Wider die Nicht-Orte

Ethnologie des Nahen: Der Anthropologe Marc Augé widmet sich mit dem Fahrrad und dem Bistro Formen des Widerstands gegen die sich verbreitenden Nicht-Orte

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben das Fahrrad und das Bistro Pariser Provenienz gemeinsam? Vorläufige Antwort: Beides sind die neuesten Gegenstände, denen sich Marc Augé widmet. Der französische Anthropologe, 1935 in Poitiers geboren, gilt als Begründer einer Ethnologie des Nahen; bekannt wurde Augé vor allem durch seine Theorie der Nicht-Orte (Non-Lieux, 1992). Diese stellt auch den Hintergrund seiner jüngsten Arbeiten dar, zwei hochsympathische 100-Seiten-Büchlein, deren deutsche Ausgaben in den Verlagen C. H. Beck beziehungsweise Matthes & Seitz erschienen sind.

Nicht-Orte – das sind für Marc Augé jene geschichts- und gesichtslosen Funktionsorte, die heute mehr und mehr das urbane Leben bestimmen: Hotel- oder Imbissketten, Einkaufszentren, Parkhäuser, Warteräume. Aber natürlich ebenso die Durchgangslager und Heime, in denen Flüchtlinge kaserniert werden. Orte, die den Menschen auf einen transitorischen Zustand der Unbehaustheit und Anonymität reduzieren. Auch moderne Verkehrsmittel wie Flugzeug oder Bahn fallen für Augé darunter. Qua Beschleunigung lassen diese beweglichen Behausungen den Raum schrumpfen und verwandeln dabei den potenziell weltoffenen, neugierigen Reisenden in einen Passagier, der schnellstmöglich und voll klimatisiert zu seinem Ziel transportiert wird.

Das Fahrrad – das übrigens im kommenden Jahr seinen 200. Geburtstag feiert, entwickelte doch Karl Drais 1817 dessen Urform, die „Draisine“ – ist natürlich weder ein Ort noch ein Nicht-Ort. Wohl aber ein Fortbewegungsmittel, und zwar, so Augé, das „menschlichste“ von allen, weil es die Fahrer Sonne und Wind im Gesicht spüren lässt und ihnen helfen kann, „sich ihrer selbst und der Orte, an denen sie leben, bewusst zu werden.“ Wer radelt, genieße die Leichtigkeit, mit der er sich, allein aus eigener Kraft, den Raum erobert, ob in der Stadt oder auf dem Land.

Der erste Tritt in die Pedale ist der Beginn einer neuen Autonomie, er ist ein schöner Ausreißversuch, die spürbare Freiheit, die Bewegung der Fußspitze, wenn die Maschine auf das Verlangen des Körpers reagiert und ihm gleichsam vorauseilt. Innerhalb weniger Sekunden befreit sich der begrenzte Horizont und die Landschaft gerät in Bewegung. Ich bin anderswo. Ich bin ein anderer; und dennoch bin ich so sehr ich selbst wie sonst niemals; ich bin, was ich entdecke.

Typischerweise, so Augé, verlerne man das Radfahren so wenig wie das Schwimmen; beide Fähigkeiten wurzelten bei jedem tief in der eigenen Biografie. Man denke nur an jenen magischen Moment, als man erstmals ohne fremde Hilfe, noch um sein Gleichgewicht kämpfend, losfuhr. Daher ist Augés Lob des Fahrrads, mit zwölf zauberhaften Zeichnungen Philip Waechters illustriert, zum Teil auch ein autobiografischer Text. Und ebenso ein kulturhistorischer, ist doch der Ausgangspunkt des Anthropologen die Nachkriegszeit: Damals wurde Frankreich von einem regelrechten Fahrradkult ergriffen. Das eigene Rad war für viele ebenso sehr unverzichtbares Hilfsmittel wie Symbol der Träume und Fluchten, Filme wie Fahrraddiebe (1948) oder Tatis Schützenfest (1949) wurden Kinohits und die Tour de France brachte Volkshelden wie Fausto Coppi hervor, lange bevor der Radsport zu einem dopingverseuchten Zirkusspektakel degenerierte.

In den 60er- und 70er- Jahren dagegen wurzeln Augés erste Begegnungen mit einer französischen Institution par excellence: dem Pariser Bistro. Galt es im Elternhaus im Quartier Latin noch als anrüchig, unter der Woche eines dieser Cafés zu besuchen, so wurden für den Studenten Bistros zur „natürlichen Verlängerung des Seminars“, Orte, an denen er Zeuge wurde, wie sich Jean-Paul Sartre, Jean Hyppolite und Louis Althusser zuprosteten oder sich Simone de Beauvoir Studenten vorstellen ließ.

Womit das Stichwort gefallen wäre: Ort. Aber: Sind nicht auch Bistros Funktionsorte, die man nur für kurze Zeit aufsucht und an denen man letztlich anonym bleibt? Was macht ein Bistro zum Ort, eine Imbissfiliale zum Nicht-Ort? Gewiss nicht der Tresen, auch wenn Augé ihn als wichtigstes Einrichtungselement eines Bistros identifiziert. Sondern offenkundig das vom Ethnologen einfühlsam analysierte bistrotypische Changieren zwischen An- und Abwesenheit, Distanz und Vertrautheit, das der Gast erlebt – angefangen mit der Beziehung zum Wirt, der, das Geschirrtuch wie ein Ehrenzeichen über der Schulter, seinen Gast morgens mit einem „Wie geht’s? Heute gut in Form?“ begrüßt und ihm den Croissant-Korb zuschiebt. So wird für Augé sein Stammbistro zu einem „Ort des Übergangs“, „eine Art Treppenabsatz außerhalb des eigenen Domizils […] Ich bin noch nicht zuhause, aber auch noch nicht unterwegs.“

Was haben also das Fahrrad und das Bistro gemeinsam? Für Marc Augé sind beides höchst lebendige Formen des Widerstands gegen die an Nicht-Orten absolvierten sozialen Schrumpfformen. So ist das Überraschendste seiner beiden Elogen, dass sie eher utopisch als melancholisch sind. Augés Lob des Fahrrads endet sogar in einer berückenden Zukunftsvorstellung: den Ausbruch einer „Fahrradrevolution“ („Vélo liberté“), die nach und nach alle Großstädte erfasst, ihren Bewohnern ungeahnte Lebensqualitäten beschert und verblüffende Folgen im sozialen, ökonomischen, städtebaulichen oder politischen Bereich zeitigt. Und im sprachlichen: So könnte, spekuliert Augé, das Tandem zum neuen Sinnbild für die Solidarität eines Paares werden und „gemeinsam in die Pedale treten“ zur stehenden Wendung für die Liebe.

Titelbild

Marc Augé: Das Pariser Bistro. Eine Liebeserklärung.
Übersetzt aus dem Französischen von Felix Kurz.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin – Prenzlauer Berg 2016.
160 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783957572615

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Titelbild

Marc Augé: Lob des Fahrrads.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Bischoff.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
104 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406690280

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