Die letzte Reise

Zsuzsa Bánk arbeitet mit „Sterben im Sommer“ den Verlust ihres Vaters auf

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon Epikur wusste: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“ (Brief an Menoikeus) Wie ist aber mit ihm umzugehen, wenn wir mit dem Absehbaren und Unausweichlichen als Hinterbliebene plötzlich konfrontiert werden? Wie verändert er unsere Wahrnehmung des eigenen bisherigen und zukünftigen Lebens? Dass der Tod uns mitnimmt, denn „jedes Ende ist grausam“, musste auch die Autorin Zsuzsa Bánk anlässlich des Todes ihres Vaters erfahren. Sie hat ihre Erlebnisse, Einsichten und Gedanken in einem sehr persönlichen Buch beschrieben.

Bánks langen und schmerzhaften Abschied vom Vater läutet dessen Krebsdiagnose ein. Sie lässt sie ein letztes Mal gemeinsam an den geliebten Balaton reisen, in Bánks „Kabinett der Erinnerung“, ihr privates „Heimatmuseum“, ihre „Ungarnsommer-Gedenkstätte“. Die Eltern hatten dem Heimatland im Jahr des Ungarischen Aufstandes 1956 unabhängig voneinander den Rücken gekehrt und sich in Österreich in der Schlange der Geflüchteten kennengelernt. Für die Tochter, neun Jahre nach der Migration der Eltern, in Frankfurt am Main geboren und aufgewachsen, ist Ungarn Vaters Land, ein Sommerbesuchsland, deswegen auch ein „Staubland, Fliegenland, Hitzeland“.

Doch die Reise ins Herkunftsland des Vaters wird ein „Reigen aus Furcht und Anspannung“. Die unheilbare Krankheit schreitet nicht nur unaufhaltsam voran, sondern bewirkt durch eine schlagartige Verschlechterung des Gesamtzustandes des Patienten, dass er nach Aufenthalten in einem slowakischen und einem österreichischen Krankenhaus endgültig in eine Klinik in seine Wahlheimat bei Frankfurt am Main gebracht werden muss. „Irgendwann ist der Tod deutlicher als das Leben, […] das Leben weicht dem Tod“. Dort, in Höchst, findet ein wunderbar erfülltes Leben sein Ende.

Was hier knapp erzählt seine Zusammenfassung findet, wird im Buch in zahlreichen kurzen Textpassagen, deren Länge selten drei bis fünf Seiten übersteigt, geschildert. Man lernt die ungarische Restfamilie, die (auch sprachliche) Bindung an das Heimatland der Eltern, dessen Bräuche und Sitten kennen. Die Leserschaft ist stiller Beobachter bei all den kleinen und großen Notwendigkeiten, die das Lebensende mit sich bringt: die Pflegestufen und -dienste, eine Vollmacht, die Entscheidung für oder gegen eine Chemotherapie sowie ein Hospiz, das ständige Sich-Fügen gegenüber dem Krankenhauspersonal, die Suche nach der letzten Ruhestätte, die Entscheidung gegen ein Grab im Ausland. Es gilt, ein Leben bürokratisch abzuwickeln, alles auf-, ab-, weg- und auszuräumen, in den Tagen der Trauer, des Weinens. Und immer wieder scheint es, keiner habe geahnt, dass es so käme.

Den Vater, einen Sonnen- und Hitzemenschen, hat die Autorin ausschließlich in bester Erinnerung und sie kämpft bis zuletzt um jede Minute Gemeinsamkeit. Dass er als Kind eines Bahnbeamten aufgewachsen ist, prägte seinen Charakter, „Beweglichkeit, Schnelligkeit, Sprungbereitschaft“ gehörten ebenso dazu wie die Freude, „Länder zu sammeln, Sprachen, Landschaften, Gesichter“. Vater-Tochter-Konflikte scheint es nie gegeben zu haben oder sind der aktuellen Situation zum Opfer gefallen, obwohl die von der Krankheit aufoktroyierte Unbeweglichkeit den Vater nicht nur körperlich an seine Grenzen bringt.

Bánk erzählt weniger die Geschichte eines Lebens, als die eines Sterbens. Noch mehr erzählt sie aber ihre eigene Geschichte: Es geht um die allerletzte Rolle der Tochter, die Begleitung des Vaters in seinen letzten Tagen. Die Nostalgiereise mit ihm fiel aus, aber Bánk erinnert sich während der vielen Wartezeiten und Krankenbesuche an die Kindheit in Höchst, den Migrantenalltag früher, an das, was es alles dort nicht mehr gibt. Sie beschreibt, wie sie nach dem Tod des Vaters die „Bausteine des Begreifens“ aneinanderreiht und sich in Hoffnung übt, wie sie für den Sommer noch einmal ein Ferienhaus in Ungarn bucht und dafür von Freunden mitleidige Blicke erntet.

Ihre Beschreibungen sind anschaulich, nachvollziehbar, und nun ja, auch pietätsvoll. Die traurige Atmosphäre und die Bedeutung der letzten Tage der Betroffenen und des ersten Jahres ohne den Vater untermalen und betonen die literarischen Stilformen der Wiederholung und deren Variationen. So braucht etwa die Cousine „dieses letzte Stück, den letzten Satz, das letzte Bild, den letzten ausklingenden Ton“, um in Ruhe abschließen zu können. Bánk selbst wünscht sich, sie könnte mit „dem Abbruch des Lebens leichter umgehen“, denn der Tod widerfährt uns allen tagtäglich:

„Und doch, wenn uns diese Geschichte auswählt, wenn sie uns findet und zu Protagonisten macht, sind wir unvorbereitet, wissen wir nichts und können auf nichts zurückgreifen. Es zählt nicht, wenn andere das vor uns erlebt haben und wir daran teilhatten. Es zählt, dass wir es erleben. Nur wir erleben es so, nur wir erleben es auf unsere Art.“

Bánks Erinnerungsbuch Sterben im Sommer nimmt einen besonderen Platz unter den Väterbüchern ein, die im Zuge des demographischen Wandels in Europa und Deutschland das Altern und die Krankheiten der letzten Lebensphase der Eltern thematisieren. Ihre Art, in ihren Ausführungen die Trauer, die emotionalen Erschütterungen und Abschiedsschmerzen gegenüber lebensgeschichtlichen Fakten und Erinnerungen aufzuwerten, beweist nicht nur, dass sie die Lektion, die das Leben uns allen auferlegt hat, zwangsläufig gelernt hat, sondern auch, dass es für diese Erfahrungen und Gefühle eine tragfähige sprachliche Ausdrucksform jenseits der herkömmlichen Klischees gibt.

Titelbild

Zsuzsa Bánk: Sterben im Sommer.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970319

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