Harmonie oder Realität?

In ihrem Roman „Doch Auserwählt“ erzählt Juliane Beer von der alltäglichen Verdrängung des Holocaust in den 1960er-80er Jahren in einer jüdischen und einer nicht-jüdischen Familie.

Von Tim Lukas SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tim Lukas Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der zweite Weltkrieg ist vorbei. Und das schon gute zwanzig Jahre, als sich Renate und James während der Ausbildung in einer Hotelfachschule kennen und lieben lernen. Renate findet es spannend, dass James in Südamerika aufgewachsen ist, nicht ahnend, dass das einen schrecklichen Grund hat. James’ jüdische Familie hatte nämlich aus Deutschland flüchten müssen, bevor sie Jahrzehnte danach in die alte Heimat zurückkehrte.

Die Heirat und die misslungene Zusammenschließung der Familien von James und Renate bilden den Ausgangspunkt der Handlung. Beer schildert das Nebeneinanderleben der jüdischen und der nicht-jüdischen Familie. Die Eltern des Ehepaars lernen sich nämlich nie wirklich kennen, da Renates Mutter und Stiefvater sich grundsätzlich von Juden fernhalten, noch verhaftet in der Rassenideologie. Erst die Enkelgeneration (James’ und Renates Kinder) setzt sich mit den beiden Familiengeschichten auseinander.

Das Hauptaugenmerk widmet die Autorin der Frage, wie die Ermordung von sechs Millionen Menschen überhaupt in den Familien thematisiert werden kann? Eine Antwort darauf: Schweigen. Das ist es, was die meisten Figuren des Romans verbindet und einsam werden lässt. Renate versucht im Nachhinein, den vorenthaltenen Segen ihrer Mutter Grete für die Ehe mit James zu erhalten. Warum diese James und seine Familie meidet, war nämlich nie ausgesprochen worden. Sie ahnt nicht, wie aussichtslos ihre Mission ist:

Renate erstattet der Mutter Bericht, wöchentlich. James sei dabei, sich zu verbessern. Renate verspricht es der Mutter fest. Ob die Mutter dann zu Besuch käme? Ob James dann in der Wohnung bleiben dürfe? Dann, wenn. Grete schweigt. Der Sommer geht zu Ende.

Konsequent unterbricht Beer die Erzählung mit solchen kurzen Hauptsätzen oder Satzfragmenten, die oft Gedankengänge sind, mit denen die Figuren allein verbleiben. Oder sie bilden wie hier die immer gleichbleibende, bittere Pointe des Schweigens.

Jedes Gespräch ist verbunden mit dem Versuch, genaueren Fragen aus dem Weg zu gehen und das persönliche Weltbild aufrecht zu erhalten. Denn anders kann man die verdrängten Gefühle nicht weiter verstecken: Angst, Scham, Schuld. Die Autorin hat ein Mittel gefunden, diese distanzierten Gespräche adäquat wiederzugeben, indem sie unzählige Male Dialoge in indirekter Rede wiedergibt.

Außer dem Schweigen ist auch sehr oft das Lügen und Schönreden eine Strategie für die Figuren, um Harmonie zu erzwingen. Das ist in beiden Familien der Fall. Massenmord wird zu „Zerwürfnissen zwischen den Deutschen und den Juden“ oder einfach zu „Spuk“, Prügelstrafe zu „Erziehungsmaßnahme“, Vergewaltigung zu „auf die Pelle rücken“, Schwule zu „Subjekte“. Für die jüdische Familie wird Trauern, Jammern, Erinnern und Anklagen in einen Topf geschmissen, zu „Lamento“ vermengt und vom Familienoberhaupt verboten. Außerdem wird verdeutlicht, wie sehr das Schweigen selbst Lügen ist. Weil es tagtäglich suggeriert, dass nichts Bedeutendes geschehen sei zwischen Juden und Nicht-Juden.

Beer gibt Ansichten und Gedankengänge der meisten Figuren preis, lässt hinter den Schweigevorhang blicken. Und sie macht trotzdem unmissverständlich klar, dass die Lügen Fehltritte unterschiedlicher Größenordnung darstellen: Renates Mutter Grete redet sich ein, dass der Holocaust gottgewollt war, um mit den Schamgefühlen fertig zu werden. Ihr zweiter Ehemann, lange nur „der Soldat“ genannt, stürzt sich auf eine für ihn geniale Wendung, um seiner Gesinnung treu zu bleiben: Hitler sei selbst Jude gewesen. Das ist nicht gleichzusetzen mit Susanna, James’ Mutter, die viele tröstende Gründe erfindet, warum die Schwiegereltern keinen Kontakt wollen. Und auch nicht mit Erich, ihrem Mann, der die Augen vor jeglichem Hass verschließt, voll auf Versöhnungskurs mit Menschen, denen er grundsätzlich nichts Schlechtes unterstellt. Sein „Lamento“-Verbot ist ein radikales Wegschauen, aber auch ein Versuch, sich zu einigen. Die zwei Großelternpaare, die für zwei Standpunkte stehen, sehnen sich nach ein und demselben, dem ‚Normalzustand‘, und scheitern mit der Schweige- und der Schwindeltaktik. Der Unterschied findet sich in ihrer Definition dieses Normalen.

Auf der einen Seite bedeutet es Frieden, Leben und leben lassen, Versöhnung um jeden Preis, auch dem der Ausblendung der Vergangenheit. Auf der anderen ist der ‚Normalzustand‘ die Vereinigung im Hass gegen das Fremde. Man ist gewappnet für das erneute Aufleben des Naziregimes, und heuchelt in der Zwischenzeit so viel Toleranz vor, wie nötig, um kein Aufsehen zu erregen – oder man schweigt einfach. Was die Kinder und die Kindeskinder der Kriegsgeneration davon erben, sind weiterhin: Schuld, Scham, Angst. Gefühle, die man verstehen lernen muss, indem man sich mit der Geschichte unserer Eltern und Großeltern auseinandersetzt – indem man redet. 

Juliane Beer führt uns auf unterschiedliche Weise vor Augen, wie verwurzelt wir mit der Vergangenheit sind und wie nah diese Vergangenheit noch immer ist. Querdenker sind nicht die ersten, die mit Wörtern wie Wahrheit und Meinung beliebig jonglieren. Und rechtsradikales Gedankengut hat sich natürlich in die Gegenwart transportiert. Man muss es nicht erst ausgraben und wiederbeleben, weil die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts fortwährend präsent ist in den Köpfen. Beers Roman ist mehr als ein Mosaikstein der Erinnerungskultur. Er ist ein Appell zur andauernden Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg.

 Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2022 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2022 erscheinen.

Titelbild

Juliane Beer: Doch auserwählt.
MARTA PRESS, Hamburg 2021.
228 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783968370019

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