Austreibung der Kindheit

Émile Bravos Zyklus „Spirou oder: die Hoffnung“ geht auf die Anfänge Spirous im besetzen Belgien zurück

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spirou: Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, 1938, wurde die Reihe um den jugendlichen Pagen ins Leben gerufen, der zum Abenteurer und Reporter werden würde und der bis heute in immer neuen Bänden erscheint. Kurze Zeit später wurde Spirou der ein wenig trottelige Fantasio und nach dem Krieg das Marsupilami zu Seite gestellt (ein merkwürdiges gelbes Tier mit schwarzen Punkten und einem sehr sehr langen Greifschwanz; der Berliner Comic-Zeichner Flix hat dem Marsupilami jüngst noch zwei Alben gewidmet.) Seitdem haben mehrere Zeichner und Autoren die Figur betreut und weiterentwickelt, offensichtlich sehr erfolgreich. Die Gesammelten Werke sind bei Band 15 und dem Jahr 1991 angelangt. Fortsetzung folgt.

Nun hat der französische Zeichner und Autor Émile Bravo einen Zyklus zum Gesamtwerk hinzugefügt, der dem ewig-juvenilen Abenteurer, der aus seinen Pagenklamotten nicht herauskommt, die Kindheit und das vergnügte Dasein auf ziemlich harsche Tour austreibt.

Schuld daran sind die Deutschen, die 1940 Belgien besetzten, bis sie 1944 von den Alliierten vertrieben wurden. Die Comics um Spirou (wie Comics überhaupt) haben immer auch ihre politische Gegenwart gezeigt, zumal die Erfindung der Reihe halbwegs mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammenfällt. Das aber hat wenig damit zu tun, dass Comics erst seit relativ kurzer Zeit nicht mehr als genuine Kinderliteratur gelten können. Mit Émile Bravos Zyklus wird aus dem Politischen im Comic Ernst, bitterer Ernst. Denn Spirou oder: die Hoffnung erzählt vom Leben und Überleben der beiden Haupthelden der Reihe – neben Spirou eben auch sein Reporterfreund Fantasio – im besetzten Belgien. Dabei wird Spirous durchgängige Friedfertigkeit, sein Wunsch, Gutes, ja das Richtige zu tun und für seine Freunde einzustehen, auf eine harte Probe gestellt, nicht zuletzt, weil die Folgen der guten Tat gelegentlich fatal sind.

Dabei haben die deutschen Besatzer im Comic kaum Auftritte – hin und wieder marschierende Kolonnen oder herumschnüffelnde Gestapo-Leute, die eine oder andere Episode, in der die deutschen Soldaten unvermeidlich sind. Präsent genug sind sie aber dennoch.

Spirou und Fantasio haben allerdings mehr mit den unfreundlichen Franzosen, ihren faschistischen Landsleuten, den klerikalen Kommunistenhassern und den rückgratlosen Kollaborateuren zu tun, die sich den Deutschen ergeben und gegen ihre Landsleute hetzen. Und eben mit jenen Landsleuten, die in der Not selbstverständliche Souveränität üben und Risiken eingehen, wenn es denn selbstverständlich ist, sich für andere zu engagieren. Diese belgische Welt, die von außen überrollt wurde, muss sich auch jetzt bewähren, was mit widersprüchlichem Erfolg gekrönt wird. Was zu erwarten ist – aber eben im Comic auch erzählt werden muss.

Ihre vergleichsweise seltenen Auftritte macht die Bedrohung durch die faschistischen Besatzer nicht geringer oder harmloser, wie eben gerade die Freunde Spirous und Fantasios zeigen, die unvermittelt in einem der Gestapo-Keller verschwinden. Oder die ständigen Verhaftungen und Transporte, die aus den belgischen Lagern nach Deutschland und Polen verschickt werden.

Mehr und mehr werden Spirou und Fantasio in den Widerstand gegen die Deutschen einbezogen. Sie versorgen Freunde mit Lebensmitteln, verschaffen jüdischen Freunden Zufluchtsorte und versuchen, gefälschte Papiere für sie zu besorgen, sie betreiben selbst Sabotage, um den Deportierten die Flucht aus den Transportzügen zu ermöglichen. Und müssen sich doch damit auseinandersetzen, dass sie nicht immer voraussehen können, was sie mit dem was sie tun, auslösen – wie eben bei dem im letzten Moment durch Spirou vereitelten Bombenanschlag auf einen der Transportzüge, mit dem dann enge Freunde der beiden Helden ins KZ und in den Tod geschickt werden.

Vier Bände umfasst Bravos Zyklus, eben die vier Jahre, die die Besatzung Belgiens dauerte. Um dies angemessen erzählerisch zu fassen, braucht es einen langen Atem, den Bravo in der Tat beweist. Dabei beschränkt er sich in den Darstellungsmitteln weitgehend auf die lineare Abfolge der Zeichnungen, die nur selten den vierzeiligen Rahmen durchbrechen. Hin und wieder finden sich halbseitige Formate. Zeichnungen, die die rechteckige Rahmung durchbrechen, finden sich aber nicht. Die Dynamik der Comicsprache, die sich in anderen Produktionen findet, wird hier zugunsten einer bedrohlichen Normalität und Regelmäßigkeit vermieden.

In diese bedrohliche Austreibung der Kindheit Spirous verwoben ist die Geschichte des jüdischen Malerpaares Felix Nussbaum und Felka Platek, die zu den engen Freunden Spirous und Fantasios gehören und die sich während der Besatzung lange versteckt halten können. Spirou versorgt sie mit Lebensmitteln, versucht sie aus Brüssel zu schmuggeln, was ihm nicht gelingt. Immer wieder integriert Bravo Bilder vor allem Nussbaums in seine Geschichte, die sich mehr und mehr der Bedrohung durch die faschistischen Besatzer ergeben. Nussbaum wird das fröhliche und hoffnungsvolle Bild, das Spirou sich von ihm wünscht, nicht malen. Statt dessen aber den „Triumph des Todes“, bevor er und Felka – in dieser Geschichte – durch ein Missgeschick ihres besten Freundes Spirous und ihrer wohlmeinenden Wirtin entdeckt und auf ihre letzte Reise geschickt werden. Ein deprimierendes Ende, das sich nur durch den ungetrübten Lebensmut Spirous ertragen lässt.

Wenn man allerdings mäkeln will, dann an der kleinen Unwucht, die Bravo dann doch zulässt: Die Fokussierung auf Nussbaum, während dessen Frau, Felka Platek, keine weitere Berücksichtigung findet. Und die Belohnung, die einer der widerständigen Belgier nach dem Krieg von seinem König erhält, nicht seinen Hof zurück nämlich, sondern ein Gut in Belgisch Kongo – das bekommt man einem lapidaren Hinweis auf die Aufsässigkeit des belgischen Landwirts kaum aufgewogen.

Titelbild

Emile Bravo: Ein Ende und ein Neuanfang / Szenario und Zeichnungen. Émile Bravo.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock.
Carlsen Verlag, Hamburg 2022.
45 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783551780478

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