Die Wahrheit der Zwischentöne

Maxim Billers neu versammelte Familiengeschichten „Sieben Versuche zu lieben“

Von Clemens Hermann WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clemens Hermann Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maxim Biller, dessen 60. Geburtstag in diesen Tagen in vielen Feuilletons gefeiert wird, weiß mit seinen Texten zu provozieren. In seinen Kolumnen für die Zeitschrift „Tempo“ mit dem unmissverständlichen Titel „Hundert Zeilen Hass“ rechnete er einst in polemischer Brillanz mit dem ihn umgebenden gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontext ab.

Ein Erscheinen seines autobiographisch gefärbten Liebesromans Esra ist aufgrund der Verletzung von Persönlichkeitsrechten bis zum heutigen Tag gerichtlich untersagt. Sein Selbstportrait Der gebrauchte Jude schilderte schroff die akademischen Erfahrungen eines jungen Juden im München der frühen 80er Jahre. Maxim Biller schreibt in seinen Kolumnen und Polemiken sowie nicht minder in seinen fiktionalen Romanen und Erzählungen schonungslos über das, was er für wahr erkannt hat. So gefragt der 1960 in Prag geborene Biller gerade dafür ist, so sehr erhitzen seine Texte die Gemüter von Feuilleton und Leserschaft.

In seinem neu erschienen Erzählband Sieben Versuche zu lieben arbeitet sich Biller in stilistischer Präzision und einnehmender Tonalität nun an den Wahrheiten von Familiengeschichten ab. Der Band versammelt dreizehn Geschichten Billers, die zwischen 1990 und 2007 bereits verstreut in unterschiedlichen Bänden publiziert worden sind. In Sieben Versuche zu lieben liegen sie jetzt als neu zusammengestellte Erzählungen vor, die mit dem Leitmotiv der Familie gleichsam in den Kern der Literatur von Maxim Biller zielen.

Schon mit seinen unlängst veröffentlichten Romanen Sechs Koffer und Biografie wandte sich Biller der Familie als Topos der Literatur zu, in seinem neuesten Erzählband erzählt er nun pointiert im Spiegel unterschiedlicher Familien von den wechselvollen und dunklen Geschichten des 20. Jahrhunderts, zwischen Shoah und Stalinismus, zwischen antisemitischen Schauprozessen in der Tschechoslowakei und der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings. Es sind die Erfahrungen von andauerndem Exodus und die leise Ahnung, dass sich Heimat nicht mehr einfach in einem Ort, sondern vielmehr in der Sprache des Erzählens finden lässt, denen sich Biller zuwendet.

Das Motiv der Familie und die Frage nach der komplexen deutsch-jüdischen Identität variiert Biller dabei in jeder Geschichte überraschend neu. Zwar bleiben die Konstellationen der Protagonist/innen annährend gleich, immer wieder neu verhandeln sie dabei aber die Fragen von Verdrängung und Schuld, von Geheimnis und Lüge.

Mit „Wenn der Kater kommt“ liegt etwa die Geschichte eines Sohnes vor, der sich nach dem Ende des Kommunismus auf die Suche nach einem verschollenen Film macht, den der Vater, einst ein bekannter tschechischer Filmregisseur, vor der Niederschlagung des Prager Frühlings angeblich gedreht haben soll. Während die Mutter über all das schweigt, erhofft sich der Sohn von dem Film des verstorbenen Vaters Impulse für seine Abschlussarbeit an der Filmakademie. Doch während er nach den alten Filmrollen sucht, muss er feststellen, dass bereits der Titel des Filmes Rätsel aufgibt und das Geheimnis seiner Familie an anderer Stelle liegen muss, nämlich in den einstigen Kindergeschichten, die der Vater dem Sohn immer wieder in seinen Briefen aus Prag erzählte. In „Ein trauriger Sohn für Pollok“ will ein Kritiker einen Schriftsteller überführen, der in der Tschechoslowakei angeblich das Leben seines Vaters zerstört hat – und muss sich schließlich mit einer völlig anderen, noch schmerzhafteren, Geschichte konfrontiert sehen.

Immer wieder erleben die Figuren, die in ihren Konfigurationen der eigenen realen Familie des Autors Maxim Biller nicht unähnlich sind, wie plötzlich Ungeahntes offenbart wird. Eindeutigkeiten lösen sich in diesen Familiengeschichten auf und Wahrheiten können sich nur in den Zwischentönen des Erzählens ereignen. Für diese Wahrheiten findet Biller einen eigenen Erzählduktus, der beständig zwischen zarter Verletzlichkeit und schonungsloser Rohheit oszilliert. So sanft der Titel Sieben Versuche zu lieben klingen mag, so heftig beginnt manche Erzählung: „Bevor der Gast aus Moskau meine Schwester Klawdija vergewaltigte, aß er sich bei uns erst einmal richtig satt.“ Mit wenigen Worten schafft Biller eine Atmosphäre, denen sich der Leser nicht entziehen kann.

Maxim Biller schont weder seine Protagonist/innen, die im Sturz ihrer Suche nach der wahren Familiengeschichte immer wieder Tragödien erleben müssen, noch schont er seine Leser. Mit diesen Erzählungen wird deutlich, wie Wahrheiten – zumal im vermeintlich geschützten Kosmos der Familie – Konstruktionen sind und immer wieder als Täuschungen entlarvt werden können. Die Erzählungen von Maxim Biller werden so zu einer Einladung, sich gewagt vorzustellen, dass die Welt und Wahrheit, wie sie tradiert wurde, auch ganz anders sein könnte. Die jeweils eingenommene Perspektive des Betrachters wird zum entscheidenden Interpretationsmoment. Das ist es, was diese Familiengeschichten so zeitlos gültig machen.  

Vielleicht mag Biller hierbei von dem Gedanken seiner Mutter Rada geleitet gewesen sein: Das Leben, habe sie einst gesagt, entstehe zwei Mal. Einmal vor unseren Augen und ein weiteres Mal „auf dem Papier“. Im Modus der Literatur gewinnt so das Leben erst eine reflektierte, sich seiner selbst bewusste Gestalt. Maxim Biller hat mit Sieben Versuche zu lieben unterschiedliche Leben mit diesen Familiengeschichten zu Papier gebracht. Dass sie nun von Helge Malchow, der bis 2018 den Verlag Kiepenheuer & Witsch leitete, ausgewählt und neu zusammengestellt erschienen sind, ist ein großes Glück.

Titelbild

Maxim Biller: Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
368 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462054378

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