No Man is an Island

„Ausgewählte Briefe“ von Gottfried Benn offenbaren ein mehrfaches Dilemma

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seinem Verleger Max Niedermayer gegenüber behauptete Gottfried Benn: „Von mir werden einmal keine Briefe auftauchen wie von Rilke – ich bin kein Briefschreiber“. Dies modern als fake news zu bezeichnen, wäre kaum übertrieben. „Wir wissen heute von beinahe 5600 Briefen“, schreibt jedenfalls der Herausgeber und Benn-Biograph Holger Hof im Nachwort zu den Ausgewählten Briefen 1904 – 1956, die das gesamte Erwachsenenleben des 1886 geborenen Dichters umspannen. Bereits ein Jahr nach dessen Tod veröffentliche Niedermayer eine Auswahl von Briefen. 74 davon übernimmt Hof in seine Sammlung und erweitert diese um einen größeren Adressatenkreis und zugleich um 179 Schreiben, die bislang unveröffentlicht oder nur auszugsweise bekannt waren. Alle Briefe sind nunmehr philologisch exakt ediert und gründlich kommentiert. Angesichts der oben genannten Gesamtzahl von Briefen erscheinen die 293 jetzt abgedruckten Mitteilungen allerdings nur wie ein Klacks. Dies erklärt sich daher, dass Hof die „großen“ und bereits seit längerem erschienenen Briefwechsel Benns, etwa mit Egmont Seyerlen, Thea Sternheim, Paul Hindemith, Tilly Wedekind, Elinor Büller, Ursula Ziebarth und natürlich Friedrich Wilhelm Oelze, hier nicht mit aufgenommen hat. Dadurch weist das ganze Unternehmen riesige „schwarze Löcher“ auf und ähnelt, milde ausgedrückt, doch sehr einem Schweizer Käse. Hof ist sich dessen allerdings bewusst und verweist immerhin in seinen Kommentaren auch auf die nicht berücksichtigten Briefpartner. Ein erhebliches Dilemma. Dazu kommt die Frage nach den Auswahlkriterien.

Bereits früh, zum Beispiel in der 1919 erschienenen Anthologie Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, pflegte Benn den Habitus des Einsamkeitsfanatikers jenseits aller bürgerlichen Bindung, den er in sämtlichen autobiographischen Einlassungen beibehielt. Damit inszenierte er ein veritables „Doppelleben“, eine Strategie des Sich-Verbergens, wie er sie noch in dem Gedicht mit dem programmatischen Titel Verhülle dich (1950/51) verkündet. Es scheint, als habe Hof mit seiner Auswahl „das Ich hinter seiner lyrischen Maske“ zum Vorschein bringen wollen. Tatsächlich erlauben die Briefe selten einen Blick in die poetische Werkstatt. Vielmehr tritt umso deutlicher ein Mensch in seinen Widersprüchen hervor. Davon gibt es zahlreiche. Grundlegend ist dabei die Kluft, die sich seit Friedrich Nietzsche zwischen der Künstlerexistenz und dem bürgerlichen Leben auftut. Bereits im zweiten hier abgedruckten Brief an den Zeitungsredakteur Carl Hermann Busse aus dem Jahre 1905 bittet Benn wortreich und nahezu flehentlich um die Anerkennung als Künstler und betont zugleich: „Ich denke garnicht daran auf Grund des ev. Künstlertums an die Öffentlichkeit zu treten oder gar mein Studium aufzugeben oder dergl. Unsinn.“ Dass er auf „Familien- und Spießerwohlwollen“ setzen könnte, diesen Eindruck will er mit allen Mitteln vermeiden. In jungen Jahren führt er über seine Liebschaften „Protokoll“ und kommt dabei auf „eine hübsche kleine Jubiläumszahl“, behauptet er zumindest in dem Brief an die Schauspielerin Elsa Wagner vom 14.7.1925, den Hof faksimiliert abdruckt. Seinem Image als Tunichtgut widmet er zahlreiche Briefe, selbst als dreifach verheirateter Mann.

Dazu kommen die notorischen politischen Fehleinschätzungen. Nahezu liebedienerisch wirft er sich dem deutschnationalen Schriftsteller Walter von Molo an den Hals („ihr großartiger letzter Roman“), von dem er sich als Präsidenten der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste eine gewisse Protektion erhofft. Diesem sagt er einmal, wie um seine mit den Ereignissen von 1933 gewachsene Bedeutung hervorzuheben, eine Verabredung ab, „da ich zu der Stunde zum Minister bestellt bin.“ Wo er recht hat, hat er recht, möchte man einer Ermahnung zurufen, die er am 23.9.33 seiner Freundin Gertrud Zenzes zukommen lässt: „Sie müssen in sich den Gedanken ganz feste Gestalt annehmen lassen, dass wir vor einer Wendung der abendländischen Geschichte stehen…“. Dass diese in einem singulären Menschheitsverbrechen bestehen würde, ahnte er wohl nicht. Anders als etwa die weitsichtigen Emigranten, die er bis an sein Lebensende zu seinen Hauptfeinden erklären wird. Sich selbst sieht er auch gerne als Opfer einer immer wieder emphatisch beschworenen Geschichte. Auch er habe während der Nazi-Zeit, die hier lediglich mit rund 40 Briefen vertreten ist, „ein Leben im Exil“ führen müssen. Doch bald danach kann er wieder mit einem wachsenden Interesse der Leserschaft auftrumpfen: „Wahrscheinlich erscheinen noch im Laufe des Jahres 3 neue Bücher von mir“, vermeldet er 1946. Im selben Jahr versucht er den Verleger Eugen Claassen zu einer Veröffentlichung seiner Werke zu erpressen, indem er auf weitere Interessenten, genauer Ernst Rowohlt, verweist. Allerdings finden Benns Bücher erst auf dem Umweg über die Schweiz Zugang nach Westdeutschland. Dass er besonders in der damaligen Ostzone wenig beliebt ist, wundert ihn allerdings, wie er ebenso treuherzig wie fehlerhaft gegenüber dem in den USA lebenden Alfred Vagts berichtet: „Die Literatur ist völlig in die Hände der zurückgekehrten Emigranten übergegangen u. die betrachten jeden hier Gebliebenen als Saboteur… Seit 1936 war ich bei den Nazis verboten u. aus der Reichsschrifttumskammer ausgestossen, jetzt stehe ich auf der Liste der ‚Unerwünschten‘, es ist das Gleiche.“ Auch hier deckt wieder einmal Hofs Kommentar die Widersprüche und Unwahrheiten des Dichters mit dem Hinweis auf, dass der Ausschluss „erst im März 1938“ erfolgte.

Einmal gerät Benn mit seiner gespielten Provokationslust regelrecht in die Bredouille, als er nämlich seiner Tochter Nele eine Stelle seines Ptolemäer erklären muss, welche diese auf sich bezogen hatte: „Die Stelle im Pt. ist rein spielerisch gemacht … meine gehässigen Bemerkungen gegen Kinder und Enkel finden sich ja oft in meinen Büchern, es ist meine schriftstellerische Gesinnung, aber nicht mein eigenes Gefühl widerspiegelnd.“ Gerade in den Briefen an die oft ferne oder fern gehaltene Tochter zeigt sich das ganze Dilemma eines Mannes, der sich eine „Weltanschauung“ aus Dichotomien zusammen gebastelt hat und der damit ganz hervorragend in die Hochphase des Kalten Krieges passte. Dabei lassen sich die angenommenen Gegensätze gut in Pathos-Floskeln packen, etwa: „Nach meiner Meinung treibt die Frage: Politik bzw. Geschichte – und Kunst bzw. Formwelt einer allgemeinen Klärung zu und ich bin sicher, wie sie ausfällt.“ Und ausführlicher noch in dem Brief an Claassen (20.11.46), in dem er sich unter dem bequemen Hinweis auf das bewährte Schema weigert, seine Irrtümer einzugestehen:

Diese Irrtümer bezögen sich auf die geschichtlich-politische Welt, innerhalb derer es gar keine Irrtümer geben kann, da sie ihrem Wesen nach Demimonde ist und allein von Vor-Urteilen ihr Dasein fristet. Dass der Mensch ein Zoon politikon sei, erschien mir von je ein regionaler griechischer Missgriff zu sein, eine Balkanidee. Hier handelt es sich um die Grundfrage und glauben Sie mir, das ganze kommende Jahrhundert wird von dieser einzigen Frage stigmatisiert sein: die Kunst oder die Geschichte, der geistige Mensch oder der politische…Dass dies ganz persönliche Einstellungen und Abwegigkeiten von mir sind, ist selbstverständlich, ich erwarte von keiner Seite Zustimmung oder Unterstützung.

Trotzdem verwundert es kaum, wenn diese Art Wirklichkeitsverweigerung in der Nachkriegszeit auf große Resonanz innerhalb einer Leserschaft stieß, die sich bereitwillig mit dem anachronistisch anmutenden Vers „Dennoch die Schwerter halten“ identifizierte, ein Aufruf, dem heute wohl nur noch Dschihadisten folgen würden. Im Übrigen genießt der Demokratieverächter Benn die wachsende Anerkennung durch eine sich gerade neu herausbildende Zivilgesellschaft, die ihn mit öffentlichen Auftritten, Rundfunkvorträgen oder gar dem Büchner-Preis hofiert.

Wie er im Nachwort schreibt, hat Hof mit seiner Briefauswahl „Benns Biographie um zahlreiche kleine Bausteine ergänzt“. So lässt sich bei der Lektüre Benns Einsamkeitsrhetorik kaum mehr halten: „Ich bin ja sehr ungesellig und gehe kaum aus.“ Letzteres mag stimmen. Er war zumindest, wie so viele Künstler, ein großer Egozentriker und Monologist „mit unstillbarem Hang zum sprachlichen Ausdruck“ (Hof), der ein breites Kommunikationsspektrum durchaus zu schätzen wusste. Obwohl er gerne den Bürgerschreck spielte, pflegte er so bürgerliche Tugenden wie den ausgedehnten Briefwechsel, etwa mit Ernst Robert Curtius oder Theodor W. Adorno, worauf er nicht ohne Eitelkeit hinweist. „Nulla dies sine epistola“ empfiehlt Hof gar als Schaffensmotto.

Es scheint allerdings, als habe der Herausgeber nicht an eine chronologische Lektüre der Briefe gedacht. Wie anders sind im ansonsten sehr verdienstvollen Kommentar einige Mehrfachnennungen zu erklären. So finden sich an drei Stellen bei der Formulierung „die Stunde schlägt“ der Hinweis auf Hemingways Roman „Wem die Stunde schlägt“. Da wüsste man nur zu gerne, wie Benn das Zitat John Donnes aufgenommen hat, das der Amerikaner seinem Roman vorangestellt hat: No Man is an Island.

Titelbild

Gottfried Benn: „Absinth schlürft man mit Strohhalm, Lyrik mit Rotstift“. Ausgewählte Briefe 1904–1956.
Herausgegeben und kommentiert von Holger Hof.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
623 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835331099

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