Prosa als fehlender Rest

Zum 90. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Jürgen Becker am 10. Juli

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vielleicht ein Versuch, die Zeit aufzuhalten und geräumtes Gelände zurückzugewinnen. Weit kommst du nicht mehr, aber fang nicht damit an, deine Schritte zu zählen; allein dein Schatten, falls Sonne vorhanden, begleitet dich“, heißt es im neuen Band Die Rückkehr der Gewohnheiten aus der Feder des viele Jahrzehnte unterschätzten Schriftstellers Jürgen Becker. Als „eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie“ wurde Becker 2014 völlig zu Recht bezeichnet, als ihm der Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands, verliehen wurde.

Bereits vier Wochen vor seinem Geburtstag hat ihn seine Heimatstadt Köln geehrt.  „Ich finde, Köln ist sehr menschlich mit all den Fehlern und Schwächen – das hält meine Sympathie für die Stadt nach wie vor am Leben“, erklärte der Jubilar.

„Ob das einundderselbe Autor ist, mag sich der Leser fragen, der in diesem Buch zu blättern beginnt und gleich auf so unterschiedliche Textformen und Schreibweisen stößt“, schrieb Becker im Nachwort seines 2012 erschienenen Prosa-Sammelbandes Wie es weiter ging, der Texte aus mehr als vierzigjähriger schriftstellerischer Tätigkeit vereint und in dem die gesamte Bandbreite und der immense Facettenreichtum seines Werkes abgebildet wird.

Nur Mitteilungen aus seinem Erfahrungsbereich, schrieb er einst an den Kollegen Hans-Magnus Enzensberger, seien in seinem Prosaband Felder (1964) enthalten. An dieser dichterischen Maxime Beckers, der 1967 der letzte Preisträger der Gruppe 47 war, hat sich bis heute nichts geändert. Neben Verlagstätigkeiten bei Rowohlt und Suhrkamp und als Hörspielredakteur beim Deutschlandfunk hat der gebürtige Kölner sich vor allem als Lyriker und Hörspielautor einen Namen gemacht.

Mehr als vierzig Jahre lebte Jürgen Becker in einem 200 Jahre alten Fachwerkhaus in Odenthal am Rande des Bergischen Landes – ein idyllischer Rückzugspunkt, der viele Jahre einen Gegenpol zu seiner Arbeit im Hochhaus des Deutschlandfunks in Köln bildete und gleichzeitig Erinnerungen an die Kindheit bei seinen Großeltern im Bergischen wachhielt. Kein Wunder, dass einer von Beckers schönsten Lyrikbänden den Titel Odenthals Küste (1986) trägt.

„Ich wäre gern Maler geworden, hätte ich nur die Begabung gehabt“, erklärte Becker einst in einem Interview. Die Malerei ist dem Autor dennoch sehr nahe, denn mehr als fünfzig Jahre war Jürgen Becker mit der renommierten Künstlerin Rango Bohne verheiratet, die im letzten September verstorben ist.

In den letzten Jahren gab es noch einmal eine künstlerische Zäsur in Beckers Werk. Über Jahrzehnte hatte er die Lyrik und das Hörspiel favorisiert und offensichtlich sein erzählerisches Talent verkannt. 1997 erschien der glänzende Prosaband Der fehlende Rest. Die schmale Erzählung las sich wie ein Werkstattbericht aus dem Hinterkopf eines hochsensiblen Lyrikers, der uns Einblicke darüber gewährt, wie ein Gedanke den Weg aufs Papier findet. Und der Titel könnte aus zwei Gründen durchaus programmatischen Charakter haben – als sinnstiftende Ergänzung zu Jürgen Beckers Lyrik oder aber als spät entdeckte Liebe zur Prosa.

1999 bewies Becker mit seinem ersten Roman Aus der Geschichte der Trennungen endgültig, dass er auch ein vorzüglicher Erzähler ist. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung entstand ein aus vielen Episoden zusammengefügtes Panorama der Disharmonien im Nachwendedeutschland. Darin heißt es: „In vierzig Jahren gehen sie vielleicht miteinander um wie ganz gewöhnliche Landsleute, die nicht mehr geprägt sind von der Geschichte unserer Trennungen.“ 

Heute wissen wir: „Der fehlende Rest“ – bezogen auf Jürgen Beckers umfangreiches Oeuvre – waren die späten Romane, diese sprachlich hochsensiblen Reflexionen eines Autors, der stets seine eigene Erfahrungswelt zum literarischen Sujet gemacht hat. In Schnee in den Ardennen (2003) hockt die Hauptfigur in der Dachkammer eines abgelegenen Gehöfts und berichtet von ihren Imaginationen.

Die Grenzen von Lyrik und Prosa lässt Jürgen Becker, der heute im Kölner Vorort Dellbrück (auf der „schäl sick“, hochdeutsch: auf der falschen Seite des Rheins) lebt, auch in seinem nun zum Geburtstag erschienenen Band Die Rückkehr der Gewohnheiten wieder gekonnt verschwimmen und hat einmal mehr seinen Rang als Meister der Alltagspoesie unterstrichen.

Titelbild

Jürgen Becker: Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
80 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430453

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jürgen Becker: Gesammelte Gedichte. 1971-2022.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
1120 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430446

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