Bobrowski macht Kants Küchengespräche hörbar

Eine Lektüre des Kurzprosa-Textes „Epitaph für Pinnau“ (1963) mit Blick auf Antje Herzogs Graphic Novel „Lampe und sein Meister Immanuel Kant“ (2017)

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johannes Bobrowski erhielt am 27. Oktober 1962 in Berlin den Preis der Gruppe 47. Zu Bobrowskis Wirkung in diesem erlauchten Kreis schrieb Fritz J. Raddatz in einer Einführung zum „Almanach der Gruppe 47. 1947-62“, erschienen im September 1962, nachdem er bemängelte, dass DDR-Schriftsteller fehlten: „Bobrowski, mit dem Bildmaterial und Sprachgestus des Spätimpressionisten – kaum ein Gedicht ohne Wälder und Ströme, Moor, Rauch und Kürbisfeld – will sich nicht recht als […] Ausnahme anbieten“. Da verwunderte es nicht, dass Bobrowski bei den zahlreichen Anfragen nach Texten im Nachklang des Preises etwas ganz Besonderes, eine „Kant-Erzählung“(Brief an Horst Bingel vom 8. Januar 1963) auf Lager hat, um seine Intellektualität und Exquisität unter Beweis zu stellen, nach Aussage des Brief-Kommentators Jochen Meyer etwas ‚Gewichtigeres‘ als die ebenfalls angebotene „Litauische Geschichte“.

Was ist hier ‚gewichtiger‘ als anderes in diesem Kurzprosa-Text „Epitaph für Pinnau“? Ist es überhaupt eine „Kant-Erzählung“, als die sie Bobrowski anbietet? Es geht doch um den Suizid eines jungen Buchhalters am Königsberger Freihafen-Zoll, dem Lizent, um den das Gespräch am Mittagstisch Kants kreist, nicht nur zwischen Kant und seinem freundschaftlichen Kritiker oder kritischen Freund Hamann, Kollege Pinnaus. Dies wurde schon im Kommentar zu den Bobrowski-Erzählungen von 1999 belegt, es ist im Namensregister der Hamann-Briefe an Herder, Kraus und Hartknoch unter der Schreibung „Pynnow“ auch im Internet lesbar. Dort wird aber nicht der entscheidende Bezug auf Hamanns philosophisches Werk hergestellt: die abschließende Anmerkung seiner „Mysterien“-Schrift „Konxompax“, datiert auf den 12. April 1779: „Vormittags erschoß sich der Buchhalter, welcher neben meiner Loge arbeitet. Ich war am Flußfieber krank und hatte die ganze Stube voller Gäste wegen eines von [!] Stapel laufenden Schiffes.“ Über Details eben dieser Schrift debattiert Bobrowski jetzt bei der Vollendung des Prosa-Textes am 8. Januar 1963 in einem Brief vom 7. Januar 1963 mit dem Hamann-Editor und -Kommentator Professor Martin Seils.

Hamann beschreibt in dieser „Fußnote“ drei Haupt-Ereignisse, die alle die „Zufälligkeit des ganzen Weltsystems“ belegen, die er in seinem berühmten, gleichzeitig entstandenen „Stellenlosen Blatt“ benennt: Tod durch Suizid, Krankheit, Chaos. In Bobrowskis Kurzprosa-Text „Epitaph für Pinnau“ könnte dies als dreigliedriges Motto gelten, obgleich die handelnden Figuren nach Lebensfreude, gesundem Mahl und Ordnung wegen Gottesfürchtigkeit suchen, im Vertrauen auf die Theodizee nach Leibniz/Wolff beim Leben in der besten aller möglichen Welten, beim rational den Körper überwindenden Denken dieser mit mathematischer Systematik und bei akribisch gewissenhaft in fixen Raum- und Zeit-Fenstern vollzogenen Riten und Ritualen. Unter der Oberfläche des Gehorsams und des Gehorchens lässt der Text jedoch die Gegenwelt entdecken. Kant ist hier der forsch Fragende, er wird nicht gegenüber Hamann degradiert, sondern gegenüber den Vorurteilen salviert, die ihm seit Heine als Pedant angedichtet werden: „Was hat Pinnau gehabt […]?“ – Hamann antwortet: „Er hat gedacht […]. Er hat geschrieben, Poesien – – er hat gewollt, was nicht möglich ist.“ Aus dieser Trias ergibt sich des Idealisten Nähe zu Hamann, und tatsächlich: Hamann bestätigt, dass Pinnau bei ihm „gehört“ hat, in Hamanns privaten Kollegs.

Das „Hören“ durchzieht, wie so oft in Bobrowskis musikalisch motivierten und strukturierten Texten, das dramaturgisch inszenierte Geschehen: Die Lesenden gelangen in der Exposition ins Geschehen, betreten das Haus Kants mit dem ‚Zuhören‘ und ‚Anhören‘ der Uhrzeit vom Glockenturm mit allen Nebengeräuschen des Schlagwerks und mit echohafter, automatisierter Unterstützung der Stöcke der geladenen Honoratioren. In der steigenden Handlung steigen wir hinab in die Küche, wo Hamann den Suizid in seiner Wahrnehmung bezeugt: „Ich hörte einen Schuss“. Der Höhepunkt ist die Beschreibung der Pinnauschen Studien, nicht als Hörer Kants, aber, in der Retardierung, Hamanns. Zum Schluss, in der Katastrophe läuft das Gespräch bei Tisch nach bekannten Mustern, der Blick auf das Geschehen soll sich aber auf die geometrische Formalisierung von Bewegungsursachen (die dreifach beschworenen automatisiert aufeinander eingespielten Alte-Herren-Körper als „Docken, Kegel, Rhomben“ und „Pyramide“ mit ihren Gedanken-Tänzchen) und Bewegungen, die keine Bewegungen sind, beschränken: „Man sollte schwerhörig sein“, um die leidvolle Erfahrung, dass das Leben einfach weitergeht und dabei auch das Sprechen über das Leben in gewohnter Form, vielleicht einen kosmologischen Gottesbeweis als Kausalitätsgarantie beschwörend, als Zeichen der Wohleingerichtetheit der Schöpfung durch den Schöpfer zu konstruieren.

Ob hier der Blick auf die berühmte Darstellung von „Kant und seinen Tischgenossen“ von Emil Doerstling gemeint ist, wie der Kommentar zu Bobrowskis Prosa meint, ist zu prüfen. Zwar ist Doerstling wie Bobrowski Absolvent des Altstädtischen Gymnasiums am Kneiphof in Königsberg, wo Hamanns Sohn innovativer Schulleiter war, und malt das Bild im Jahr des Abrisses von Kants Wohnhaus (1893), ein Kuriosum, dass schon Erich Zabel in den Kant-Studien 1901 feststellte und Hans Vaihinger ebendort hervorhob. In jedem Fall aber ist der Rezeptionswechsel als Umkehrung und Katharsis am Ende des Prosa-Dramas schlüssig: vom zugewandten, engagierten Hören zum weggewandten, distanzierenden Sehen. Ist das Gerechtigkeit für Pinnau? Oder wird über ihn sogar noch Gericht gehalten, beim üppigen Mittags-Gericht? Wer und was hat „Platz am Tisch“, hat jeder nur ‚seinen Platz‘, vorherbestimmt und fix? Wer weist uns das Durchspielen des Sich-Wegwendens von dieser versammelten Gesellschaft?

Hier fällt endlich der Blick auf die Schlüsselfigur des Textes, Kants Diener Martin Lampe. Er steht in Doerstlings Gemälde links außen mit dem Rücken zur Tischgesellschaft und im Profil zum Betrachter, wird in manchen Reproduktionen sogar weggeschnitten. Er ist der zehnte Mann bei der Geselligkeit, nicht die antike, mythologische Zahl der neun Grazien ist entscheidend, sondern dass zehn Männer sich zum Gottesdienst versammeln, weil zehn Männer nötig sind, wie Kant auf Porträts zehn Knöpfe hat oder zehn Gebote gesetzhaft gelten, um die Stabilität der Welt zu garantieren; allein die Zahl auf der Gästeliste zählt, nicht die Personen mit ihrer erzählbaren Lebensgeschichte dahinter, so auch die wichtigen Abweichungen der Namen der Gäste bei Doerstling und Bobrowski. Mit dem Segen Gottes soll das Mittagsmahl abgesegnet werden, trotz Suizid. Die Briefausgabe nennt jetzt den wichtigen Brief Bobrowskis an den tschechischen Übersetzer Ludvik Kundera vom 16. Dezember 1963 mit der Erläuterung des „gezückten Segens“ als „vorbereitetes, auf Einsatz wartendes Tischgebet“ mit waffenartig-aggressiver Durchschlagskraft, den der Prosa-Kommentar nicht mitteilte. So lautet der letzte Satz mit diesem Gebetsspruch: „versammelst uns täglich um deine Gabe, versammle uns, Herr, um deinen Thron.“ Die Versammlung der Zehn ist aber keine Versammlung um einen Thron, sondern um einen Tisch, auf dem alles selbst verhandelt werden soll, im Sinne der Aufklärung, von Menschen für Menschen, horizontal-symmetrische Tischgespräche, nicht vertikaler Thron-Gehorsam. Diese philosophische Botschaft Kants wäre zu rekonstruieren. Sie geht rezeptionsgeschichtlich bis heute unter bei dem Missverstehen des Ausdrucks „Pflicht“. Es geht um die Selbstverpflichtung im Hören auf die Menschheit und Menschlichkeit im Kontakt zum Mitmenschen. Damit ist die Dyade zwischen dem kleinen Kant und seinem großen Diener Lampe benannt.

Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht forderte 2016 ein Denkmal für Lampe in Würzburg, ebendort geboren 1734, Diener Kants über vier Jahrzehnte von 1762 bis 1802, bis Alkohol die Entlassung vier Jahre vor seinem Tod und zwei Jahre vor Kants Tod bedingte. Da Kant seinen neuen Diener auch weiter „Lampe“ zu nennen pflegte, blieb der Klang des Namens so erhalten, dass Kant sich durch einen Merkzettel dazu zwingen wollte, was wohl nicht gelingen konnte: „Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden.“

Der Erzähler Bobrowskis stellt Lampe dreimal exponiert in den Mittelpunkt. Zu Beginn ist Lampe überfordert durch die äußeren Zeichen, die Gewandungen der Herren, der Reihenfolge des Entgegen-Nehmens der Garderobe (wie bei Doerstling, wo die Garderobe mit Hut und Stock unordentlich in der Ecke liegt), gibt aber dennoch die Strukturen, macht die Ansagen, nicht nur beim Wecken Kants und beim Aussprechen der Einladungen, sondern hier, oben auf der Treppe: „Der Herr Professor ist inne Küche, kommt aber gleich.“ Er lässt sich zweitens von der Köchin, der alten, aber energischen Luise Nitzschin, in die Küche hinab rufen („Ja, kommt gleich, und du, Herr Lampe, komm runter“), wir folgen ihm, weniger um die Speisen zu begutachten, als das Gespräch über Pinnau zu hören. Schließlich, als drittes, als alle schon sehnsüchtig warten, geht Lampe Kant zum Tisch voraus, indem er mit der Terrine kommt und das Mahl beginnen lässt. Kant folgt Lampe, die Philosophie folgt ihrer Magd, dem Leben, den einfachen Leuten, der poetischen Anthropologie, wie sie Bobrowski in seinem Werk anstrebte, eine Schlüsselpositionierung.

Was dieses Hören auf die kleinen Leute und die Kleinigkeiten des Lebens bedeutet, kann nachvollzogen werden in einer aktuellen, innovativen Form in der Serie der „Kantiana“, einer Graphic Novel unter dem Titel „Lampe und sein Meister Immanuel Kant“. Die Zeichenkunst ist historisierend expressiv, quellenfundiert und hermeneutisch belebend, wie Bobrowskis Erzählstil. Der Autorin und Illustratorin Antje Herzog gelingt es aufgrund hervorragend recherchierter Details aus den Lebensbeschreibungen Kants, ein psychologisch differenziertes Porträt des Menschen Kant, seiner Umgebung als Nachbarschaft in Königsberg, seiner Freunde zu konturieren und ein Lebensbild des philosophischen Haushalts in großartigen Graphiken szenisch und detailreich zu entwickeln. Wir blicken in den Alltag des Philosophen und erfahren, was ihn störte und was ihn beglückte, die Sinnen-Leiden und die Sinnen-Freuden. Die Autorin begründet ihre Illustrationskunst von ästhetisch klarer Brillanz in ausführlichen Reflexionen über ihre persönliche Methode, einen Zugang zu Kant zu gewinnen, schildert Umwege, offene Fragen, Grenzen der Annäherung; Antje Herzog ist als Perspektivfigur so beim Betrachten des Bilderbuches stets präsent. Dass man sich ihrem Blick als Kennerin anvertrauen kann, merkt man spätestens bei ihrer genialen Idee, durch unterschiedliche Schriftarten die Äußerungen der Figuren zu differenzieren: Walbaum Fraktur für Lampe als Soldat statt Walbaum Antiqua, Hölderlins Lieblingsschrift, eine dezent versteckte Reminiszenz an die Schrifttypus-Debatte um 1800. Als jemanden, der Lust an der Schrift und Freude an der Sprache hat, lernen wir auch Kant kennen; bei Begriffsfindungs- und Formulierungs-Erwägungen und dem beliebten Tischrunden-Thema der Etymologie offenbaren ihn die Graphiken als konstruktiven ‚Kritiker des reinen und praktischen Wortgebrauchs‘. Seine Urteilkraft wirkt nicht abgehoben, sondern überzeugt als ‚common sense‘. Dieses Kant-Bild sollte Schule machen.

Und wir lernen beim langsamen wahrhaft haptischen Begreifen und staunenden Um- und Zurückschlagen der schönen, schweren, kostbaren Seiten, dass Kant nur mit Lampe an seiner Seite „das Licht der Aufklärung“ sehen und bis heute verbindlich beschreiben konnte. Antje Herzog macht Lampe sehr subtil und einleuchtend zum Zentrum und damit zum Medium des Zugangs zum Philosophen als Person, er trägt in Doerstlings Gemälde eine gelbe Jacke, im Unterschied zu Kant mit einer hellblauen, Herzog kennzeichnet Kant leitmotivisch in ihrem Buch mit einem gelben Rock, was in dem differenziert gestalteten Schwarz-Weiß des Buches hervorleuchtet. Herzog entreißt Lampe der Vergessenheit und damit auch, wie sie betont, Königsberg als Lebensort und Kunstgedächtnis.

Die Analogie zu Bobrowskis Kurzprosa ist verblüffend. Hier ist eine Künstlerin, die Bobrowskis Anliegen – wohl intuitiv – weiterführt. Bobrowskis Schreiben bezeugt sein autopoetisches Bekenntnis zur Anknüpfung an die Ästhetik der „sinnlichen und darin vollkommenen Rede“ des 18. Jahrhunderts und sein Erinnern an das, was vergessen wurde, an Lebensweisen an Lebensorten, die er wie auf neu markierten Landkarten für den Lese-Augenblick im Jetzt visualisiert, imaginiert, in Szene setzt. Er schuf Scherenschnitte, studierte Kunstgeschichte, suchte Kontakt zu Doppelbegabungen wie Albert Ebert und Christoph Meckel, liebte deren gemalte Briefe.

Wir wünschen uns mehr solcher Bücher, z.B. dass das „Capitulum V: Die Köchin“ auch auf die anderen Frauen in Kants Haushalt, Lampes Ehefrau, „Anna Charlotte Lampin, geb. Kogelin“, für die Kant in seinem Testament explizit sorgt, und seine Tochter, erweitert würde oder Bobrowskis Romane als Graphic Novel unter die Leute kämen, aber „Es ist [ja noch] Zeit“ und „Es ist gut“, um Lampes und Kants erste und letzte Sätze im schon jetzt vorliegenden, wunderbar anregenden Buch zitieren zu dürfen.

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Antje Herzog: Lampe und sein Meister Immanuel Kant.
Graphic Novel.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2017.
149 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783864060687

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