Briefwechsel zwischen Schüler und Mentor

Ein Schlaglicht auf die Beziehung von August Wilhelm Schlegel und Louis-Auguste de Staël

Von Clara StieglitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clara Stieglitz

Die beiden Männer August Wilhelm Schlegel und Louis-Auguste de Staël spielten im Leben der Germaine de Staël eine signifikante Rolle, doch waren sie nicht nur mit ihr, sondern auch untereinander eng verbunden. Dieser Artikel soll das vielschichtige Verhältnis zwischen dem Deutschen August Wilhelm Schlegel, dem bedingungslos ergebenen Freund der Madame de Staël, der ihr an erster Stelle als Bewunderer nachfolgte, ihr jedoch auch als Berater bei literarischen Fragen zur Seite stand und sich als Hauslehrer der Ausbildung und Erziehung ihrer Kinder annahm, und dem ältesten Sohn der Madame de Staël, Louis-Auguste de Staël, illustrieren. Zur näheren Analyse wird ein Brief aus ihrer Korrespondenz als Beispiel herangezogen. Bisher wurde diesen Charakteren nur im Hinblick auf ihre jeweilige Verbindung zu Madame de Staël Aufmerksamkeit entgegengebracht, jedoch nicht in direktem Bezug zueinander. Der herangezogene Brief von Louis-Auguste de Staël an August Wilhelm Schlegel aus dem Jahr 1818 bietet die Möglichkeit, einen Blick auf ihr facettenreiches und komplexes Verhältnis zu werfen.

Im Folgenden soll zunächst erläutert werden, wie es dazu kam, dass August Wilhelm Schlegel, einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Romantik, in das Leben des damals dreizehnjährigen Louis-Auguste trat und für die kommenden dreizehn Jahre einen festen Platz an dessen Seite finden sollte. Der bisher noch nicht editierte und unveröffentlichte Brief vom 24. Juni 1818 von Louis-Auguste de Staël an seinen ehemaligen Lehrer August Wilhelm Schlegel soll einen ersten Einblick in die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer, Unerfahrenem und Mentor, Verunsichertem und Wegweisendem, vielversprechendem Zögling und unverhofftem Ziehvater geben. Wie Josef Körner bereits treffend beschrieb: „Aus dieser Korrespondenz fällt für die Geschichte der französischen Literatur und Politik reicher Gewinn ab; zugleich bekommt die bisher ziemlich verwischte Gestalt August von Staëls schärfere Umrisse“[1].

Bevor ein näherer Blick auf diese Beziehung geworfen werden kann, muss, auch wenn schon oft beschrieben, kurz darauf eingegangen werden, wie August Wilhelm Schlegel seinen Platz in der Familie de Staël fand. Die Begegnung von Schlegel und Madame de Staël hat Pauline de Pange ausführlich in ihrem 1940 erschienen Werk August Wilhelm Schlegel und Frau von Staël. Eine schicksalhafte Begegnung beschrieben: Gerlach, der damalige Hauslehrer der Kinder Madame de Staëls war schwer krank und sie wusste, dass sie die akademische Ausbildung ihrer Kinder nicht mehr selbst übernehmen konnte. Hierzu schreibt de Pange:

Sie hatte versucht, ihren ältesten Sohn August selbst zu erziehen. An ihren Genfer Jugendfreund Pictet Diodati schrieb sie: „Ich habe die größte Lust, ihn selbst zu erziehen.“ Als er sechs Jahre alt war, mußte sie daran denken, ihm etwas beizubringen. Wir zitieren noch einmal Herzogin von Broglie in der Vorrede zu den gesammelten Werken ihres Bruders August: „Frau von Staël gab August alle Stunden und gab sie fast stets zwischen anderen dringenden Arbeiten. So leitete sie Augusts Arbeiten und erläuterte ihm seine Aufgaben, während sie Briefe schrieb oder Anordnungen erteilte. Obwohl so der Unterricht dauernd unterbrochen wurde, war das Kind doch niemals zerstreut…Wenn seine Mutter wieder das Wort ergriff, folgte es auch sofort wieder Belehrungen.“ […] Ein derart mehr auf Zufall gestellter Unterricht war auf die Dauer unmöglich. Bald mußte überdies auch Albert systematisch unterrichtet werden; er war nervöser und unruhiger. So entschloß sich Frau von Staël, nicht ohne langes Zögern, einen Erzieher zu suchen, der nicht allein zu diesen Schülern, sondern auch zu der außergewöhnlichen Umgebung paßte, in der er seine Gaben betätigen sollte.[2]

Madame de Staël hatte eine feste Vorstellung vom zukünftigen Lehrer ihrer Kinder, welche nicht zuletzt auch durch den Vorgänger Gerlach geprägt worden war (s. de Pange, S. 15). Die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder hatte für sie höchste Priorität:

In all den vertraulichen Briefen Frau von Staëls an ihren Vater ist die Sorge um die Gesundheit und die Erziehung der Kinder ein unerschöpfliches Thema. Diese Dinge beherrschen ihr ganzes Denken; sie stehen weit mehr im Vordergrund als andere, an die man gewöhnlich bei ihr denkt. Ihr liegt viel daran, ihren Kindern die beste Erziehung zu geben, aber andererseits vermag sie auch nicht ein Leben zu ändern, in dem sie dauernd den Aufenthaltsort wechseln muß und immer wieder vom Unglück verfolgt wird. Sobald die Kinder sie verstehen können, entschließt sie sich, ihnen offen die Gründe darzulegen, warum sie kein Heim haben. (de Pange, S. 12f.)

Die Person, der sie die äußert gut bezahlte Stelle als Hauslehrer anbieten würde, musste demnach von ihr bereits hoch angesehen sein.[3] Während der Hauslehrer der Staël-Kinder im höchsten Maße gebildet sein und sein Fach ausgezeichnet beherrschen musste, forderte Madame de Staël ebenfalls enorme Anpassungsfähigkeit an ihren außergewöhnlichen Lebensstil. In einem Brief an Heinrich Meister legt sie des Weiteren folgende Kriterien dar:

Sie wissen, was ich haben will. Außerdem lege ich viel Wert auf Musikunterricht; aber den Mann, der sich der Erziehung meiner Kinder widmen würde, hätte, wenn er jung und frei wäre, gute Aussichten. Ich würde ihn nach Paris mitnehmen, und wenn er mir gefiele, würde ich ihn solange bei mir behalten, wie er wollte, denn da ich jetzt Witwe bin, hätte ich gerne einen Menschen, den ich auch zu meinen geschäftlichen Angelegenheiten und zu meinen literarischen Studien heranziehen könnte. (de Pange, S. 15)

Als sie 1804 auf einer ihrer Deutschlandreisen die Bekanntschaft von August Wilhelm Schlegel machte, keimte in ihr sofort die Hoffnung, dass ihre Suche nach dem perfekten Erzieher und Lehrer ein Ende hatte. Sie schrieb in Briefen an ihren Vater in langen Abschnitten über den neuen Bekannten und dessen Vorzüge sowie über das Vorhaben, ihn für die Stelle als Hauslehrer zu gewinnen (s. de Pange, S. 58 u. S. 7). Madame de Staël konnte Schlegel schnell für sich gewinnen und fand in ihm den vielseitigen und flexiblen Mann, der nicht bloß für die Erziehung ihrer Kinder mitverantwortlich sein sollte, sondern sich auch ihr als nützlich erweisen konnte. Die Akquirierung Schlegels war für sie persönlich von großem Vorteil, denn er wurde ihr langjähriger „Hausgenosse, Reisegefährte, Freund und literarischer Berater“[4]. Schlegel richtete sich als neuer Hauslehrer auf dem Schloss Coppet ein. Er lebte „im ‚Blauen Zimmer‘ zwischen der Bibliothek und dem Zimmer der Knaben, nutze die Bibliothek als Studienkabinett, unterrichtete die Kinder nach einem mit Germaine abgesprochenen Lehrplan und genoss die Natur“ (Appel, S. 208).

Mit Louis-Auguste, dem ältesten Sohn Madame de Staëls, traf Schlegel auf einen wohlerzogenen und lernwilligen Schüler von fast vierzehn Jahren. Sein Großvater Jacques Necker war vom Charakter seines Enkelsohns überzeugt und seine Mutter tat alles in ihrer Macht stehende, um ihm die beste Ausbildung und Erziehung zu garantieren (s. de Pange, S. 8). Sie sieht in ihm ein Abbild ihres geliebten Vaters: „Ein wenig verwunderlich ist es, von wem dieser redliche Sohn, der Sprössling Narbonnes, seinen gewissenhaften Charakter geerbt hatte. Ein Gedanke, der Madame de Stael sicher gefiel, war, dass er in der direkten Nachfolge seines Großvaters stand. Germaine, die ein kameradschaftliches Verhältnis zu allen ihren Kindern hatte, nannte ihn in Briefen ‚lieben Freund‘, wie auch ihr Vater von ihr genannt worden war“ (Appel, S. 300).

Louis-Auguste muss sich früh in Selbstverantwortung und Unabhängigkeit üben, wobei es in seinem Leben keine konstante Vaterfigur gab, an der er sich orientieren konnte. Die Beziehung zu seiner Mutter war geprägt vom anhaltenden Gefühl seiner Unzulänglichkeit. Bereits im Sommer 1805 verließ Louis-Auguste die Heimat, um in Paris seinem weiterführenden Studium nachzugehen.[5] Seine Mutter stellte hohe Erwartungen an ihn. So bemühte sie sich durch das Vorausschicken ihres 17-jährigen Sohnes beim Kaiser um eine Audienz, um unter anderem die Aufhebung ihres ihr auferlegten Exils zu erreichen (s. de Pange, S. 102).

Den vorerst letzten Versuch, ein Ende ihres Exils sowie die Rückzahlung ihrer zwei Millionen Livres vom französischen Staat zu erwirken, unternahm Germaine Ende 1807 mit Hilfe Augustes, ihres nun 17-jährigen ältesten Sohnes, der in Chambéry in Savoyen um eine Audienz beim Kaiser ersuchte. Auguste war fleißig und gewissenhaft, im Gegensatz zu Albert, der mehr dem Vergnügen nachging und seinem Hofmeister Schlegel einiges Kopfzerbrechen bereitete. Auguste kam auch im Großen und Ganzen damit zurecht, seit seinem 15. Lebensjahr allein in einem Internat in Paris, fern von seiner exilierten Familie zu leben (Appel, S. 300).

Albert, der jüngere Bruder Louis-Auguste de Staëls, war das Sorgenkind der Familie, sein großer Bruder derjenige, in den alle Hoffnung gesetzt wurde. De Pange beschreibt in ihrer Studie die Charakterzüge der beiden Söhne von Madame de Staël und setzt sie zueinander in Kontrast: „[Albert] ist tapfer, aber unbesonnen, er scheint sich keiner Disziplin fügen zu können, er ist mit Leidenschaft Soldat, aber unüberlegt. […] Auch August, der unendlich vernünftiger war als er, wollte ins Heer eintreten, aber da er empfand, es sei seine Pflicht, bei seiner Mutter zu bleiben, so bereitet er sich in Stockholm auf eine Prüfung vor, die ihm erlaubt, die Diplomatenlaufbahn einzuschlagen, in der ihm sein Name viele Erleichterungen verschaffen sollte“ (de Pange, S. 334).

Demnach war der junge Schüler Schlegels sehr früh auf eigene Beine gestellt, doch Louis-Auguste kam auch in den darauffolgenden Jahren immer wieder mit Sorgen oder neu gewonnenen Erkenntnissen auf seinen alten Lehrer Schlegel zurück. Zuweilen konnte dieser ihm als Mentor auch noch in späteren Jahren zur Seite stehen. 1813 muss Louis-Auguste de Staël in Stockholm eine Lateinprüfung bestehen, um in den Staatsdienst aufgenommen zu werden (Correspondance, S. XXVIII) und bedankt sich bei seinem ehemaligen Lateinlehrer für seinen Unterricht: „Gestern mußte ich Latein schreiben; vor acht oder neun Jahren hätte ich mich leichter aus dieser Verlegenheit gezogen; aber schließlich wurde es so einigermaßen: ich rief Sie dabei immer als meinen Apoll an! … Rechnen Sie auf meine Freundschaft, meine Dankbarkeit; ich hätte Ihnen noch so viel mehr zu danken, wenn ich Ihre Güte besser ausgenutzt hätte. Leben Sie wohl! In alter Anhänglichkeit“ (de Pange, S. 334).

In dieser Zeit scheint Louis-Auguste sehr unzufrieden und niedergeschlagen. Als Madame de Staël diesen Seelenzustand bei ihrem Sohn bemerkt, schreibt sie in einem Brief, dass sie den Eindruck habe, nur sein alter Mentor Schlegel könne ihm Mut zusprechen und ihn wieder auf den richtigen Weg bringen: „Anfang Mai kam Auguste von Staël endlich aus Frankreich. Er brachte allerhand Neuigkeiten mit, war aber selbst tief niedergedrückt. Seine Mutter hat von ihm den Eindruck, daß er ‚innerlich völlig zerrüttet ist‘ und hat keine Hoffnung, daß er sich ohne Schlegel wieder aufraffen kann“ (de Pange, S. 330).

Obwohl Louis-Auguste seine Mutter vergöttert und alles tut, um ihr zu genügen, wird in dieser schwierigen Situation Schlegel um Hilfe gebeten. Dieser bringt seinem ehemaligen Schüler die von der Mutter ausbleibende Wertschätzung entgegen. Anfang des Jahres 1813 antwortet ihm Schlegel aus Stockholm auf einen komplett in schwedischer Sprache geschriebenen Brief: „Vous m’avez fort agréablement surpris, mon cher Auguste, en m’écrivant une lettre en suédois, dont au jugement des connoisseurs le style est parfait. J’ai failli pleurer d’aise quand j’ai vu ce mot de påminnelse et autres élégances scandinaves. Je reconnois bien là votre noble origine, le véritable sang d’Odin“[6].

In ebendiesem Brief spricht Schlegel Louis-Auguste bereits auf dessen zunehmend schlechten Seelenzustand an und nimmt die Rolle des weisen und lebenserfahrenen Freundes ein: „Vous exprimez un grand dégoût de la vie, un découragement universel. C’est de bien bonne heure, et permettez moi de vous le dire: vous n’en avez pas encore le droit“.[7]

Er ermutigt Louis-Auguste an das Versprechen zu denken, dass er seiner Mutter gegeben habe und appelliert an sein Pflichtbewusstsein. Louis-Auguste leidet in dieser Zeit vor allem unter Liebeskummer und darunter, dass er Juliette Récamier für seine vorbestimmten Aufgaben in der schwedischen Politik hinter sich lassen sollte. Sabine Appel schreibt über diesen Abschnitt im Leben des jungen Louis-Auguste de Staël:

Auguste riss sich endlich von Juliette Récamier los und kam auf Wunsch seiner Mutter im Mai [1813] nach Stockholm, um sie nach England zu begleiten. Auch für seine Zukunft hatte sie in Schweden gesorgt. Bernadotte hatte Auguste de Stael zu seinem Flügeladjutanten ernannt. Eine glänzende Karriere würde ihm in Schweden und in Europa bevorstehen, vorläufig wenigstens. Schlegel hatte noch im Januar einen recht liebevollen Brief geschrieben, um ihn zu trösten – es war derselbe, in dem er auch von seinen eigenen Enttäuschungen sprach sowie von seinem patriotischen Ehrgeiz, um sein Dasein noch einmal eine sinnvolle Wendung zu geben. Er war gar nicht altklug, der Brief, gar nicht weltfremd und auch gar nicht professoral. (Appel, S. 322)

Louis-Auguste findet sich mit seinem Schicksal ab und hinterlässt einen positiven Eindruck am königlichen Hof Schwedens. Darüber berichtet August Wilhelm Schlegel wie ein stolzer Vater in einem Brief an Madame de Staël, die sich zu diesem Zeitpunkt in England befindet:

Dann habe ich das Gespräch auf August gebracht. Der Pr[inz] hielt mir eine große Lobrede auf ihn; er war – das kann man wirklich sagen – ganz entzückt von ihm. Er fand Aug[ust] geistvoll und von Begierde brennend, diesen seinen Geist zu zeigen, „aber“, fügte er hinzu, „er weiß sich in allem zu mäßigen, hört ruhig zu, antwortet im richtigen Augenblick und beobachtet in allen Stücken den gesellschaftlichen Anstand. Seine ganze Art ist einfach, bescheiden und vornehm, und man erkennt sofort, daß man es mit einem ausgezeichneten Menschen zu tun hat.“ Das sind annähernd wörtlich seine Ausdrücke und keineswegs etwa übertrieben. Ich habe, wie Sie sich denken können, nicht verschwiegen, daß nach Ihnen auch ich meinen Anteil an Augusts Erziehung habe. (de Pange, S. 331f.)

Der letzte Satz wirkt zunächst gewissermaßen anmaßend, doch gibt er damit einen kleinen Einblick in seine tatsächliche Stellung innerhalb der Familie de Staël. Er versteht sich selbst als Erzieher, als väterlicher Ersatz von Louis-Auguste, und nicht bloß als dessen ehemaliger Lehrer. Madame de Staël bestärkt bei August Wilhelm Schlegel dieses Gefühl, indem sie ihn, so Sabine Appel, „imaginär sogar zum Vater ihrer ‚gemeinsamen‘ Kinder“ macht (Appel, S. 330).

Wenn man den frühen Briefwechsel zwischen Mutter und Sohn um 1805 betrachtet, ist der Name August Wilhelm Schlegel in fast jedem Brief zu lesen. Es geht ihnen jedoch hauptsächlich um akademische Belange. Louis-Auguste berichtet von seinem Lateinunterricht im Internat und vergleicht diesen mit dem Unterricht Schlegels, der ihn weiter vorangebracht hat als seine Mitschüler (s. Correspondace, S. 41). Anfangs ist die Rolle Schlegels in der Familie de Staël sichtlich auf das Unterrichten der Kinder beschränkt, doch schnell wird er zum Freund der Familie.

Mit den voranschreitenden Jahren verändern sich die Gesprächsthemen im Briefwechsel von Louis-Auguste de Staël und August Wilhelm Schlegel. Sie tauschen sich über Politik und Literatur aus, über Alltägliches und die Familiensituation. Schlegel weicht nicht von der Seite der Familie de Staël und begleitet sie durch Krisenzeiten, wie beim Tod von Jacques Necker, der Madame de Staël sehr nahegeht. Den Kindern von Madame de Staël ist Schlegel eine besondere Stütze, als deren Mutter im Juli des Jahres 1817 stirbt. In zahlreichen Briefen erinnern ihn Louis-Auguste und dessen jüngere Schwester Albertine Ida Gustavine de Broglie daran, dass er in Coppet immer einen festen Platz haben wird. So auch in dem Brief, der nun im Weiteren genauer betrachtet werden soll:

Coppet 24 Juin. 1818.

Plusieurs occupations de gentilhomme campagnard mʼont empêché de Vous écrire plus tôt, mon cher Schlegel; et je suis bien empressé de rattraper le tems perdu – Me voici maintenant bien installé dans la vie de Coppet et décidé à employer de mon mieux le tems que jʼy passerai – J’ai à benir ma mere tous les jours de ce quʼen mʼimposant le travail qui mʼoccupe elle me force à reprendre une vie dʼétude. Soit paresse soit [surtout] [schlecht lesbar, C. St.] sentiment de mon extrême insuffisance je ne me serois jamais mis à lʼoeuvre; car il me manque pour ecrire, comme Vous me le disiez si bien, du savoir et des idées, à cela près tout iroit bien: mais il nʼy a pas à transiger avec un devoir sacré pour moi; et si je ne réussis pas jʼaurai du moins profité par mes efforts – Je Vous jure quʼen examinant de plus près la vie privée de mon grand pere, ses correspondances diverses, jʼai le coeur serré de voir combien on est loin encore de lui rendre justice, même après lʼouvrage de ma mere – Et pourtant comment se flatter de rien ajouter à lʼimpression quʼelle a produite – Le journal du Commerce nʼa pas pu y tenir, il a dévoilé son bonapartisme en insérant une misérable et platte diatribe de M. de Segur [hiermit könnte Comte Louis-Philippe de Ségur (1753–1830) gemeint sein, C. St.] contre lʼouvrage. Il parait que le mot sur le code de lʼétiquette imperiale lʼa blessé au vif – A vrai dire je suis charmé que la glace soit rompue; cʼest fort bien de tendre la main aux gens de toutes les couleurs quand il sʼagit de les défendre contre des réactions: mais il faut aussi que le jour de la justice arrive et que le bonapartisme soit fletri comme il le mérite – cʼest encore là lʼennemi le plus redoutable que la liberté ait à combattre: jʼentends le système – Jʼai lu avec beaucoup d’attention Votre derniere lettre à Mlle Randall: Vous nʼavez certes pas besoin de nous rappeller que Vous faites partie de notre famille; Votre place est et sera toujours prête et quand il Vous plaira de revenir on tuera le veau gros – Du reste Vous nʼêtes pas assez fier de Votre talent epistolaire: si je voulois être impertinent je Vous dirois que Vos lettres ont tous les avantages qui manquent à Votre conversation outre ceux qui nʼappartiennent quʼà Vous – Si Vos affaires Vous laissent quelque liberté je Vous demande dʼaller faire une autre course à Wisbaden; Vous y trouverez Mad. de Ste A. [Madame de Sainte Aulaire, von der im Brief von August Wilhelm vom 22. Mai 1818 bereits die Rede ist; sie wird außerdem in Schlegels nachfolgendem Antwortbrief vom 2. Juli 1818 erwähnt, C. St.] qui desire beaucoup Vous voir; et Vous me rendriez fort heureux en me donnant des nouvelles détaillées de sa santé dont elle a beaucoup trop peu de soin – Albertine est bien rétablie de ses couches; ses deux enfants sont à merveille. Je crois que ma pupille aura moins de vivacité que Pauline. Messrs Delessert [Pariser Bänkerfamilie, C. St.] mʼont donné avis dʼune traite de Vous qui se monte à 2,020f avec les frais, je lʼai fait acquiter à lʼinstant – Adieu mille bien tendres amitiés.[8]

Dieser Brief ist die Antwort de Staëls auf einen Brief von August Wilhelm Schlegel vom 22. Mai 1818, den er aus Frankfurt nach Paris schickte[9]. In diesem schreibt Schlegel von einem „catalogue“, den er verlegt hat und bittet Louis-Auguste nach diesem zu suchen und ihn mit nach Coppet zu nehmen. Außerdem teilt er ihm mit, dass er ihre Zusammenarbeit vermisst und darauf hofft, dass sie bald wieder an einem gemeinsamen Werk arbeiten können. Des Weiteren spricht er von den Heilquellen in Wiesbaden, die seiner Meinung nach besser seien als die in Frankreich, und dass Madame de St. Aulaire diese nochmals besuchen solle. Schlegel sendet den Brief nach Paris, rechnet aber damit, dass Louis-Auguste schon wieder auf dem Weg nach Coppet sein könnte.

Aus der Antwort Louis-Augustes geht nicht hervor, wann und wo er den Brief Schlegels empfangen hat. In seinem Brief, den er erst einen Monat später verfasste, lenkt er das Gespräch auf andere Themen: Er hat sich aus der Politik zurückgezogen und arbeitet als bodenständiger Land- und Gutsherr, der sich mit wachsendem Interesse neuen Techniken der Agrarwissenschaften beschäftigt, was ihm wenig Zeit für einen konstanten Briefwechsel lässt; gleichzeitig widmet er sich der intellektuell anregenden und schwierigen Aufgabe, das Werk seines Großvaters Jacques Necker und seiner Mutter zusammenzuführen und gesammelt zu veröffentlichen. In dieses Projekt bindet er Schlegel besonders ein und verlässt sich auf dessen Erfahrung. Es fällt ihm zudem schwer, sich wieder in den kreativen Schreibprozess einzufinden und er bemerkt zunehmend Wissenslücken: „car il me manque pour ecrire […] du savoir et des idées“. Die einzige Lösung ist die Rückkehr zu einem „vie d’étude“. Doch er sieht in diesem Langzeitprojekt keine „devoir sacré“ und möchte, wenn es ihm denn nicht gelingen sollte, das Werk zu veröffentlichen, daraus bloß etwas für sich persönlich mitnehmen.

Das Thema Politik spricht er hier nur in Form von gesellschaftskritischen Äußerungen an und wendet sich gegen den vorherrschenden „bonapartisme“, der vor allem in der Kritik am Werk von Madame de Staël im „Journal du Commerce“ in einer platten Schmährede de Ségurs zu entdecken sei. Es zerreißt ihn zu sehen, wie sehr sein Großvater in den Augen der Gesellschaft verkannt ist und dass man ihm mit dieser Haltung nicht gerecht wird. Dies wird mitunter der Grund dafür gewesen sein, dass er es sich 1819 zur Aufgabe gemacht hat, die gesammelten Werke seines Großvaters und seiner Mutter zu editieren (Correspondance, S. XXXI). Den gesellschaftskritischen Gedanken seiner Mutter trägt er weiter und stellt fest, dass der furchtbarste Feind, den es für die Freiheit noch gibt, das vorherrschende System ist, das Napoléon Frankreich aufgezwungen hatte.

In der letzten Hälfte des Briefs wird die Entwicklung der Beziehung zwischen Schlegel und Louis-Auguste deutlich. Zuerst erinnert ihn Louis-Auguste mit sehr bestimmtem Ton daran, dass er, auch wenn Madame de Staël nicht mehr am Leben ist, immer noch zur Familie gehört: „Vous n’avez certes pas besoin de nous rappeller que Vous faites partie de notre famille; Votre place est et sera toujours prête et quand il Vous plaira de revenir on tuera le veau gros.“

Der Abschnitt, in dem die Weiterentwicklung ihrer langjährigen Verbindung am sichtbarsten wird, ist derjenige, in dem Louis-Auguste offen und direkt, mit jedoch immer höflichem Ton Kritik an seinem ehemaligen Lehrer äußert. Er kann es sich nach jahrelanger Freundschaft mit Schlegel erlauben, eine freche Anmerkung über dessen Gesprächskunst zu machen, wobei er zugleich auch großen Respekt für dessen Briefkunst äußert: „Du reste Vous nʼêtes pas assez fier de votre talent epistolaire: si je voulois être impertinent je Vous dirois que Vos lettres ont tous les avantages qui manquent à Votre conversation outre ceux qui nʼappartiennent quʼà Vous.“ Nach nunmehr vierzehn Jahren und nachdem „sein Schüler ein Mann geworden war, wurde Schlegel sein Vertrauter; und bei mancher Gelegenheit stand er ihm zur Seite, sein Temperament und sein starkes Empfinden zu zügeln. Später wurde dann der Schüler der Berater seines Lehrers. Für die Verwaltung eines Teiles seines kleinen Vermögens hielt sich Wilhelm Schlegel an August“ (de Pange, S. 441). Auch in dieser Korrespondenz und zahlreichen anderen aus der Zeit, informiert Louis-Auguste de Staël August Wilhelm Schlegel in beratender und verwaltender Funktion über dessen aktuelle Finanzangelegenheiten.

Der vorherrschende Ton des Briefwechsels ist höflich, offen, direkt und oftmals herzlich. Schlegel redet ihn in den meisten Briefanfängen mit „mon cher Auguste“ an, duzt ihn aber nicht. Louis-Auguste nennt Schlegel dagegen nie beim Vornamen, sondern redet ihn immer mit „mon cher Schlegel“ an. Daraus lässt sich die ursprüngliche Hierarchie ihrer Beziehung ableiten: der Schüler und der Lehrer. Auch wenn Schlegel ein enger Freund der Familie geworden und seine Lehrtätigkeit abgeschlossen ist, hat Schlegel zumindest aus dieser Perspektive weiterhin die Oberhand. Hinzu kommt, dass die Beiden 23 Jahre Altersunterschied trennen und trotz jahrelanger Freundschaft immer noch eine klare Rollenverteilung bemerkbar ist. In den Abschlussformeln der Briefe sind kaum Unterschiede auszumachen. Die letzten Sätze im gesamten Briefwechsel ähneln sich sehr und enden auf beiden Seiten fast immer in „mille amitiés“ oder „mille tendres amitiés“. Je nach Thematik der Korrespondenz wird der Abschied ausgeschmückt oder entsprechend kurz gehalten, wie in diesem Falle: Louis-Auguste will vor Abschluss des Briefes Schlegel noch über seine Finanzen informieren und beendet den Brief mit einem schnellen „Adieu mille tendres amitiés“.

Um Schlegels Rolle im Leben seines ehemaligen Schülers besser zu verstehen, bietet es sich an, einen Blick auf die verschiedenen Vaterfiguren im Leben von Louis-Auguste de Staël zuwerfen. Obwohl er den Namen von Erik-Magnus de Staël-Holstein trägt, ist sein Vater ein anderer: Louis Marie Jacques Amalric de Narbonne-Lara, der die „große Passion“ der Madame de Staël war, jedoch nie ein richtiger Vater für seinen Sohn (Appel, S. 72). Auch mit seinem namengebenden Vater hatte er wenig Kontakt, verdankte seinen schnellen Karriereaufstieg jedoch dessen Stellung in Schweden. De Staël starb bereits 1802, als Louis-Auguste erst 12 Jahre alt war. Im Werk der gesammelten Korrespondenz von Madame de Staël und ihrem Sohn Louis-Auguste wird das Verhältnis Louis-Augustes zu seinen beiden „Vätern“ treffend beschrieben: „Il faut maintenant revenir sur le problème des parents d’Auguste de Staël. Il est aujourd’hui indiscutablement établi qu’Érik-Magnus de Staël-Holstein n’est pas son père, même s’il assume sa paternité ‚légale‘. Auguste est le fruit de la liaison de Mme de Staël avec Narbonne de 1789 à 1793. Les relations d’Auguste avec ces deux ‚pères‘ sont quasi inexistantes. Qui va donc les remplacer?“ (Correspondance, S. XIf.)

Der Hauslehrer Gerlach nahm sich bis zu seinem Tod 1802, wie auch Schlegel nach ihm, der Vaterrolle zu großen Teilen an. Doch war es in Louis-Augustes Kindheit vor allem der Großvater Jacques Necker, der den Platz des Familienoberhaupts innehielt. Die Antwort auf die Frage „Qui va donc les remplacer?“ lautet demnach: „En premier lieu Jacques Necker, son grand-père, pour lequel il a, comme sa mère, une profonde affection et un immense respect; il l’appelle d’ailleurs pendant sa jeunesse tantôt „papa“, tantôt „mon père“ (Correspondance, S. XII).

Doch auch Necker stirbt, als Louis-Auguste noch jung ist, im Jahr 1804. Zu dieser Zeit tritt August Wilhelm Schlegel in sein Leben und wird zur konstantesten Vaterfigur. Die verschiedenen Männer von Madame de Staël, wie Benjamin Constant oder auch ihr zweiter Ehemann Rocca, füllen nicht die Lücke der Position, die Schlegel über mehr als ein Jahrzehnt in der Familie de Staël einnimmt (s. Appel, S. 322: „Während Rocca für Auguste, Albert und Albertine fast ein Gleichaltriger war, ein Gefährte, war Schlegel eben inzwischen doch zum soliden Ersatzvater mutiert“). Eine Erklärung könnte sein, dass Schlegel nie eine körperliche Beziehung zu Madame de Staël hatte. Er verehrte sie, doch seine Liebe blieb unerwidert. Er konnte sich also mit seinem ganzen Wesen der Erziehung der Kinder widmen, als Lehrer, Ersatzvater und Freund. Auch als seine Aufgabe als Lehrmeister beendet war, wich er nicht von ihrer Seite (s. Appel, S. 301) und das bis zum Ende aller. August Wilhelm Schlegel überlebte auf tragische Weise die gesamte Familie de Staël, die auch für ihn eine Ersatzfamilie geworden war. Albert de Staël stirbt 1813, Madame de Staël 1817, Louis-Auguste de Staël 1827 und Albertine de Broglie im Jahre 1838. August Wilhelm Schlegel erst 1845, im hohen Alter von 77 Jahren. Seine Trauer über den Tod von Louis-Auguste de Staël teilt er Albertine in einem Brief mit: „August wird mir für den armseligen Rest meines Lebens fehlen“ (de Pange, S. 442).

Anmerkungen:

[1] Josef Körner: Krisenjahre der Frühromantik: Briefe aus dem Schlegelkreis. Band 1. Brünn: Rohrer, 1936, S. XVIII.

[2] Pauline de Pange: August Wilhelm Schlegel und Frau von Stael: eine schicksalhafte Begegnung; nach unveröffentlichten Briefen, erzählt von Pauline de Pange. Deutsche Ausgabe von Willy Gabert. Hamburg 1940, S. 13 [im Folgenden: de Pange].

[3] s. Sabine Appel: Madame de Staël: Biografie einer großen Europäerin. Düsseldorf 2006, S. 194 [im Folgenden: Appel].

[4] Körner, Krisenjahre der Frühromantik (Band 1), S. XIV.

[5] Correspondance: lettres à sa mère (1805–1816). Auguste de Staël, Teil 1, éd. Othenin d’Haussonville et Lucia Omacini, Paris, Champion, 2013, S. XXIII [im Folgenden: Correspondance]).

[6] Josef Körner: Krisenjahre der Frühromantik: Briefe aus dem Schlegelkreis. Band 2. Brünn: Rohrer, 1937, S. 258-259.

[7] Ebd., S. 260.

[8] Noch nicht editierter Brief aus den Dresdner Archiven. Die Schrift von Louis-Auguste de Staël ist meist gut lesbar, bis auf wenige Ausnahmen. Zuweilen ist es schwer, einzelne Buchstaben zu erkennen und von anderen zu unterscheiden, so ähneln sich das a und das o und das r und das n besonders. Auch wenn gut leserlich, sind seine Briefe nicht ordentlich geschrieben. Er setzt, wenn überhaupt, accents unregelmäßig und ungenau. In dieser Transkription wurden die vorhandenen accents nach den heutigen französischen Rechtschreibregeln gesetzt. Wörter wie mere – von de Staël nicht mit accents versehen – wurden nicht verändert. Er benutzt selten einfache Kommata oder Punkte, dafür jedoch oft Semikolons und Gedankenstriche. Er redet Schlegel mit Vous an, schreibt diese Anrede meist deutlich mit Großbuchstaben, in manchen Fällen ist es jedoch nicht eindeutig. Zur besseren Lesbarkeit wurden hier alle Anredeformen vereinheitlicht mit einem Großbuchstaben wiedergegeben. Verbendungen wie -oit im Wort iroit wurden beibehalten; ebenso wurde die Orthographie bei Wörtern wie tems nicht verändert, da dies der noch verbleibende Einfluss des vergangenen Jahrhunderts ist. Auch die Schreibweise des Wortes coeur wurden nicht verändert.

[9] Körner, Krisenjahre der Frühromantik (Band 2), S. 305-306.