Faksimile des Typoskripts erscheinen lassen. Noch länger brauchte bisher nur der letzte der großen Briefwechsel Arno Schmidts, nämlich der mit dem Autor und Übersetzer Hans Wollschläger. In groben Umrissen konnte man ihn seit Guido Grafs Dissertation zum Thema kennen, die 1997 erschien – allerdings im kleinen Verlag Bangert und Metzler, der sich in erster Linie ohnehin an Schmidt-Enthusiasten richtet. Wer den Band las, dessen Erwartungen wurden eher noch gesteigert, denn Graf konzentrierte sich auf die Briefe im Kontext von Schmidts Werk, während Wollschläger für ihn eine Nebenrolle spielte.

Erst seit einigen Monaten liegt nun der komplette Briefwechsel vor, akribisch und umsichtig ediert von Giesbert Damaschke und ergänzt um zahlreiche weitere Dokumente. Wie bei Zettel’s Traum dürfte auch hier der schiere Umfang zum späten Erscheinen beitragen, denn der Band umfasst mit allen Addenda über 1.000 Seiten. Damit ist er deutlich länger als jeder andere Briefwechsel Schmidts, obwohl er nur etwa ein Jahrzehnt lang mit nennenswerter Intensität geführt wurde. Vielleicht spielt aber auch eine Rolle, dass man das große Konvolut nicht zu Wollschlägers Lebzeiten erscheinen lassen wollte, der erst 2007 starb.

Der Austausch der beiden Autoren beginnt 1957, als Wollschläger sich als freier Mitarbeiter des Bamberger Karl May Verlages (KMV) an Schmidt wendet. Dieser liegt mit Mays Nachlassverwaltern im Clinch und kritisiert deren universale Kontrolle über die Texte und möglichst auch die Rezeption des „Alten“, die aus Schmidts Sicht auf pure Hagiografie hinausläuft. Vor allem erregt er sich über die umfassenden „Bearbeitungen“ der Originaltexte, die Schmidt – philologisch korrekt – als Entstellungen ansieht. An Roland Schmid, einen der drei Gesellschafter des KMV schreibt er polemisch, aber korrekt: „Es mag Ihnen unangebracht=lächerlich erscheinen, wenn sich Germanisten und Philologen um Kommata und Textvarianten balgen: ohne solchen lobenswürdigen Eifer jedoch könnten wir heute wahrscheinlich Schiller und Edgar Wallace nicht mehr auseinanderhalten“ (Schmidt an Roland Schmid, 1. Juli 1956).

Zu einer heftigen Kritik Schmidts in der FAZ verfasst Wollschläger zunächst einen Gegentext, doch die Zeitung will ihn nicht drucken, sondern verweist ihn direkt an Schmidt. Damit beginnt ein intensives Gespräch, in dem es über hunderte Seiten hinweg zunächst um May und immer wieder um May geht. Beide kennen die Werke und ihre verschiedenen Ausgaben bis ins Detail, sodass die Lektüre für einen Nicht-Kenner von dieser Warte her unergiebig scheinen mag.

Viel wichtiger ist aber, was sich währenddessen ereignet: Schmidt und Wollschläger öffnen sich allmählich füreinander. Dabei wird deutlich, dass Wollschläger seinen Arbeitgebern mit ebenso großen Vorbehalten gegenübersteht wie Schmidt. Zwischen beiden entspinnt sich, was Graf eine „briefliche Interessen-, bisweilen auch Kampfgemeinschaft“ nennt. Wollschläger versorgt Schmidt mit Material und umfassenden Interna aus dem Bamberger Verlag, die Schmidts Eintreten für Mays ‚unterschätze‘ Spätwerke Im Reich des Silberlöwen und Ardistan und Dschinnistan ebenso zugutekommen wie seiner Studie Sitara und der Weg dorthin, in der er May anhand seiner Landschaftsschilderungen unterdrückte, aber starke homosexuelle Neigungen nachzuweisen sucht. Wie erwartet ist das Buch aus Sicht des KMV ein Affront, und Wollschläger beweist Mut, als er trotzdem für das Buch eintritt und sogar seine Kündigung anbietet. Die Unterstützung des Jüngeren geht so weit, dass beide neben der eigentlichen Korrespondenz noch eine „offizielle“ führen, die speziell für die potenziellen Mitleser im KMV gedacht ist – kein Wunder, da Wollschläger heimlich Dokumente im Verlag kopiert und per Post nach Bargfeld sendet, die Schmidt prompt in seine Polemiken einbaut und als Material tarnt, das ihm angeblich Leser aus der DDR zuspielen.

Nach und nach erweitert sich das Themenfeld zwischen Wollschläger und Schmidt auf Autoren wie den Romantiker Friedrich de la Motte-Fouqué, den Abenteuerschriftsteller Robert Kraft und James Joyces Bruder Stanislaus, dessen Erinnerungsbücher Schmidt übersetzt – und der Ältere tut, wozu er sonst fast nie bereit ist: Er unterstützt den jungen Wollschläger, der bei ihrem ersten Kontakt erst 22 Jahre alt ist, und ermutigt ihn zur Arbeit an seinem ersten und einzigen Roman. Schmidt tritt bei seinem damaligen Hausverlag Stahlberg in Karlsruhe ebenso unermüdlich für das Manuskript ein wie bei Rowohlt und Suhrkamp, jedoch vergebens. Erst 1982 wird Herzgewächse oder Der Fall Adams erscheinen. Viel erfolgreicher ist er bei der Vermittlung von Übersetzungsaufträgen, die Schmidt selbst nicht annahm. Das erste Buch ist ein Band des amerikanischen Volkskundlers Benjamin Albert Botkin, gefolgt von so renommierten Autoren wie James Baldwin, den beide allerdings gar nicht goutieren. Sogar die Option auf einen so prestigeträchtigen Titel wie Vladimir Nabokovs Pale Fire vermittelte Schmidt an den Jüngeren – allerdings auch, weil der Autor und seine Frau Vera dafür berüchtigt waren, ihren Übersetzern reinzureden (Schmidt an Wollschläger, 16. Juli 1963); genau an diesem Punkt scheitert dann auch Wollschläger. Selbst den Auftrag der Übersetzung von Joyces Ulysses, die 1975 erscheinen und Wollschläger großen Ruhm eintragen wird, nimmt er erst an, nachdem Schmidt die Möglichkeit für sich ablehnt: „Betrachten Sie mich also getrost als nicht vorhanden; […] Dafür, daß der ‚ODYSSEUS‘ endlich ma anständig übersetzt werde, hab ich ja schon vor 10 Jahren plädiert“ (Schmidt an Wollschläger, 20. Januar 1967). Bei einer großen vierbändigen Ausgabe der Werke von Edgar Allan Poe arbeiten beide Autoren dann sogar im selben Projekt, und auch das nur, weil Schmidt sich energisch für Wollschlägers Beteiligung einsetzt.

Doch obwohl sie zunehmend Kollegen werden, bleibt es beim Lehrer-Schüler-Verhältnis. Im Laufe der ersten Jahre gleicht Wollschläger seinen Schreibstil mehr und mehr demjenigen Schmidts an, was bis in die Interpunktion, die Orthografie und die zahlreichen Wortspiele hineinreicht. Selbst die Verlage werfen ihm bisweilen vor, „nur ein fingerfixer Plagiator“, eine „Arno Schmidt Nummer 2“ zu sein (Wollschläger an Schmidt, 6. Februar 1963). Letztlich bleibt das aber Episode. Konstant bleibt hingegen seine Anerkennung für Schmidt als (Über-)Autorität. Als Schmidt stirbt, ist es für ihn „ein Verlust […] wie der eines Vaters – eines großen und guten Vaters, den ich geliebt und verehrt habe wie niemanden sonst und der mein Leben und Schreiben begleitet hat bis heute, obwohl ich ihn seit elf Jahren nur noch in Gedanken sehen und zu mir sprechen hören konnte“ (Wollschläger an Alice Schmidt, 7. Juni 1979).

Elf Jahre? Ja, denn dass der Briefwechsel mit Wollschläger der einzige Schmidts ohne einen größeren Bruch ist, wie Guido Graf behauptete, stimmt nicht. Einen solchen Bruch gibt es sehr wohl – noch während der gemeinsamen Arbeit an der Poe-Ausgabe setzt eine allmähliche Entfremdung zwischen beiden Autoren ein, vor allem, als Schmidt sich mehr und mehr in die intensive und einsame Arbeit an Zettel’s Traum zurückzieht: „[H]offentlich tun Sie Ihrem ‚Leben‘ nicht mehr Schaden an, als anschließend wiedereinholbar ist – : was das heißt, Ihr ‚Seite 1200 und‘, ach, das kann ich mir zumindest vorstellen – : es verursachte mir, nachdem ich’s gelesen, einen sehr komplizierten Traum: der nicht schön war“ (Wollschläger an Schmidt, 16. November 1966). Bei einem letzten Besuch notieren beide Seiten ihre wechselseitige Entfremdung im Tagebuch und es fällt ihnen immer schwerer, überhaupt Kontakt miteinander aufzunehmen. In einem letzten, langen Brief nimmt Wollschläger förmlich Abschied, aber immer noch mit einer Haltung „der Liebe und des Mitlebens“ (Wollschläger an Schmidt, 22. November 1972). Noch danach treibt ihn der Gedanke um, ob es für ihn bei Schmidt und seiner Frau so etwas wie ein „Sündenregister“ mit allen Verfehlungen im Lauf der Jahre gebe, die er sich gegen seinen Willen zuschulden kommen lassen hätte.

Schmidt und Wollschläger treffen sich nach 1968 nicht wieder. Eine solche Begegnung ist gegen den Wunsch Schmidts, der seit der Arbeit an Zettel’s Traum noch weniger Besucher empfängt als zuvor. Dennoch  findet der Austausch so etwas wie ein versöhnliches Ende. Es kommt zum sporadischen, aber herzlichen Briefwechsel und nächtlichen Telefonaten zwischen Wollschläger und Alice Schmidt, die beide über den Tod ihres Mannes hinausreichen. Als die Stiftung kurz nach ihrer Gründung einen Arno-Schmidt-Preis aussetzt, ist Wollschläger der erste, der damit ausgezeichnet wird. In großer Dankbarkeit nimmt er ihn an, aber nicht ohne einen kritischen Blick auf die Beziehung zu seinem Mentor: „Es ist nicht einfach, im wie immer schützenden Schatten einer so großen Vorbildsgestalt zu leben – : sie blickt mir heute noch über die Schulter, so oft ich am Schreibtisch sitze, und meine Ängste sind groß“ (Wollschläger an Alice Schmidt, 16. Mai 1981). Alice Schmidt stirbt am 1. Juni 1983, einem Morgen, an dem sie gerade zu einer Reise zu Wollschläger und seiner Frau Monika nach Bamberg aufbrechen will.

Damaschkes Edition ist vorzüglich geraten. Dem eigentlichen Briefwechsel sind zahlreiche Dokumente beigegeben, die ihn noch genauer kontextualisieren: Schmidts vorhergehender brieflicher Streit mit dem Karl May Verlag, Besuchsprotokolle, Briefe Schmidts an verschiedene Verleger, die sein zähes Eintreten für Wollschläger zeigen, Schmidt-Rezensionen des Jüngeren, ein Glossar zu den unterschiedlichen May-Ausgaben, deren Diskussion einen Grundbass ihres Austauschs bildet. Manchmal wünschte man sich noch ausführlichere Kommentare zu den Briefstellen und ein ausführliches Nachwort. Dass dies unterbleibt, mag aber auch am Charakter der Bargfelder Ausgabe liegen, die sich an Liebhaber, Wissenschaftler und interessierte „Laien“ zugleich richtet.

Trotzdem werden wohl nur Spezialisten dieses Buch ganz lesen. Für sie ist es eine anregende Lektüre, auch weil Schmidt sich hier viel weiter öffnet als in anderen Teilen seiner Korrespondenz. Vor allem aber erlebt man die allmähliche Entfaltung des Schriftstellers Wollschläger, der im Vergleich mit Grafs Monografie erst hier zu seinem vollen Recht kommt und durch die zeitweilige Nachahmung seines Vorbilds zur eigenen Stimme findet. Wer mit dem entsprechenden Interesse an diese monumentale Edition herantritt, der liest ein anrührendes Buch. – Schmidts abschließendes Urteil über Wollschläger lautete: „Er braucht mich jetzt nicht mehr.“ Das war wohl ein Irrtum, jedenfalls von diesen Briefen aus gesehen.

Titelbild

Arno Schmidt: Briefe IV: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
1034 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783518802403

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