Neugierige Verfolgungsjagden

Der Band „Aus Neugier und Leidenschaft“ versammelt Essays, Kritiken und andere Gelegenheitsarbeiten Margaret Atwoods

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage „Was wäre, wenn …?“ steht am Beginn vieler Romane, vor allem natürlich, wenn es sich um utopische oder dystopische Entwürfe handelt. Auch Margaret Atwood, die letztjährige Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels stellte sie, als sie in den frühen 1980er Jahren mit der Arbeit an ihrem Roman Der Report der Magd begann: Was wäre, wenn man aus den USA eine Diktatur machen wollte? Wie sähe eine solche aus?

Die Antwort, die die kanadische Autorin seinerzeit fand, eine bizarre Form puritanischen Paternalismus, in der Frauen die Rolle von Gebärmaschinen zukommt, mag vom Zustand der heutigen USA noch weit entfernt sein. Dennoch erscheint Atwoods großer Roman aus dem Jahr 1985 heute aktueller denn je und erfuhr letztes Jahr mit The Handmaid’s Tale (2017) eine mit dem Golden Globe prämierte Serienadaption – pünktlich zur Wahl Donald Trumps und 27 Jahre nach der Verfilmung durch Volker Schlöndorff (Die Geschichte der Dienerin, 1990). Später verriet Margaret Atwood in dem Essay Wie Utopia entstand, dass große Teile ihres Romans seinerzeit in West-Berlin entstanden waren; Abstecher in die DDR, nach Polen oder in die Tschechoslowakei lieferten ihr Anschauungsmaterial für das, was allen totalitären Regimen gemeinsam ist.

Nachlesen kann man Atwoods Werkstatt-Bericht aus dem Jahr 1989 nun in Aus Neugier und Leidenschaft, einem über 400 Seiten starken „Mischmasch aus Gelegenheitswerken“, so die heute 78-jährige Autorin. Der Band enthält Essays, Reden, Vorlesungen, Literatur- und Filmkritiken, autobiografische Texte und Nachrufe auf Schriftstellerkollegen und -kolleginnen aus fünf Jahrzehnten. Ursprünglich erschienen diese Texte, unter ihnen auch Atwoods berühmter Brief an Amerika aus dem Jahr 2003, in Medien wie der New York Times, der Washington Post, der New York Review of Books oder der Times.

Immer wenn ich das Gefühl habe, allmählich zu Jekyll-und-Schreib oder zu Gedankenstein zu werden und des Nachts auszuziehen und über arglose Leser herzufallen oder wie eine von Draculas Brautorinnen, im Keller angekettet, Fliegen zu fressen, zum ewigen Kritzeln verdammt – immer wenn ich gerade beschlossen habe, weniger zu schreiben und lieber etwas für meine Gesundheit zu tun, zum Beispiel Eistanz, ruft unweigerlich ein Redakteur an und macht mir mit zuckersüßer Stimme ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann. Dieses Buch ist gewissermaßen das Ergebnis meiner unterentwickelten Fähigkeit, Nein zu sagen.

Wie sehr sich gerade die junge Margaret Atwood in den 1970er Jahren dafür engagierte, die damals noch umstrittene kanadische Literatur bei Publikum und Kritik in ihrem Heimatland durchzusetzen, während es für die kulturellen Eliten Kanadas doch noch als ausgemacht galt, „dass erstklassige Literatur aus dem Ausland importiert werden musste“, ist für den deutschen Leser dabei wohl von eher untergeordnetem Interesse. Spannender ist da schon Atwoods frühes Plädoyer für Umweltschutz oder das Gärtnern, eine aus der Kinderzeit während der Kriegsjahre stammende Leidenschaft (Victory Gardens – Gärtnern für den Sieg), die sich später unter anderem in ihrem Zukunftsroman Das Jahr der Flut (2009) niederschlug.

Unbedingt lesenswert sind aber vor allem Atwoods Vorlesungen und Essays zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik, etwa zur Konstruktion glaubhaft differenzierter, gerne auch „böser“ Frauenfiguren – jenseits patriarchaler Klischees oder „feministischer Propagandaromane“ (Übeltäterinnen mit befleckten Händen: Von der Schwierigkeit, über böse Frauen zu schreiben). Denn schließlich: „Sollten nur Männer die interessanten Rollen bekommen? Literatur kommt nicht ohne das Böse aus, aber war böse zu sein ausschließlich Männern vorbehalten?“

Atwoods herrlich sarkastisch-ironische Ausführungen zu dieser Problematik wie auch zu ihren Männerfiguren dürften im angelsächsischen Literaturbetrieb erhebliches Provokationspotenzial besessen haben – sind aber auch in unseren „Me too“-Zeiten nachlesenswert. Schließlich bekam die Autorin regelmäßig zu hören, den Männerfiguren in ihren Romanen mangle es an „Vorbildhaftigkeit“, seien sie doch entweder Monster oder Weicheier. Ein Einwand, von dem Atwood wohl zu Recht behauptet, dass ihn männliche Autoren über ihre Figuren eher selten zu hören bekommen.

Romane, hält die Schriftstellerin ironisch dagegen, sollten doch wohl die Realität widerspiegeln, woraus der Leser beziehungsweise die Leserin schließen könne,

dass das weniger empfehlenswerte Betragen männlicher Figuren in gewissen von Frauen geschriebenen Romanen nicht notwendigerweise von einem verqueren Blick auf das andere Geschlecht seitens der Autorinnen herrühren muss. Könnte es vielleicht sein … ich sage das zögernd, im Flüsterton, da ich wie die meisten Frauen schon beim Gedanken daran zusammenzucke, als, ich will es gar nicht aussprechen, als Männerhasserin zu gelten … könnte es sein, dass das Betragen mancher Männer in dem, was wir landläufig als richtiges Leben betrachten … könnte es sein, dass nicht jeder Mann sich jederzeit tadellos benimmt? Könnte es sein, dass der eine oder andere Kaiser gar nichts anhat?

Im englischsprachigen Original heißt Atwoods Essaysammlung übrigens Curious Pursuits, neugierige Verfolgungsjagden. Der Titel der deutschen Ausgabe erscheint insofern treffender, als „Leidenschaft und Neugier“ tatsächlich hervorstechende Merkmale der hier versammelten Texte sind. Nichts illustriert gerade Atwoods Neugier besser als ihr Bericht, wie sie einmal eine Burka trug. In Zeiten, in denen sich westliche Gesellschaften schon von Kopftüchern in Angst und Schrecken setzen lassen und sich angesichts zahlloser Selbstversuchs-Reportagen die Vermutung aufdrängt, dass es sich bei den meisten Burkaträgerinnen in deutschen Innenstädten um Nachwuchsjournalistinnen handeln dürften, mag das an sich wenig spektakulär klingen.

Margaret Atwood aber kaufte sich die Burka bereits 1978 auf einem Markt in Kabul, als sie auf dem Weg nach Australien einen Zwischenstopp in Afghanistan einlegte, noch vor dem Einmarsch der Sowjetunion (Als in Afghanistan noch Frieden war):

Eine fröhliche Männermenge sammelte sich an und schaute vergnügt dabei zu, wie eine Frau aus dem Westen einen so nichtwestlichen Artikel für sich aussuchte. Sie gaben Tipps zu Farbe und Qualität. Lila war besser als Hellgrün oder Blau, meinten sie. (Ich kaufte die lilafarbene.) Jeder Schriftsteller wünscht sich eine Tarnkappe – die Fähigkeit zu sehen, ohne gesehen zu werden –, so etwas in der Art dachte ich, als ich die Burka überzog. Doch sobald ich sie anhatte, überkam mich das seltsame Gefühl, ich sei Negativraum geworden, eine visuelle Leerstelle, eine Art Antimaterie – zugleich da und nicht da. Solch ein Raum hat eine gewisse Macht, aber es ist eine passive Macht, die Macht des Tabus.

Auch diese Erfahrung sei später übrigens, so die Autorin weiter, in ihren Roman Der Report der Magd eingegangen.

Sind viele ihrer Essays in einem wunderbar sarkastischen und polemisch-bösen Ton geschrieben, so ihre Buchbesprechungen, etwa zu Werken von Anne Sexton, John Updike oder Toni Morrison, eher leidenschaftlich und persönlich. Humor und Selbstironie prägen dagegen die eher autobiografischen Beiträge, beispielsweise den Bericht über die Fahrt auf einem Schiff in der Arktis, auf den Spuren der Franklin-Expedition. Schon kurz nach Beginn der Reise zeigte die Autorin Symptome einer rätselhaften Erkrankung, und in ihrer Fantasie hatte sie das ganze Schiff mit einem tödlichen Virus angesteckt (Nach Beechey Island). Tröstlich erschien ihr in ihrem Zustand jedoch der Gedanke, dass selbst „im schlimmsten Fall […] man mich wenigstens nicht im Permafrostboden beerdigt (hätte). Man hätte mich an Bord in die Gefriertruhe gelegt, die nur für diesen speziellen Zweck vorgesehen ist, damit man die Leichen nicht mit dem Boeuf Stroganoff verwechselt.“ Was für ein Glück für die Literatur, dass die Truhe leer blieb!

Titelbild

Margaret Atwood: Aus Neugier und Leidenschaft. Gesammelte Essays.
Übersetzt aus dem Englischen von Christiane Buchner, Claudia Max und Ina Pfitzer.
Berlin Verlag, Berlin 2017.
478 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783827006660

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