Freiheit, Freundschaft und Familie

Das Auf und Ab vierer Freunde in Isabel Bogdans Roman „Wohnverwandtschaften“

Von Chiara BraßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Chiara Braß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir möchten alle zusammenbleiben“

Isabel Bogdan erhielt 2006 den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzung, 2011 den für Literatur. Zusammen mit Maximilian Buddenbohm wurde sie 2014 zur „Bloggerin des Jahres“ für wasmachendieda.de gekürt. Nach ihren Werken „Der Pfau“ (2016) und „Laufen“ (2019) erzählt sie in ihrem dritten Roman Wohnverwandtschaften von einer ungewöhnlichen Wohngemeinschaft: Vier Menschen wagen in ihrer Lebensmitte den Schritt, ihr Zuhause und ihren Alltag zu teilen, um sich dem Alleinsein und ihren Unsicherheiten zu entziehen. Was zunächst als pragmatische Lösung erscheint, entwickelt sich zu einem Experiment mit unerwarteten Herausforderungen, berührenden Momenten und skurrilen Situationen.

Im Mittelpunkt des Romans stehen die alleinstehende Zahnärztin Constanze, der chaotisch-coole Murat, die erfolglose Schauspielerin Anke und der reiselustige, verwitwete Jörg – vier unterschiedliche Charaktere, die sich aus verschiedenen Beweggründen für ein gemeinsames Wohnmodell entscheiden. Zwischen Alltagsorganisation, unausgesprochenen Konflikten und dem Versuch, alte Lebensmuster abzulegen, müssen sie sich neu erfinden. Der Wunsch nach Gemeinschaft bringt unterschiedliche Komplikationen mit sich: Wie viel Rücksichtnahme ist möglich, ohne gleich die eigene Individualität aufzugeben? Wie organisiert man ein gemeinsames Leben jenseits der traditionellen Familie? Was tun, wenn einer plötzlich krank wird? Als Jörg nach seiner Operation nicht mehr der Alte ist, bricht eine Zeit der Ungewissheit an.

Bogdan wirft einen humorvollen Blick auf das alltägliche Chaos und bedient sich einer treffsicheren Sprache, die mit Humor und Empathie die inneren und äußeren Konflikte ihrer Figuren nachzeichnet. Wenn Anke wieder mal erfolglos von einem Casting ihren Heimweg antritt, gepackt von Frust und Wut, klingt das bei Bogdan so: „Ich nehme nicht den Bus nach Hause, ich marschiere durch den Park und möchte gegen jeden Baum treten und jeden Mülleimer umwerfen. Stattdessen renne ich beinahe ein Kind um, blödes Blag, kannst du nicht gucken, wo du hinläufst?! Ja, sorry, Kind, du kannst nichts dafür. Ich möchte etwas kaputt machen oder mit bloßen Händen ein Eichhörnchen erwürgen.“ Der Typ, der ihr beim Casting den Laufpass erteilt hat, ist für Anke ein „mieser, mistiger Dreckskerl, albernes Saupillemannarschloch!“

Die Kapitel, in denen Constanze, Murat, Anke und Jörg aus der Ich-Perspektive ihre Gedanken und Eindrücke offenbaren, wirken wie Einträge in ihr persönliches Tagebuch; sie verleihen jeder Figur ihre eigene Stimme. So entwickelt sich schnell das Bild des locker-flapsigen Murats, der gerne kocht und mit Freunden kickt. Er nennt seine Kumpels gerne „Habibis“ und bezeichnet ihr Auftreten beim Fußball als „Körperklaus“. Die Gruppen, die gegeneinander spielen, beschreibt er so: „Die einen ziehen so ein rotes Leibchen über, das sind die Roten, die anderen sind die Nackten, obwohl wir ganz angezogen spielen. Nur halt ohne rotes Leibchen. Ich bin heute nackt.“

Auch der 68-jährige reiselustige Jörg offenbart den Leser:innen immer wieder Teile seiner Persönlichkeit, etwa wenn er von seinen Vorbereitungen auf geplante Wanderrouten erzählt: „Am Ende sehe ich womöglich doch nicht mehr so jung aus. Matthias war immer viel sportlicher als ich, ich werde vorher ein bisschen trainieren müssen, damit es nicht zu peinlich wird. Und weil es halt auch vernünftig ist.“ Er wirkt wieder einmal leicht verpeilt, wenn er ein Paar überteuerte Wollsocken für 28 Euro kauft und sich darüber ärgert, dass er sich „diesen Quatsch“ hat „aufschwatzen lassen.“

Daran schließen sich stets abwechselnd Kapitel an, die kurze Dialogpassagen der Protagonist:innen enthalten und szenisch strukturiert sind, sie erzeugen eine drehbuchartige Wirkung. Eine Nummerierung erhalten die Kapitel nicht, sie sind überschrieben mit den Namen der teilnehmenden Figuren sowie Wochentag und Datum, z. B. „Anke, Murat, Jörg. Donnerstag, 19. Januar 2023“, was den tagebuchartigen Stil des Romans unterstützt. Das letzte Kapitel schließt aus der Perspektive von Anke, Constanze und Murat den Roman in Wir-Form ab.

Nicht nur realitätsnah, sondern ernster klingen Passagen, in denen das Innere der Charaktere für die Leser:innen unmittelbar spürbar wird: „Ich stehe auf, das Leben soll nicht an mir vorbeirauschen, ich will nicht wieder einschlafen, ich will leben, was machen, meine Reise planen.“ Solche Gedankengänge ermöglichen den Blick in die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren und verleihen der sonst locker-luftigen Handlung mehr Tiefgang. Vor allem aber verkörpern sie das alltägliche Leben, mit Sorgen und Ängsten, Freude(n) und Träumen.

Mit Wohnverwandtschaften gelingt Isabel Bogdan ein leichter, unterhaltsamer Roman über Freundschaft, das Zusammenleben und Erkrankung im Alter. Der Roman besticht insbesondere durch seine warmherzige Erzählweise und die liebevoll gezeichneten Figuren. Die Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten, halten stets zusammen und beweisen sich auch in schwierigen Zeiten als Familie. Ein Buch, das zum Schmunzeln bringt, zum Nachdenken anregt und in Zeiten von Spaltung und Unsicherheiten die Wichtigkeit des Zusammenhalts betont.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Isabel Bogdan: Wohnverwandtschaften. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
272 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783462004199

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