Den eigenen Schmerz für andere erzählen
Große Literatur: Anne Boyers „Die Unsterblichen. Krankheit, Körper, Kapitalismus“ ist ein wichtiges, kämpferisches Buch über die beinahe tödliche Brustkrebserkrankung der Autorin
Von Friederike Gösweiner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist kein Buch, das sich leicht liest, auch wenn es weder sprachlich kapriziös noch formal kompliziert ist, denn es ist ein Buch, das schmerzt. Und dennoch werden es viele vermutlich schnell ausgelesen haben, denn Anne Boyers Die Unsterblichen. Krankheit, Körper, Kapitalismus, im Original The Undying. Pain, Vulnerability, Mortality, Medicine, Art, Time, Dreams, Data, Exhaustion, Cancer, and Care, ist große Literatur. Man verzeiht ihr, wenn sie schmerzt, denn sie tut es nicht grundlos.
Im Fall von Boyers Die Unsterblichen, aus dem amerikanischen Englisch souverän übersetzt von Daniela Seel, ist der Schmerz, mit dem das Buch operiert, ein vielgestaltiger – wie auch der Text ein vielgestaltiger ist. Zunächst sind die rund 250 Seiten ein schmerzhafter Bericht: der Krankenbericht einer Anfang Vierzigjährigen, bei der tripel-negativer Brustkrebs diagnostiziert wird, die aggressivste Form des Mammakarzinoms. Die Unsterblichen ist aber kein eng chronologischer Abriss über Boyers Krankheitsverlauf, von der Diagnose über das Legen des Chemoports, die schlimmen Nebenwirkungen der Chemotherapie bis zur doppelten Brustamputation. All dieses persönliche Leid, Boyers eigener, subjektiver Schmerz hat seinen Platz in dem Buch. Aber der Text begnügt sich bei weitem nicht damit, „nur“ das zu sein – Zeugnis einer heute sehr verbreiteten, so gut wie ausschließlich Frauen betreffenden brutalen und oftmals tödlichen Krankheit.
Denn Boyer beginnt nach ihrer Diagnose zu recherchieren, sie setzt ihren eignen Schmerz in Relation zu jenem anderer, sich selbst in Relation zu ihrer Umwelt. Sie stößt auf Schriftstellerinnen vor ihr, die an dieser Krankheit litten – und teils auch starben; sie findet Selbsthilfegruppen im Netz und Vloggerinnen, die ihre Krankheit öffentlich machen, sie vergleicht ihre eigene Diagnose mit früheren Krankheitsverläufen, sie liest Hieroi Logoi von Aelius Aristides und John Donnes Devotions upon Emergent Occasions, aber auch Krankheitsstatistiken und Medikamentenbeschreibungen und über die Ursprünge und das Geschäftsmodell des Pink Ribbons. Und trotz ihres Schmerzes bleibt sie achtsam und wach ihrer eigenen Behandlung gegenüber, das belegt die Vielzahl an sehr konkreten Details, die Boyer über die „Krebspraxis“, die man einer Patientin wie ihr in den USA heute angedeihen lässt, einstreut. Nicht zuletzt deshalb schmerzt auch die Kritik, die sie daran übt, weil sich in ihr die unbarmherzige, ultrakapitalistische Fratze Amerikas so schamlos offenbart, so sehr – weil sie mit Boyers individueller Erfahrung faktisch so gut unterfüttert ist, dass nüchterne Argumente in beinahe unerträglicher Heftigkeit emotional verstärkt werden.
Formal keiner Gattung zugeordnet und 2020 mit dem Pulitzer Prize in der Kategorie General Nonfiction ausgezeichnet, ist Die Unsterblichen also nicht „nur“ ein eindringlicher Krankenbericht, sondern auch philosophischer Essay, psychologische Selbststudie, soziopolitische Reportage – und zuweilen, an ein paar Stellen, wenn Boyer, die vor allem als Lyrikerin bekannt ist, die Zügel ihrer Sprache loser lässt, auch Poesie – um einen Gedanken noch stärker zu verdeutlichen oder um all das, was sich eben nicht sagen lässt in den Textsorten, die sie bedient, vielleicht eben doch ausdrücken zu können.
Und immer wieder reflektiert Boyer die eigene Schreibabsicht auch mit, sie weiß um die Problematik, von Krankheit zu berichten, sie weiß von der Schwierigkeit, Schmerz zu erzählen. Eine immense Fähigkeit zur Selbstreflexion und gleichzeitig auch zur Selbstabstraktion zeichnet Die Unsterblichen vielleicht am meisten aus. Hier wird nicht (nur) der eigene Schmerz um seiner selbst willen erklärt, hier wird Schmerz (auch) stellvertretend als Schmerz anderer erzählt und auch für andere erzählt. Damit wird der Text zu einem Zeugnis eines Subjekts, das selbst in Zeiten größter individueller Not ein ungebrochenes Interesse am Anderen, Fremden zeigt, sich also stets in Relation begreift, sich im Verhältnis zum System, zu seinem größeren umgebenden Kontext betrachtet. Aus dieser Haltung heraus schöpfen der Text – und wohl auch die Autorin, so scheint es – ihre immense Kraft.
Aufgrund der starken Orientierung hin zum anderen könnte man versucht sein, Die Unsterblichen als ein Zeugnis typisch weiblichen Schreibens zu deuten, jedenfalls aber ist es ein Buch, das für die emotionale Wucht und die vollkommene rationale Verstörung einer beinahe tödlichen Krankheit einen absolut überzeugenden literarischen Umgang gefunden hat, der in vielem sicher als richtungsweisend gelten kann. Vor allem aber gelingt Boyer damit ein Text, der aufgrund seiner Klugheit, seiner gedanklichen Tiefe und des noblen und so disziplinierten, starken Kämpferherzes, das aus seinen Zeilen spricht, tiefen Eindruck hinterlässt und sehr berührt.
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