Frühling in finsteren Zeiten

Bertolt Brechts Gedicht „Frühling 1938“

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Bertolt Brecht

Frühling 1938

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Heute, Ostersonntag früh
Ging ein plötzlicher Schneesturm über die Insel.
Zwischen den grünenden Hecken lag Schnee. Mein junger Sohn
Holte mich zu einem Aprikosenbäumchen an der Hausmauer
Von einem Werk weg, in dem ich auf diejenigen mit dem Finger deutete
Die einen Krieg vorbereiteten, der
Den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und mich
Vertilgen muß. Schweigend
Legten wir einen Sack
Über den frierenden Baum.

Das Frühlingsgedicht ist ein beliebtes Genre. Sein Sujet weckt Erwartungen von wiedergefundener Leichtigkeit und frischer Lebensfreude. Das Ende des Winters ist für die meisten Menschen eine belebende, ja beglückende Erfahrung. Das Frühlingsgedicht dient herkömmlicherweise dazu, diese Gefühle auszudrücken. Goethe, Heine und Mörike etwa haben das, neben vielen anderen, getan und lang wirkende Muster für das Genre geschaffen. Bertolt Brecht hat es dekonstruiert.

Sein Gedicht „Frühling 1938 1“ ist auf der dänischen Insel Fünen entstanden, seinem Exilort zwischen 1933 und 1939. Es ist das erste eines kleinen dreiteiligen Zyklus, denen der zeitliche Bezug gemeinsam ist. Er gehört zu den Gedichten, die Brechts Mitarbeiterin und zeitweise Geliebte Margarete Steffin zusammengestellt hat. Er hat sie kurz die „Steffinsche Sammlung“ genannt. Hanns Eisler hat vieles aus ihr vertont, auch „Frühling 1938“. Seine Änderungsvorschläge für den Text hat Brecht weitgehend übernommen.

Der Anlass des Gedichts ist leicht zu erschließen: der unerwartet frostige Ostersonntag 1938, der auf den 17. April fiel. Das erste Wort des Gedichts, „Heute“, zeigt an, dass es an diesem Tag auch entstanden ist. Die präzise Datierung gehört zur Aussage des Gedichts. Der Ostersonntag ist von zentraler Bedeutung für den christlichen Glauben. Er ist das Fest der Auferstehung Jesu, die für den Sieg des Lebens über den Tod steht. Brecht dementiert diesen Mythos, fast nebenbei, ohne viele Worte darüber zu verlieren. „Frühling 1938“ ist ein Frühlingsgedicht, das nicht den Frühling schildert, sondern die Rückkehr des Winters: „ein plötzlicher Schneesturm“ bringt ihn zurück. Sein „junger Sohn“, der damals 14-jährige Stefan Brecht, sorgte sich um ein „Aprikosenbäumchen an der Hausmauer“, das vor der Kälte geschützt werden musste. Lakonisch wird berichtet, dass Vater und Sohn „einen Sack/ Über den frierenden Baum“ legten.

Dieser einfache Vorgang ist vielleicht erwähnenswert in einem Tagebuch, macht aber trotz der poetischen Metapher vom Frieren des Baumes noch nicht unbedingt ein Gedicht. Brecht wusste ihn allerdings stilistisch prägnant zu gestalten: mit zwei kurzen einleitenden und einem kurzen letzten Satz einerseits und einem fast episch langen dritten Satz andererseits. Ihre Unterschiedlichkeit signalisiert dem Leser einen Bruch.

Den historischen Bezug der zehn, jeweils bedeutungsvoll abgesetzten Verse stellt die Bemerkung des sprechenden Ich her – das man mit Brecht identifizieren darf –, dass es gerade mit „einem Werk“ beschäftigt war, „in dem ich auf diejenigen mit dem Finger zeigte/ Die einen Krieg vorbereiteten, der/ Den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und mich/ Vertilgen muß“. Die Anspielung gilt nicht nur dem offenbar geplanten Krieg, sondern auch dem literarischen Kampf gegen ihn.

Brecht versuchte in dieser Zeit, sein zweites Gedichtbuch im Exil herauszubringen, und zwar als vierten Band seiner Gesammelten Schriften im noch in Prag ansässigen Malik Verlag. Zuerst sollte es, ganz nüchtern, „Gedichte im Exil“ heißen. Zeitweilig erwog Brecht aber auch, die Gedichte zusammen mit seinem Stück Furcht und Elend des III. Reiches und drei Essays im Rahmen der Ausgabe zu veröffentlichen: „Der Band könnte einfach Neunzehnhundertachtunddreißig heißen“, schrieb er seinem Verleger Wieland Herzfelde.

Schließlich kam die Sammlung 1939 in Kopenhagen heraus, mit dem Verlagsort London, wohin Herzfelde nach dem Einmarsch der Wehrmacht von Prag aus geflohen war. Sie hieß nun Svendborger Gedichte, nach dem Ort, in dem Brecht auf Fünen lebte, und war das letzte Buch, das der Malik Verlag drucken konnte. Neben der „Deutschen Kriegsfibel“ enthält es einige der berühmtesten Gedichte Brechts, wie „Fragen eines lesenden Arbeiters“, „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ und „An die Nachgeborenen“ – alles inzwischen klassische Gedichte der Moderne, denen gemeinsam ist, dass sie finsteren Zeiten abgewonnen sind.

Der Krieg, den Brecht früh voraussah, brach erst eineinhalb Jahre später aus. Gut einen Monat, bevor er das Gedicht schrieb, in der zweiten Märzwoche 1938, hatten deutsche Truppen aber schon Österreich besetzt – ein deutliches Zeichen für den Expansionswillen des nationalsozialistischen Deutschland, aus dem Brecht einen Tag nach dem Reichstagsbrand geflohen war. Die Erwartung des Krieges gibt der gärtnerischen Tat des Frostschutzes einen weiteren Sinn: als eine kleine wortlose Geste gegen die Resignation vor dem immer mächtiger werdenden Feind. Die Sorge für ein ,frierendes‘ Bäumchen ist dabei das, was von den Vegetations-Mythen geblieben ist, die von alters her mit dem Frühling verbunden sind.

Brechts Verse zeigen, wie die Wahrnehmung der Natur und der Jahreszeiten von den geschichtlichen Umständen beeinflusst wird. Sie registrieren das Auseinanderfallen von kalendarischer und natürlicher wie von kalendarischer und historischer Zeit. Es steht für einen Riss, der tiefer geht als ein Wetterumschwung. Sicher ist: Die Kälte wird vorübergehen, der Frühling wird kommen, wie jedes Jahr, wenngleich später. Sicher ist aber auch: Das gute, leichte Leben, Leben überhaupt wird dem Krieg zum Opfer fallen.

Literaturhinweis

Bertolt Brecht: Gedichte 1. Sammlungen. Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Dritter Band. Frankfurt a.M. 1997, S. 355.