Vielschichtige Familientragödie vor dem Hintergrund großer Weltgeschichte

Marco Balzano schildert in „Ich bleibe hier“ spannend und unsentimental den Untergang eines Südtiroler Dorfes

Von Barbara TumfartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Tumfart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder, der über den Reschenpass fährt, bemerkt inmitten des Reschensees den oberen Teil des Kirchturms von Graun. Das Dorf und die etwa 150 dort ansässigen Familien mussten dem italienischen Großprojekt eines Staudammes weichen. Im Sommer 1950 wurden dessen Schleusen geöffnet, das Dorf geflutet und nur der Kirchturm ragt noch als Mahnmal aus dem Wasser heraus.

Vor diesem historischen Hintergrund spannt Marco Balzano, gebürtiger Mailänder, einen großen Erzählbogen über die wechselvolle und tragische Geschichte Südtirols. Im Mittelpunkt steht Trina, die im Bauerndorf Graun geboren wurde, in einer Region, die bis 1918 noch zu Österreich gehörte und in der niemand Italienisch spricht. Trina, überzeugt von der Mächtigkeit der Sprache und abgestoßen von dem harten bäuerlichen Lebensalltag, lernt heimlich und ohne Wissen der Eltern Italienisch, um später Lehrerin werden zu können. Doch die Weltgeschichte zerstört den Berufswunsch. Nach der Annexion Südtirols durch Italien nach dem Ersten Weltkrieg darf nur noch Italienisch gesprochen werden und Trina erhält als Südtirolerin ein Berufsverbot. Doch die Südtiroler fügen sich dem martialischen Druck Italiens nicht, sie sprechen weiterhin Deutsch und Trina und ihre Freundinnen organisieren heimlich und illegal Deutschunterricht für die Kinder.

Als 1939 das Hitler-Mussolini-Abkommen getroffen wird, stehen die Dorfbewohner erneut vor einer Zerreißprobe. Hitler-Deutschland wirbt offen um die sogenannten „Optanten“, also freiwillige Rückkehrer ins Deutsche Reich. Viele nehmen dieses vermeintlich lockende Angebot an und machen sich auf den Weg „Heim ins Reich“. Trina, inzwischen mit dem schweigsamen, arbeitssamen Erich verheiratet und Mutter zweier Kinder entscheidet sich aber, in Graun zu bleiben. Tochter Marcia verschwindet allerdings heimlich eines Nachts mit Verwandten, die sich nach Deutschland absetzen, ohne ein Wort des Abschieds oder der Erklärung. Ein Verlust, den die Eltern nie überwinden werden. Erich stürzt sich in die Arbeit und ist ganz besessen von der Idee, den Bau des Staudammes zu boykottieren. Trina schreibt verbitterte und schmerzerfüllte Briefe an die verschwundene Tochter, die sie aber nie abschicken wird. In ihren Erzählungen finden sich chronikartige Berichte über all die Entbehrungen während der Kriegszeit, über den harten Kampf ums bloße Überleben und Einblicke in die schwierige Zeit des entbehrungsreichen Wiederaufbaus nach dem Kriegsende. Doch auch dann ist der Kampf nicht vorbei. Der Staudamm wird nun zum neunen Prestigeprojekt der italienischen Regierung und unter einem immensen Großaufgebot an Arbeitskraft und Geld fertiggestellt. Absichtlich lässt man hierbei die Bewohner in Unkenntnis der genauen Pläne und versucht sie mit angeblichen Entschädigungszahlungen zu ködern. Selbst die kirchlichen Obrigkeiten sehen sich der Politik und ihren wirtschaftlichen Interessen machtlos gegenüber. Was letztendlich bleibt, ist ein Kirchturm der mitten aus dem See herausragt und eine Infotafel, die die vorbeikommenden Touristen von Geschehnissen in groben Zügen zu informieren versucht.

Die individuellen Schicksale dahinter sind nun auf packende Weise und in einer schnörkellosen Sprache literarisch aufbereitet worden und gewähren einen besonders lesenswerten Einblick aus der Sicht der Einheimischen in die wechselvolle Geschichte eines kleinen Dorfes in Südtirol, welches zunichte gemacht wurde.

Titelbild

Marco Balzano: Ich bleibe hier.
Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug.
Diogenes Verlag, Zürich 2020.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071214

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch