Schifffahrt mit Publikum

Dieter Borchmeyer entwirft eine balancierte Summa des Werks von Thomas Mann

Von Andreas SolbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Solbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In zwei Jahren steht der 150. Geburtstag Thomas Manns an – und damit erwartungsgemäß eine grundlegende Überprüfung von Autor und Werk in künstlerischer, politischer und weltanschaulicher Hinsicht. Das zu fällende Urteil ist, je nach der Positionierung der KritikerInnen vorhersehbar, aber dennoch interessant, denn außer Goethe gibt es keinen anderen deutschen Autor und keine andere deutsche Autorin, deren Leben und Werk so eng mit dem Schicksal der Deutschen verbunden ist wie gerade dasjenige von Thomas Mann.

Dieter Borchmeyer legt im Vorfeld der anstehenden Feierlichkeiten 2025 ein opus magnum vor, das nicht das Leben des Autors zum primären Gegenstand macht, sondern das Werk in den Vordergrund stellt – und dabei mit knapp 1600 Seiten einen Längenrekord aufstellt. Die Konzeption des Werks ist so klar wie einfach und nachvollziehbar: 20 Kapitel bündeln in chronologischer Abfolge Werkgruppen und Themenbereiche, die unter Berücksichtigung ausgewählter internationaler Forschungsergebnisse einen Verständnishorizont der Texte entwerfen, der einerseits nicht in aufzählend-gleichberechtigter Beliebigkeit versanden soll, andererseits aber der Leserschaft auch keine idiosynkratischen persönlichen Vorlieben zumutet. Erkennbar sucht Borchmeyer einen Ort zwischen einer zumeist biographischen Arbeit, die das eigene Bild vom Autor präsentiert, und einem der beliebtesten germanistischen Hilfsmittel, dem AutorInnen-Handbuch. Thomas Mann-Handbücher gibt es tatsächlich in mehreren Ausführungen, entweder auf das Gesamtwerk bezogen oder einzelnen Werken gewidmet: Sie sind (Kurzke, Koopmann, Blödorn/Marx) von zumeist hervorragender Qualität, erprobte Hilfsmittel der Wissenschaft und für eine vorgebildete Leserschaft eine gute Orientierung. Die Literaturwissenschaft schätzt an ihnen die implizit oder explizit wertende Auswahl aus der völlig unübersehbaren Sekundärliteratur und natürlich die inhaltliche Einordung. Wozu also ein weiteres Werk dieser Art? Oder ist Borchmeyers Buch doch etwas anderes als ein Handbuch?

Er bringt zwar eine Gesamtbibliographie, neben einer Chronik, die aber als Belegbibliographie gedacht ist, während die ausgewählte Forschung zu einzelnen Texten und Themenbereichen in den Kapitelfußnoten erscheint. Das mag im Ergebnis nicht weit von einem Handbuch entfernt sein, hat aber dennoch eine deutlich andere Qualität: Borchmeyer erfordert eine andere Lesehaltung als die der Handbücher, die sich überwiegend als Nachschlagewerke nutzen lassen. Natürlich kann man sie auch Cover-to-Cover lesen, wird das aber wohl nur ausnahmsweise auch wirklich machen. Ebenso wird man Borchmeyer abschnittweise und auf spezifische Informationen hin lesen können und dürfen – und wird dies wohl auch überwiegend tun, weil der Umfang schon zeitlich Anforderungen stellt, die wahrscheinlich nur wenige LeserInnen erfüllen können und wollen. Anders wäre es möglicherweise, wenn Borchmeyers Buch ein völlig neues Bild des Autors entwerfen wollte, das sich erst im Ablauf seiner Argumentation anschaulich erkennen ließe, aber das ist nicht der Fall. Man fragt sich also, wer soll wie und was lesen? Stellenweise auf einzeln Interessantes oder von Anfang bis Ende? Der Autor wird sich sicher Letzteres wünschen, und es wird auch viele Leser und Leserinnen geben, die der kompetenten Gelehrsamkeit und der souveränen Stilsicherheit Borchmeyers gerne folgen. Das ungeheuere (Vor-)Wissen des Autors, seine elegante Intelligenz und seine sicher ordnende Hand machen die Lektüre immer lohnend, aber sie zeigt auch, dass sich der Autor hier eine besondere Aufgabe gestellt hat, denn er braucht für sein monographisches Projekt einer quasi-narrativen und wissenschaftlich-argumentativen Durcherzählung seines Themas eine eigene Erzählhaltung, die sich einerseits von dem dominanten angelsächsischen Modell der Life-and-Work-Biographien durch energische Betonung der Werkphilologie absetzt, andererseits aber nicht in der sterilen Objektivität der Handbuch-Prosa versandet. Borchmeyers Projekt steht und fällt mit der Lösung dieses Problems, das sich angemessen nur an einem Beispielkapitel analysieren lässt, wobei natürlich keine allgemeinverbindliche Bewertung erreicht werden kann, denn die Geschmäcker sind verschieden. Die 120 Seiten zum Zauberberg bieten sich zu diesem Zweck an, nicht nur, weil der Roman nächstes Jahr 100 Jahre alt wird, sondern auch, weil in seinem Fall eine Anzahl von kommentierenden und zusammenfassenden Arbeiten zum Vergleich einladen. Das Handbuch von Blödorn/Marx geht umfangsmäßig und inhaltlich mit 10 Seiten kaum über einen Lexikonartikel hinaus und ist auch analog strukturiert, die Verfasserin Katrin Max will hauptsächlich über die jüngere Forschung informieren und eine grundlegende Orientierung bieten. Das gilt mutatis mutandis auch für die 30 Seiten in Hermann Kurzkes Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, das streng genommen kein Hand-, sondern ein Studienbuch ist; dort gibt es mehr Kontext, und das Kapitel folgt eher der Struktur und den Themen des Romans, bringt aber auch eine einlässlichere Auseinandersetzung mit der (älteren) Forschungsliteratur. Hans Wyslings Kapitel in Helmut Koopmanns Thomas-Mann-Handbuch ist etwas kürzer als Kurzkes Ausführungen, und er lehnt sich ebenfalls primär an der Romanstruktur an, wobei er die Handlungsentwicklung etwas stärker betont. Sie alle dienen der Grundorientierung, der Vermittlung von Faktenwissen und bringen mehr oder minder unterschiedliche Interpretationsangebote für die Leserschaft. Am ehesten vergleichbar erscheint zunächst der Kommentarband von Michael Neumann zur „Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe“ der Werke des Autors. Neumann bietet 110 Seiten zur Entstehungsgeschichte, Textlage, Quellenlage und zur Rezeptionsgeschichte, etwa 290 Seiten Stellenkommentar plus Anhang, insgesamt etwa 520 Seiten. Mit all dem hat Borchmeyers Arbeit strukturell, inhaltlich und formal-stilistisch nur wenig zu schaffen: Die Handbücher dienen ihm allenfalls als Background, können aber nur in Einzelfällen (Kurzke, Wysling) auch inhaltliche Anregungen bieten. Der einleitende Essay von Neumann entlastet Borchmeyer, weil er fast ausschließlich Kontextmaterial präsentiert. Wer sich über die Entstehung des Romans ausführlich orientieren will, ist dort richtig. Borchmeyer interessiert sich dafür nur in dem Maße, in dem er inhaltlich daraus Gewinn ziehen kann – und das tut er auch. Neumanns Stellenkommentar ist sicher eine nützliche Sache, aber mit knappen 300 Seiten für einen Text von fast 1100 Seiten quantitativ beklagenswert inadäquat. Der mit 740 Seiten deutlich kürzere Doktor Faustus wird im Kommentarband von Ruprecht Wimmer und Stephan Stachorski mit einer Einleitung von 160 Seiten und einem Stellenkommentar von 730 Seiten begleitet, also mit dem fast vierfachen Umfang pro Seite. Neumanns Kommentar konnte dann auch recht erfolgreich als Vorbild für den noch kürzeren Reclam-Kommentar zum Roman von Daniela Langer dienen.

Borchmeyer schwebt allerdings etwas anderes vor, das sich an zwei Beispielen annähernd vergegenständlichen lässt: eine das Gesamtwerk umfassende Darstellung aus einem Guss. Ohne den Anspruch der Vollständigkeit ist dies eine Form, die in der angelsächsischen Tradition bis in die Gegenwart (mit deutlich abnehmender Tendenz zugunsten der Handbücher, die gerne als „Companion“ bezeichnet werden) besteht: T. J. Reeds Thomas Mann. The Uses of Tradition, 1974 bei der Oxford UP erschienen, ist hier ein passendes Beispiel. In Deutschland kommt diesem Modell Helmut Jendreieks Thomas Mann. Der demokratische Roman (1977) am nächsten, der auch explizit das Gesamtwerk ins Auge fasst. Beide Autoren streben kein Handbuchwissen an, beide verfolgen eine oder mehrere Grundideen (Tradition; demokratischer Roman) als Maßstab und interpretatorische Leitlinie, die zugleich als adäquater Ausdruck der zeitgenössischen Forschungstendenzen gelten können, und beide entstehen zu einer Zeit, als die Brahminen der Werkimmanenz dem entschiedenen Drängen der sozialgeschichtlichen, psychoanalytischen, rezeptionstheoretischen, feministischen, marxistischen und strukturalistischen Literaturtheorie weichen müssen. Ihre Ansätze sind für neuere Tendenzen offen und kooperationsbereit, aber es liegt ihnen fern, wie es nur kurze Zeit später Mode wird, die Bedeutungsdimension von Texten grundsätzlich zu leugnen. Ihre Exegese erlaubt fast alles, allerdings verweigert sie sich dem semantischen Nihilismus. In dieser Tradition steht auch die Arbeit von Dieter Borchmeyer, die die zusätzlichen Ergebnisse zweier Forschungsgenerationen überblicken kann, die zahlreiche neue Erkenntnisse, aber kaum grundstürzende Umwertungen hervorgebracht haben. Dieses Faktum ist an sich durchaus bemerkenswert, wenn man es etwa mit der Kafka-Forschung vergleicht, in der neue Methodenansätze eine Tendenz besitzen, den Autor ganz er- und begreifen zu wollen, während sich bei Thomas Mann die modernen Theorie-Spins wie Raum, Emotion, Queer, Materialität etc. immer in ein vorgängiges Gesamtbild einzuordnen scheinen. Der Grund dafür ist relativ einfach auszumachen: Kafkas Horror ist die limitierende, ‚richtige‘ und eindeutige Semantisierung seiner Texte, deren Dimensionen er grundsätzlich offen zu halten bestrebt ist, während Thomas Manns ‚horror vacui‘ sich auf semantische Leerstellen richtet, so dass seine Texte allesamt ein literaturwissenschaftlicher Paradiesgarten von unzähligen Verweisen, Anspielungen, Inter- und Transtexten ist, deren Vielfalt die Interpretationsinstanzen schwindlig spielt. Dass Autor- und Erzählinstanz durch die mäandernden Metamorphosen der Ironie am Ende alles wieder destabilisieren, steigert den Reiz nur noch und verschafft dem lesenden und interpretierenden Publikum manche Freude. Gleichzeitig aber gelingt es neueren Ansätzen nicht, sich als dominante Auslegungsmethode gegen die Dynamik der intertextuellen Verweise vollends durchzusetzen, und so erweisen sich die meisten der Romane und die großen Erzählungen als resistente Bollwerke gegen jeglichen Methodenimperialismus. Das hat dann aber auch bei Borchmeyer Konsequenzen, denn die Forschung bemüht sich seit Jahrzehnten darum, die zahllos scheinenden thematischen, motivischen, ideengeschichtlichen, musikalischen, medialen, mythologischen, sexuellen, politischen etc. Anspielungshorizonte ebenso wie die offenen und verdeckten stilistischen und rhetorischen Transtexte immer und immer wieder weiter und tiefer auszuloten, und so geraten deren Musterinterpretationen nicht selten zu einer mehr oder minder lose zusammenhängenden Collage von Listen der um die Grundaussagen der Texte gruppierten Darstellungsmittel, die in der Spezialforschung zu den einzelnen Titeln analysiert wird. Dabei entstehen tatsächlich auch Deutungskontroversen, die entweder von lokaler bzw. regionaler (Schopenhauer-Rezeption) oder aber von genereller Bedeutung sind (politische Position, sexuelle Identität). Da Thomas Mann finale Fixierungen nicht immer zuträglich erscheinen, aber auch weil er in nicht wenigen Belangen keine widerspruchsfreie Überzeugung vorweisen kann, sind es diese Unsicherheiten, die auch Borchmeyer dazu dienen, seine eigene Sicht argumentativ zum Ordnungsprinzip der Darstellung zu machen. Das geschieht durchweg vor dem Hintergrund eines immensen und beängstigenden Wissens, wird aber durch eine kritische und nachvollziehbare Souveränität des Urteils begleitet, dem man, selbst wenn man anderer Meinung sein sollte, attestieren muss, dass man die Dinge sehr wohl so sehen kann, wie Borchmeyer es eher vorschlägt als dekretiert.

Sein „Zauberberg“-Kapitel zeigt all dies in exemplarischer Form. Die 120 Seiten sind in zehn Abschnitte variabler Länge unterteilt, die sich ausgewählten zentralen Themen widmen: Entstehung, Zeit, Perspektivismus, Bildungsroman, Liebe, Dualismus, Mitte als Vermittlung, Musik, Endspiel und intellektueller Roman. Der Autor wählt zweifellos Kernbereiche der Darstellung aus, aber man könnte sich ein ebenso interessantes Kapitel mit gänzlich anderen Themen vorstellen: Sexualität und Gender, Materialität, Rhetorik, Intertextualität als Verfahren, Self-Fashioning der Figuren und der Erzählinstanz, narratologische Details usw. Vieles davon wird in Borchmeyers Darstellung auch tatsächlich angesprochen und beleuchtet, aber es sind die von ihm ausgewählten Themen, die notwendig im Vordergrund stehen, denn sie und nur sie erlauben es ihm, eine einheitliche Sicht des Textes zu gewinnen. Dabei wird recht schnell deutlich, dass es dabei um eine zentrale Frage geht, deren Beantwortung alles andere in Perspektive setzt: Welche Position nehmen Erzählinstanz, Figuren und Autor in der Auseinandersetzung zwischen Naphta und Settembrini ein? Die Antwort ist, wie kann es bei Thomas Mann anders sein, vielsagend, ambig, unentschieden und stets im Fluss – zumindest was die zentrale Reflektorfigur Hans Castorp betrifft, der einerseits im Schnee-Kapitel zur träumerischen und weltentrückten Erkenntnis gelangt, dass man dem Tode keine Macht über das Leben geben dürfe und dass die „Sympathie mit dem Tod“ ein gefährliches retrogrades Relikt einer missverstandenen Romantik sei, andererseits aber betont, dass er gerade dieser Sympathie einen dauerhaften Platz in seinem Herzen einräumt, allerdings ohne ihr Handlungsmacht zu gewähren. Die Erzählinstanz scheint sich von einer Settembrini-kritischen zu einer eher unterstützenden Position zu verändern, während der Autor, Borchmeyer bringt alle unterstützenden Zitate aus den Briefen, Schriften und Tagebüchern, immer wieder seinen Sinneswandel seit Kriegsende hin zu einem auch für ihn wohl schillernden Humanismus unterstreicht. Doch nicht nur daran orientiert sich Borchmeyer. Es ist ein Bild des Bewusstseins des Autors und seiner Erzählinstanzen, das den intellektuellen Entwicklungsgang von den Buddenbrooks über den Zauberberg und den Joseph zum Doktor Faustus vereindeutigt und sinnvoll erscheinen lässt, eine stimmige, wenngleich nicht unanfechtbare Vorstellung, die zum Leitbild wird. Auch wer hier Zweifel hegt und Anlass findet, ein gar nicht so unterirdisches Weiterleben der intellektuellen Welt der Betrachtungen eines Unpolitischen zu vermuten, kann mit Borchmeyers Konstruktion leben und seine Ausführungen insgesamt akzeptieren, denn sie präsentieren ein stimmiges und geschlossenes Bild von Autor und Werk, das zwar entschieden, aber nie diktatorisch auftritt, Bedenken und Gegenargumente zulässt und einlässlich diskutiert. Dabei zieht der Verfasser an den entscheidenden Stellen immer wieder Goethe als einen übergeordneten Bezugspunkt heran (Perspektivismus, Dialektik, Steigerung, Bildungsroman) und bindet so Manns Vorgehen an ein gleichberechtigtes Vorbild an.

Am Ende sehen wir den Verfasser, wie er seine analytische Einschätzung durch allerlei Beobachtungen abwägend entwickelt, und mit der ‚suspension of disbelief‘ können wir ihm folgen. Auch wir sind den Weg mitgegangen und haben vieles wiedererkannt, manches neue erfahren, und Vergessenes und Verdrängtes ist uns wieder bewusst geworden. Die Argumentation ist von langer Hand leichtfüßig vorbereitet worden, und sie pflanzt sich bis ans Ende des Buches fort – immer auf Einwände und Gegenbeispiele gefasst, immer sine ira et studio.

Das Unentschieden-Uneindeutige in Manns Texten lässt sich in der Perspektive der modernen Kulturtheorie als Fluidität, als Verflüssigung der Grenzen des Klassischen, des Genormten und Normativen verstehen, und gerade daraus ziehen gegenwärtige Exegesen nicht selten auch methodischen Profit, der seine Grenze jedoch an der unumschränkten Wirkungsmacht der Ironie und der Rhetorik findet. Borchmeyer geht diesen Weg des Foregrounding fluider Verfahren allerdings nur ein Stück weit mit. Am Schluss seiner Arbeit soll ein fassbares und nachvollziehbares Profil von Autor und Werk stehen, kein Wimmelbild von autonomen, subjektlosen Intentionen, die sich einem zentralen Kern entziehen. Der Eindruck einer collagierten Agglomeration diverser Tendenzen in den Texten hat bei ihm nur so weit Bestand, als er als künstlerisches Spiel einen überzeugenden ästhetischen Effekt erzeugt. Als narrative Eigenbewegung mit Tendenzen zur Verselbständigung gefährden sie die unterschwellige Einheit des Werks, die Borchmeyer am Herzen liegt. Sein Versuch, dieses Medusenhaupt von nur schwer kontrollierbaren semantischen Potenzen zu domestizieren, ist bewunderungswürdig, aber er hat seinen Preis. Borchmeyer zielt letztlich auf ein großes Narrativ des Thomas Mann-Kosmos, mit maximaler Berücksichtigung aller angemessenen Deutungsvarianten, aber doch erkennbar auf ein einheitliches Bild ausgerichtet. Das wird unter anderem an der starken Konzentration auf die Autorstimme deutlich, die zwar durchweg kritisch kontextualisiert wird, aber dennoch mit einer Autorität ausgestattet ist, die zu vielen modernen theoretischen Auffassung der Rolle des Autors im Widerspruch steht, für den Verfasser aber unverzichtbar ist, denn er will nicht sein persönliches Bild des Autors vorstellen, sondern ein belastbares Werkporträt liefern, wofür die Autorstimme, gerade weil sie nicht eindeutig ist, die einzige Möglichkeit sein kann – wenn man sich die Ziele setzt, die Borchmeyer verfolgt. So wird seine Darstellung für einen Teil der gegenwärtigen Literaturwissenschaft kein Referenztext werden, ironischerweise aus den gleichen Gründen, aus denen er ein willkommenes Geschenk für andere sein wird. Die kritischen Stimmen werden schon an dem ganzen Unterfangen wenig zu loben finden, eine einheitliche und in sich stimmige Auffassung des Gesamtwerks eines kanonischen Autors des Bildungsbürgertums scheint ihnen so unzeitgemäß wie Herrscherbiographien in der Geschichtswissenschaft. Wenn sich überhaupt eine Beschäftigung mit Thomas Mann lohnen soll, dann müsste sie nach Auffassung dieser methodischen Tendenzen auf das genaue Gegenteil gerichtet sein: nicht Einheit in der Vielgestaltigkeit, sondern Diversität, Fluidität, Dezentralisierung von Autor- und Erzählstimme. Dass sich das Werk des Autors mit diesen Vorgaben nur mit größerem Aufwand analysieren lässt, hat allerdings dazu geführt, dass es nicht zum bevorzugten Schauplatz moderner Exegesen geworden ist; dass es dennoch möglich und sogar äußerst lohnend sein kann, zeigen die vorliegenden Ergebnisse beispielsweise eines queer reading. Tatsächlich erfordern und limitieren Borchmeyers Darstellungsziele die Herangehensmethode. Sie ist auf eine im besten Sinne äußerst kenntnisreiche und liberale Texthermeneutik ausgerichtet, fragend, abwägend, die historischen und ästhetischen Kontexte mit kritischer Intelligenz souverän überblickend; und sie rechnet mit einer überdurchschnittlich gebildeten Leserschaft, die – und das ist der entscheidende Punkt – Borchmeyers Intentionen erkennt, ihnen gewachsen ist und sie unterstützt. Wer sich diesem Buch widmet, sollte nicht nur eine passagere Kenntnis des Autors Mann mitbringen, sondern auf eine solide Mehrfachlektüre zurückblicken können. Als Einführung ist es nicht geeignet, seine Meriten erschließen sich am schönsten den Initiierten. Wer bei der Lektüre gleichzeitig Freude und Erkenntnis erfahren möchte, wird nicht auf die kritische Dekonstruktion des Autors erpicht sein oder eine Umwertung des traditionellen Verständnisses des Werks von Thomas Mann erwarten. Ja man könnte vielleicht behaupten, dass nur, wer den Autor so sehr schätzt, dass dessen einlässliche Lektüre schon im Vorfeld bewältigt wurde, an Borchmeyers Buch Gefallen finden wird, denn es ist ein Buch für das Lesepublikum, das vor der Literaturwissenschaft bestehen kann, ohne sich mit den nicht immer unterhaltsamen Finessen der Philologie zu belasten. So erscheint diese im vollen Wortsinn große Arbeit als eindrucksvolles Beispiel einer verstehenden Literaturwissenschaft, eines Flaggschiffes hermeneutischer Leistungsfähigkeit und als Liniendampfer für literarische Luxusreisende. Thomas Mann hätte es als Passagier sicher gerne gelesen, im Liegestuhl auf Deck, eine Zigarre in der Hand, freundlich lächelnd – mit einem ganz leisen mokanten Zug um die Lippen. Wie sonst auch.

Titelbild

Dieter Borchmeyer: Thomas Mann. Werk und Zeit.
Insel Verlag, Berlin 2022.
1552 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783458643418

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