Wenn die Heimat zur Fremde wird

Ein materialreicher Katalog ergänzt die neue Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt

Von Irmela von der LüheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmela von der Lühe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Gründungsjahr der Bundesrepublik,1949, entstand in Frankfurt am Main als eigene Abteilung der damaligen „Deutschen Bibliothek“ das Deutsche Exilarchiv 1933–1945. Die Initiative zum systematischen Aufbau einer Bibliothek der Emigrationsliteratur war – kaum überraschend – von emigrierten Schriftstellern und Publizisten ausgegangen. So entstand  gleichsam die institutionelle Entsprechung und systematische Erweiterung zu den ersten bibliografisch-literaturgeschichtlichen Darstellungen der Literatur des deutschsprachigen Exils: Noch im Exil hatte Walter Berendsohn (1884–1984) mit der Arbeit an Die humanistische Front (1946) begonnen; 1947 folgte, herausgegeben von Richard Drews und Alfred Kantorowicz, der kurze Abriss Verboten und Verbrannt. Deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt und 1948 schließlich F.C. Weiskopfs (1900–1955) Unter fremden Himmeln.

In Frankfurt sollte das deutschsprachige Exil nicht nur bibliothekarisch, sondern vor allem archivalisch eine Heimstätte finden. Nachlässe von bekannten oder weniger bekannten Emigranten, von Frauen und Männern aus Wissenschaft, Politik und Kultur, aber vielfach eben auch von „kleinen Leuten“ wurden und werden in Frankfurt gesammelt, archiviert, für die wissenschaftliche Forschung und eine interessierte Öffentlichkeit bereitgestellt. Zu den Personennachlässen kamen und kommen die Nachlässe von Institutionen (vor allem der American Guild for German Cultural Freedom, einer Hilfsorganisation für verfolgte Schriftstellerinnen und Autoren mit weitreichender Wirkung, und das ERC, das Emergency Rescue Committee, dem die Rettung von annähernd 2000 Emigranten aus Südfrankreich zu danken ist) sowie museale Objekte. Das „Deutsche Exilarchiv“ in Frankfurt ist seit Jahrzehnten eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Anlaufstelle für Wissenschaftlerinnen und Forscher, die zum deutschsprachigen Exil arbeiten; und zugleich ist es ein Ort, der mit seinem speziellen Thema, dem Exil, in die Gegenwart hineinwirken, der historische Orientierung und aktuelle Erfahrung vermitteln möchte.

Dem Empfinden vieler Emigrantinnen und Emigranten, dass selbst im Falle einer Rückkehr die Zäsur des Exils existenziell und mental fortwirkt, dieser häufig beschriebenen und vielfältig dokumentierten Erfahrung gibt das Deutsche Exilarchiv einen Raum; es konserviert nicht einfach nur, es aktualisiert; es bewahrt auf, um für die Gegenwart durch Texte und Bilder, Zeitschriften und Briefe eine individuell zwar je singuläre, aber doch epochentypische Ausnahmesituation erfahrbar zu machen. Was in tausenden von Regalmetern archiviert und nur für Expertinnen und Experten nachvollziehbar ist, das hat das Deutsche Exilarchiv im Frühjahr 2018 mit einer großen Ausstellung einem breiten Publikum zugänglich und höchst eindrucksvoll anschaulich gemacht. Auf 800 qm werden unter dem Titel „Exil. Erfahrung und Zeugnis“ 250 Exponate und 300 Exilpublikationen präsentiert, gegliedert in drei große Kapitel: „Auf der Flucht“, „Im Exil“ und „Nach dem Exil“. So lakonisch eine solche Gliederung auch anmuten mag, so sachhaltig und sinnvoll ist sie. Denn nach Erfahrungen und Zeugnissen für Kontexte und Umstände der Flucht, nach je individuellen Lebensbedingungen und existenziell-beruflichen Besonderheiten und schließlich nach den Folgen einer Zäsur, die auch durch die Rückkehr nicht aufgehoben werden würde, wird in diesen drei großen Abschnitten detailgenau, beispielhaft und behutsam verallgemeinernd gefragt.

Von der Vielzahl und der je nach Herkunft und Status, Person und Beruf, Mentalität und politischer Einstellung enormen Verschiedenheit individueller Exilerfahrungen versucht nun auch der Katalog zur Ausstellung eine Vorstellung zu vermitteln. Wiederum waren Auswahl und repräsentative Kürzungen verlangt: Das Ergebnis ist ein nachgerade bibliophil gestalteter Bild- und Textband, der 75 Exponate und acht Biographien exilierter Frauen und Männer präsentiert und vom Charakter der großen neuen Ausstellung auch demjenigen einen Eindruck zu vermitteln vermag, der sie (noch) nicht hat sehen können. Gelegentlich mag sich wohl angesichts seines sorgfältig faksimilierten Bilderreichtums und der ansprechend-lesefreundlichen Materialpräsentation dieses fast beschämend schön gestalteten Katalogs ein wenig Irritation einstellen; als lasse sich vom „Herzasthma des Exils“ (Thomas Mann) mit den Mitteln moderner Ausstellungskunst und buchgestalterischer Professionalität nicht nur ein authentisches, sondern ein nachgerade ästhetisches Erlebnis vermitteln.

Freilich korrigiert die quellen- und problemorientierte Anlage des Katalogs einen solchen Eindruck dann auch wieder. Einprägsam werden in den Innendeckeln auf einer Weltkarte die Kontinente und Länder mit ihren jeweiligen Aufnahme- beziehungsweise Emigrationszahlen präsentiert: Ungefähr 20.000 Flüchtlinge aus Deutschland fanden in der Schweiz, 100.000 in Frankreich, zwischen 50.000 und 80.000 in England Zuflucht. Die USA nahmen bis zu 140.000 Exilanten und Exilantinnen auf, Argentinien 40.000, zwischen 18.000 und 20.000 Personen flüchteten nach Shanghai. Insgesamt eine halbe Million Menschen wurde durch das nationalsozialistische Regime seit 1933 außer Landes getrieben, darunter fast die gesamte künstlerische, wissenschaftliche und intellektuelle Elite der Weimarer Republik. Für heutige Verhältnisse, da man sich an das ständig aktualisierte Zahlenwerk der UNHCR mit Angaben zwischen 60 und 70 Millionen Flüchtlinge weltweit zu gewöhnen beginnt, mag das harmlos klingen. Für die Zeitgenossen und auch für die europäischen Regierungen allerdings waren die Zahlen alarmierend; nicht minder der Umstand, dass ein Regime binnen Kurzem den Exodus fast seiner gesamten Elite verursacht hatte. 

Auch davon gewinnt einen Eindruck, wer die reproduzierten Pässe und Visa, die privaten Fotos und Abbildungen von Objekten – darunter gleichsam leitmotivisch der Koffer mit Manuskripten des Schriftstellers Walter Meckauer – betrachtet und die lebensgeschichtlichen Erzählungen liest, die der Katalog bietet. Er liefert überdies eine Topografie des Exils, veranschaulicht Fluchtwege und Emigrationsbedingungen. Nicht selten waren die aus dem nationalsozialistischen Deutschland zunächst in die angrenzenden Länder (in die Schweiz und nach Österreich, in die Niederlande und nach Frankreich, nach Belgien und in die Tschechoslowakei) geflohenen Emigranten seit 1938 ins nächste Exilland und mit Beginn des Zweiten Weltkriegs sodann nach Übersee, in die USA und nach Lateinamerika, nach Australien und Shanghai getrieben worden. Welche besondere Bedeutung der Türkei, aber auch der Sowjetunion und Palästina als Exilland zukam, und welche jeweils typischen Erfahrungen mit Aufnahmequoten und Arbeitsgenehmigungen, mit dem Gebot politischer Zuverlässigkeit (SU) oder dem Zwang zum Ausgleich regional ohnehin konfliktträchtiger Konstellationen (Juden und Araber in Palästina) verbunden waren, das wissen Kenner und Expertinnen. Der Katalog illustriert und visualisiert es am Beispiel von acht Biografien (darunter bekannte Persönlichkeiten wie Margarete Buber-Neumann, Ernst Loewy oder Hubertus Prinz zu Löwenstein, aber auch weniger bekannte wie Clementine Zernick, Frederick R. Eirich oder Stefanie Zweig), deren Lebens- und Berufsweg vor, während und auch nach dem Exil auf ausklappbaren Sonderseiten beschrieben wird, ergänzt um private Fotos, Abbildungen von Gegenständen aus dem Nachlass und – für alle am Thema Interessierten besonders aufschlussreich – um eine genaue Beschreibung von Umfang und Bestand der im Archiv verwahrten Nachlässe. Ein Personenglossar beschließt den Band, der damit viel mehr ist als ein bloßer Katalog. Ein  kleines, aber repräsentatives Nachschlagewerk ist entstanden, das Einblick gewährt in die vergangenheitsbewahrenden und doch so  gegenwartsbezogenen Anstrengungen des Deutschen Exilarchivs: die Sammlung und Archivierung seiner sich fortlaufend erweiternden Bestände mit einer publikumsnahen Aufbereitung und öffentlichen Präsentation zu verknüpfen.

Sylvia Asmus, Leiterin des Deutschen Exilarchivs, erläutert dies in ihren Ausführungen zur Entstehung und Konzeption von Ausstellung und Katalog, während der Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici (geb.1961) mit einem einleitenden Essay Vom Versagen der Heimat die historische und zugleich die genuin literarische Rahmung liefert. Rabinovici beschreibt unter anderem am Beispiel des von den Nationalsozialisten entführten und 1944 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin verstorbenen Journalisten Berthold Jakob Beharrlichkeit und Brutalität eines Regimes, das die ‚Reinigung‘ und ‚Erneuerung‘ Deutschlands auf seine Fahnen geschrieben hatte. Die Umstände und Folgen, in die eine nicht nur fremd, sondern zum Feind gewordene Heimat die Exilierten trieb, wurden denn auch seit 1933 und bis in die frühen 1950er Jahre hinein zum Thema einer deutschsprachigen Emigrantenliteratur, die aufklären und dokumentieren, berichten und agitieren, erzählen und erklären wollte. Bertolt Brechts berühmtes Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten (1937) nimmt Rabinovici zum Anlass, über jene „Heimsuchung“ nachzudenken, von der auch Hannah Arendt in ihrem Essay Wir Flüchtlinge (1943) und Jean Améry in Wieviel Heimat braucht der Mensch (1966) sprechen.

Jüdische und nichtjüdische Autoren erwähnt Rabinovici (Leo Perutz, Stefan Zweig, E. M. Remarque) und charakterisiert dabei das Exil als eine „Heimsuchung“, die Heimatverlust und Heimatsehnsucht, Entsetzen und Zorn, aber stets auch widerständige Visionen ausgelöst hat. Denn die Emigrantenliteratur, die seit 1949 im Deutschen Exilarchiv systematisch gesammelt wurde, galt der Selbstbehauptung und dem Versuch eines literarischen und publizistischen Widerstands gegen die staatlich exekutierte Entwurzelung. Von Anliegen und Wirkungsabsichten dieser Literatur spricht Rabinovici ganz bewusst als heutiger Leser, dem die Wiederbegegnung mit exilierter Literatur die Augen öffnet für eine Gegenwart, die es schon einmal gab. Er liest in den Werken der genannten Autorinnen und Autoren, „wie schnell Parlamentarismus und Rechtsstaat in Gefahr geraten können“; er liest von Versuchen, gegen den Impuls des Schweigens anzuschreiben, er liest vom „Gestank der Angst“, und er sieht in den Zeugnissen des Exils „eine Flaschenpost, die uns von weit abgelegenen Orten über alle Gezeiten hinweg erreicht“. Auf je eigene Weise repräsentieren Ausstellung und Katalog auch den abschließenden Gedanken Rabinovicis, dass das „Exil als Bastion für ein neues und freies Europa“ und damit als „Vermächtnis der Vertriebenen“ verstanden werden müsse.

Titelbild

Sylvia Asmus (Hg.): Exil. Erfahrung und Zeugnis. Deutsches Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
231 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835334830

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