Eine Frau im Exil auf der Suche nach Erfüllung

Der neueste Roman „Erfüllung“ von Nina Bouraoui strotzt vor sinnlichen Bildern, die ins Klischeehafte übergehen.

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Algier gegen Ende der 1970er Jahre herrscht ein hitziges Klima. Nach Jahren des Krieges erlangte das Land 1962 seine Unabhängigkeit, doch das Verhältnis zwischen Franzosen, Einheimischen und Pieds-noirs ist weiterhin von Feindseligkeiten und Misstrauen geprägt, französische Frauen hält man dort für „Sexobjekte“ und „französische Familien integrieren sich nicht“, so die Überzeugung der Ich-Erzählerin Michèle Akli. Die Französin will sowieso von Politik wenig wissen, sie zieht sich in den Schutz ihres Hauses und ihres üppigen Gartens zurück. Dort verlaufen die Tage und Wochen zäh, die Welt scheint sich nur sehr stockend um die Protagonistin zu drehen. Sie beschäftigt sich mit den Pflanzen, mit Küchenrezepten, „press[t] Zitronen und Orangen aus, so wie [sie ihren] Frust auspress[t]“, und kreist dabei um sich selbst, das heißt um die unglückliche Beziehung zu ihrem algerischen Mann Brahim, ihr distanziertes Verhältnis zum pubertierenden Sohn Erwan, und ihre Verlorenheit in diesem Land, das ihr fremd erscheint. Denn wer sie selbst ist oder sein könnte, definiert Michèle vor allem über ihre Beziehung zu anderen, die sie in ihrer Unzufriedenheit und ihrer rastlosen Suche nach Erfüllung als Projektionsflächen benutzt.

Ihren Notizheften, die der Erzählung formal zugrunde liegen, klagt sie ihr Leid: „Ich verbringe mehr Zeit damit, mir ein Leben vorzustellen, als damit mein eigenes zu Leben.“ Sie kenne sich selbst nicht, schreibt sie, sie habe ihre Weiblichkeit noch nicht entdeckt. Sie würde gerne als Lehrerin an der französischen Schule arbeiten, hat aber Angst, dass ihr Sohn, den man als Charakter nicht genauer kennenlernt, sich für sie schämen könnte. Noch dazu ist sie Alkoholikerin: „Der Wein ist eine Landschaft, die in mir Raum greift und mich an den Rand des Glücks führt.“ Die poetisch verdichtete Sprache von Nina Bouraoui lässt einen zunächst in eine lebendige Welt voller Bilder, Klänge und Gerüche eintauchen, und die Figur der Michèle scheint, zumindest zu Beginn des Buchs, durch ihre körperlich-sinnliche Wahrnehmung geradezu mit ihrer Umgebung zu verschmelzen: Körper und Welt gehen ineinander über in kunstvollen Sätzen wie „Die Haut ist ein Hafen für die, die keine Heimat mehr haben“; allerdings noch besser im französischen Original ohne die Hafen-Metapher: „La peau est l’endroit de ceux qui n’ont plus d’attaches.“

Nina Bouraoui, geboren 1967 in Rennes als Tochter eines algerischen Vaters und einer französischen Mutter, ist bekannt für ihre körperlich-sinnliche Sprache. Im Schreiben seien Körper und Geist nicht voneinander getrennt, sagte die Schriftstellerin. Nach Geiseln (2021) ist dies die zweite deutsche Übersetzung Bouraouis von Nathalie Rouanet, erschienen beim Schweizer Elster Salis Verlag. Satisfaction heißt der neue Roman im Französischen und der naheliegende Verweis auf den Hit der Rolling Stones bleibt im Text nicht aus. Michèle Akli „can’t get no satisfaction“, so der psychologische Kern des Buchs. Eine trinkende, melancholische Heldin à la Marguerite Duras, eine Madame Bovary im algerischen Exil, eine Fremde, die jedoch im Gegensatz zu Camus‘ Meursault ein aufreibendes Innenleben besitzt, voller wuchernder Fantasien und obsessiver Gedankengänge, typisch für Bouraouis Figuren. Ihr rastloses Verlangen fixiert Michèle schließlich auf eine andere Frau, die schöne Französin Catherine, die zu einem Spiegelbild wird, dem Michèle nicht gerecht werden kann. Catherine lebt mit ihrem stets abwesenden Mann und ihrer Tochter im Shell-Gebäude auf einem Hügel über der Stadt, und repräsentiert so den mächtigen wirtschaftlichen und politischen Einfluss Frankreichs auch nach der Unabhängigkeit Algeriens.

Während die Fixierung auf die unerreichbare Catherine noch nachvollziehbar ist, bleibt unklar, wieso Michèle auch eine krankhafte Obsession mit Catherines Tochter Bruce entwickelt. Sie behauptet, eifersüchtig auf die immer enger werdende Freundschaft der Klassenkamerad:innen Erwan und Bruce zu sein, scheint geradezu abgestoßen von Bruces androgynem Auftreten, und entwickelt paranoide Fantasien, in denen Bruce als Ursprung allen Übels fungiert. Erkennt Michèle ihre, nach eigener Aussage, mangelnde Weiblichkeit in Bruce wieder und ihr Selbsthass wird so zum Hass auf das Kind? Für diese Deutung spricht Michèles klare Einteilung der Welt in die Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, auch wenn sie teilweise mit diesen Kategorien hadert, was nicht überrascht, wenn man sich mit Nina Bouraouis Werk auseinandergesetzt hat. Die mehrfach preisgekrönte Autorin gehört seit ihrem Debütroman La Voyageuse interdite (1991), erschienen bei Gallimard, zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Schriftsteller:innen Frankreichs und schrieb bereits mehrfach über (Homo-)Sexualität, geschlechtliche und nationale Identität im Kontext Algeriens als dem Land, in dem sie die ersten 14 Jahre ihres Lebens aufwuchs.

So schemenhaft die Figuren des Buchs auftreten, so eindrücklich ist allerdings die Umgebung der Handlung dargestellt, wobei in den Beschreibungen der Landschaft Algeriens an einigen Stellen eine Perspektive der longue durée evoziert wird, was zu den interessanteren Deutungsmöglichkeiten des Buchs gehört:

Ich betrachtete das Meer, darin ruhen die Wesen, die wir einmal waren. Die römischen Ruinen sind unsere Behausung. Unsere Körper am Strand sind die Spiegelbilder der versunkenen Körper. Von Jahrhundert zu Jahrhundert wiederholen wir die Geschichte unserer Niederlagen und unserer Fehler ohne Reue.

In Exilliteratur häufig verwendete Topoi wie der des Gartens als Ort der Sehnsucht sowie die mit Vergleichen überfrachtete Sprache („Die Tajine: ein Sarkophag“), in der die Erzählerin ihre Umwelt erfasst, lassen die Erzählung an einigen Stellen leider in den klischeehaften Exotismus eines ‚Algerien-Romans‘ abdriften:

Als Kind träumte ich von einem geheimnisvollen, orientalischen Algerien; einem Algerien der Paläste und Dünen, Prinzen und Vollblutpferde, von hängenden Gärten und Heidelandschaften; einem von Marabuts und Nymphen bevölkerten Algerien, die im Dampf der Hammams schmachten; einem Algerien der Märchen, Legenden und Magier; einem Land, das, da war ich mir sicher, mich erwartete, um mich zu verwandeln.

Auch wenn die erwachsene Michèle Akli sich vermeintlich von ihren kindlichen Vorstellungen distanziert, reproduziert sie dennoch in ihrer Abschottung und ihren Fantastereien einen kolonialistischen Blick auf Land und Bevölkerung, deren Kultur sie mit Gewalt, Unterdrückung und Gefahr gleichsetzt. „Etwas wird geschehen, ein Unglück oder eine Offenbarung“, prophezeit sie – doch in der äußeren Handlung passiert dann enttäuschend wenig, auch die innere Entwicklung der Protagonistin bleibt aus, bis auf eine kleine narzisstische Kränkung gegen Ende, die sie in ihren Träumereien etwas aus der Bahn zu werfen scheint.

Es ist die Sprache der Ich-Erzählerin, diese befremdliche Mischung aus totaler Verlorenheit und sinnlicher Immersion, und dann wieder distanzierter Selbstreflexion, zu Papier gebracht in jenen hölzernen Selbstdiagnosen, welche die Hauptfigur und letztendlich damit auch die Erzählung unglaubwürdig erscheinen lässt:

Die Flammen erhellen die Nacht gleichsam von innen. Erwan läuft im Garten herum und singt Upside Down, den Song auf dem Plattenspieler. Der Refrain spiegelt meinen Gemütszustand wider, er spricht von Unruhe, von Anziehung und von den Wirren, die sie nach sich zieht. Auch ich habe meine Höhen und Tiefen, kann aber weder mein Hochgefühl noch meine Ängste festhalten.

Derartige Kundgebungen wirken leider als Illusionsbrecher in der bilderreichen Erzählung, in die man zu Beginn der Lektüre gern hineintaucht, und die Figur Michèle Akli bleibt eine Schablone vor dem lebendigen Hintergrund der algerischen Landschaft. Am Ende ist ihr einst üppiger Garten verwahrlost, „die Blumen verfault, vertrocknet und verwelkt“. Was das wohl für die Entwicklung der Hauptfigur und für ihre Zukunft in Algier bedeuten mag, lässt sich unschwer erahnen.

Titelbild

Nina Bouraoui: Erfüllung.
Aus dem Französischen von Nathalie Rouanet.
Elster & Salis AG, Zürich 2022.
232 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783906903194

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