Ab durch die Wand
Mit „Spiegelschrift“ erscheint eine umfassende Anthologie zum 100. Geburtstag von Erika Burkart
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Werk und seine Autorin vor dem Vergessen zu bewahren, gelingt nur, wenn nachkommende Generationen es wiederentdecken oder richtiger: es allererst neu für sich entdecken. Was dem fast vergessenen Werk der Schweizer Erzählerin Adelheid Duvanel im vergangenen Jahr gelang, gelingt nun dem ebenfalls fast vergessenen Werk der Schweizer Lyrikerin Erika Burkart. Ermöglicht werden diese beiden Erst- oder Wiederbegegnungen durch das Engagement des Zürcher Limmatverlags, der im Fall von Erika Burkart (1922–2010) deren 100. Geburtstag zum Anlass nimmt, eine umfangreiche Anthologie ihrer Gedichte herauszugeben. Die große Auswahl, so der Untertitel, wurde von Burkarts Lebensgefährten Ernst Halter zusammengestellt und mit einem recht persönlichen, aber angenehm zurückhaltenden Vorwort versehen.
Adelheid Duvanel und Erika Burkart waren leise, diskrete Stimmen im ohnehin nicht sehr lauten Kanon der Schweizer Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; Dichterinnen, die in ihren Werken immer wieder das Verstummen und das Schweigen ansprechen, als Gefahr, aber auch als Hoffnung, die sie umschreiben, beschwören, bisweilen zelebrieren – freilich aus anderen, weniger offensichtlich politischen Gründen als die literarische Nachkriegsgeneration in Deutschland und Österreich.
Trotzdem kann man die Gedichte von Erika Burkart heute wohl gar nicht lesen, geschweige denn verstehen, ohne sie rückblickend mit denen ihrer berühmteren ZeitgenossInnen in Verbindung zu bringen, mit Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Ilse Aichinger, Helmut Heißenbüttel, Friederike Mayröcker. Die Parallelen liegen auf der Hand: sprachlich, motivisch, gedanklich, aber auch hinsichtlich einer in diesem von 1953 bis 2010 reichenden Gedichtband sehr gut nachvollziehbaren Entwicklung, die einen literaturhistorischen Bogen über mehrere Jahrzehnte spannt: von ersten, noch ganz in der Tradition neuromantisch verklärter Naturerfahrung stehenden, metrisch geformten Gedichten der 50er Jahre, über den mythisch-märchenhaften, bisweilen ins Expressionistische gehenden Ton der nun freirhythmisch reimlosen Gedichte der 60er Jahre, in denen sich so manche kaum verhüllte poetische Hommage an Celan und Bachmann findet („Ein Ruch von Reif und Niemandskraut“, S. 51), aber auch Verse hart am Kalenderspruch („Gedichte sind Grade des Schweigens“, S. 59), bis hin zu eher lakonischen, oft auch humorvollen, ansatzweise politischen Gedichten der 70er Jahre und zur pantheistisch-ökologischen Lyrik der 80er Jahre, die teilweise poetisch verspielt auftritt („Manchmal kriecht mein Nächster / in das Fell eines Hasen / oder läuft mir als Käfer über den Weg“, S. 124), teilweise ganz explizit und programmatisch („Um siebzehn Uhr, / wenn wir Holz nachlegen, / Tee trinken und rauchen, / entlässt uns für zwanzig Minuten / die Verzweiflung darüber, / dass die Erde ein Krüppel geworden, / den man mitnichten / verschonen wird.“ S. 170) ein problematisch werdendes Verhältnis zur Natur evoziert.
Die Entwicklung mündet in die Melancholie der Alterslyrik („Das letzte Zimmer / steht immer offen.“, S. 209), die früh, nämlich schon Ende der 80er Jahre beginnt, dabei elegische, oft auch durchaus spielerische Töne anschlägt, um den Schrecken und die Unausweichlichkeit des Todes zur Sprache zu bringen: „Das Alphabet Leben bis Z – / Zärtlichkeit Zwielicht Zauber / Zerstörung und Zeugnis, / die Zeit und die Zahl“ (S. 220).
Aus heutiger Sicht auffällig ist der ungehemmte Gebrauch poetischer Schlüsselwörter aus dem Fundus der traditionellen (neu-)romantisch symbolistischen Lyrik von Eichendorff über Droste-Hülshoff, Baudelaire, Rilke und George bis Celan und Bachmann. Man könnte hier ein regelrechtes lyrisches Brevier poetischer Signalwörter aufstellen, deren Aura trotz aller Skepsis auch bei der eher abgebrühten Leserin noch funktioniert. Denn wer kann sich wirklich dem Zauber von Vokabeln wie „Spiegel“, „Mond“ und „Brunnen“ banausenhaft entziehen, der gebieterischen Wünschelrute von „Atem“, „Moos“ und „Asche“, „Stern“ und „Stein“, „Scherbe“, „Schnee“ und „Schatten“, „Tier“ und „Traum“, „Welle“, „Wunde“, „Würfel“, „Wolke“, „Wimper“ emotionslos widerstehen?
Neben diesem abendländischen Poesie-Fundus aus „Wölfen“ und „Engeln“, den Schreibmetaphern von „Blutflecken“ und „Steinschriften“ gibt es aber auch Anleihen an die Welt fein getuschter Haikus („Der Reiher hebt sich hinweg, / ihm folgt der Donner der Stille“, S. 138) oder direkte Zitat-Anspielungen an Gertrude Stein, Adorno, Stefan George, Ingmar Bergmann und Ludwig Wittgenstein. Besonders ansprechend finde ich persönlich Burkarts vor allem in den 90er Jahren entstandenen, sehr konkreten Reiseimpressionen, ihr ebenso scharfer wie empathischer Blick auf einen zerlumpten Bettler in Dublin oder auf Details der sizilianischen Geschichte. Am schwächsten erscheinen mir ihre Liebesgedichte, die der hier oftmals direkt angesprochene Herausgeber vielleicht doch lieber in der privaten Schublade gelassen hätte: „Du bist, was ich nicht bin, / ich bin, was du nicht bist, / die Naturen stimmen überein, / trotzdem lieben wir uns, / erkennen sich Blicke, / fassen sich Hände, / bist du ich, bin ich du, / stehn wir auf / gegen die Knechte des Todes, / Schänder des Erdreichs, / Knüpfer von goldnen Netzen.“ (S. 298). Es ist bekanntlich ein arges Missverständnis zu glauben, ein gutes Liebesgedicht bedürfe authentischer Liebe. Höchstwahrscheinlich gilt auch die umgekehrte Regel.
Erst ganz am Ende dieses hochinteressanten, oft anrührenden, ja bewegenden Durchgangs durch Burkarts Lebenswerk, erst in der Gesamtschau wird aber auch klar, was fehlt und worin ihre Lyrik dann doch nicht ganz an die Gedichte Bachmann und Celans heranreicht: Es fehlt das Verstörende, das Vehemente und Zornige, Verzweifelte und Unmäßige, das Intellektuelle, Politische und hochfahrend Utopische. Burkart versucht zwar, diesem Vorwurf den Wind aus den Segeln zu nehmen: „Ich bin keine Grüne, Blaue, Rote / grau bin ich wie ein alter Baum, / Instrument der Winde, / verstimmt“ (S. 259) heißt es in dem Gedicht Entgegnung aus einem ihrer letzten Gedichtbände Ortlose Nähe von 2005. Der Eindruck einer gewissen Harmlosigkeit ihrer Lyrik lässt sich dadurch aber wohl kaum entkräften.
Am stärksten und beeindruckendsten ist in vielen Gedichten die hermetisch änigmatische Sprache der Natur, die „Flüster-Vokabeln von Gras und Wind“ (S. 267) und die sinnlich anschauliche Welt des Todes: „Den Sack geschultert, / geht er ab durch die Wand – Noch halt ich mich fest / am Taschentuch / (nach innen rinnen die Tränen),“ (S. 322). Hier, in diesem innigen Verhältnis zu einer nie ganz ausbuchstabierten Transzendenz ist Burkarts Lyrik ganz bei sich, so sehr, dass einem spontan noch so ein fast vergessenes Zauberwort der alten Schule einfällt: Schönheit.
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